Sebastian Kurz -
Schein und Wirklichkeit

Vor vier Jahren wählte die ÖVP Sebastian Kurz zu ihrem Chef. Dieses Wochenende wählt sie ihn wieder. Wie aus Euphorie und neuem Stil Ernüchterung und unerfüllte Versprechen wurden

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Politik - Sebastian Kurz -
Schein und Wirklichkeit

Verklärte Blicke und Standing Ovations, noch bevor der Neue auch nur einen Satz zu den Delegierten gesprochen hatte -beim Bundesparteitag der 2017 war die Stimmung teils euphorisch, teils feierlich und die Erwartung groß. Es galt, Sebastian Kurz zum neuen ÖVP-Chef zu küren. Die Wahl mit 98,7 Prozent der Stimmen war nur noch Formsache, nachdem Reinhold Mitterlehner, an dessen Sessel zuvor monatelang gesägt worden war, entnervt aufgegeben hatte. Die Funktionäre, die da gerade von Schwarz auf Türkis umgefärbt wurden, hatten hohe Erwartungen. Es wurde ihnen auch viel versprochen.

Nichts weniger als ein Wahlsieg und die Rückkehr der ÖVP ins Kanzleramt waren in Reichweite. Aber auch: ein "neuer Stil" ohne "gegenseitiges Anpatzen", mutige Politik, die sich traue, Probleme anzusprechen und Lösungen umzusetzen. Ein Ende des lähmenden Hickhacks und der regierungsinternen Blockade forderte da jene Partei lauthals, die selbst jahrelang für Hickhack und Blockade in rot-schwarzen Koalitionen mitverantwortlich war. Aufbruchstimmung, Jubel, Applaus und nach den Formalitäten ein Volksfest vor dem Linzer Design-Center.

Kommenden Samstag steht im VAZ St. Pölten die Wiederwahl von Kurz an. Er ist der erste ÖVP-Chef seit Wolfgang Schüssel, der es schafft, eine vierjährige Amtsperiode abzudienen. Das liegt daran, dass er seine Machtbastionen gesichert und interne Intrigen erschwert hat, aber vor allem natürlich daran, dass Kurz immer noch in allen Umfragen weit vor seinen schwachen politischen Gegnern liegt.

Doch die Euphorie ist einer Ernüchterung gewichen. Der neue Stil, den Kurz 2017 versprochen hat, wird heute eher mit peinlich-skandalösen WhatsApp-Nachrichten und dreistem Postenschacher verbunden. Die Härte in Zuwanderungsfragen, die 2017 und 2019 viele Wählerstimmen von der FPÖ gebracht hat, geht heute -aktuell angesichts der verzweifelten Menschen in Afghanistan - vielen in der sich immer noch als christlich-sozial verstehenden Partei zu Herzen. Doch abseits des Augenscheinlichen - welche Bilanz kann Kurz nach vier Jahren, zwei Wahlkämpfen und einer Coronakrise ziehen? Hat er gehalten, was man sich 2017 von ihm versprochen hat?

Wirtschaft: Ziele nicht erreicht

Beim Parteitag und wenige Wochen später bei seiner großen Wahlkampfrede zur Nationalratswahl 2017 beklagt Kurz ein Absacken Österreichs in internationalen Rankings. Österreich behaupte, es sei besser durch die Wirtschaftskrisen gekommen (eine Behauptung, die Kurz Jahre später dann selbst wiederholt in der Coronakrise aufstellt),"während uns andere in Europa schrittweise überholen". Und er sagt: "Wir wollen Österreich zurück an die Spitze führen." Er prangert Überregulierung an und verspricht eine Senkung der Steuerund Abgabenquote auf unter 40 Prozent.

Franz Schellhorn, der Leiter der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria, sagt: "Die beiden Regierungen unter Kanzler Kurz haben vielleicht das politisch Mögliche getan, aber nicht das Nötige." Positiv sei anzumerken, dass bis 2019 Staatsschulden und Staatsausgaben zurückgegangen seien. Das Ziel, die Steuer-und Abgabenquote zu senken, sei richtig, allerdings wurde es nicht erreicht. "Das liegt nicht nur an Corona. Denn in den ersten beiden Regierungsjahren ist die Abgabenbelastung sogar noch leicht angestiegen. Das größte Problem ist die nach wie vor hohe Belastung des Faktors Arbeit. Der Staat kassiert knapp 47 Prozent der Arbeitsleistung, das ist viel zu hoch. Und daran hat sich in den vergangenen vier Jahren wenig geändert. Mit Deutschland und Belgien liegen nur zwei Länder schlechter als Österreich. Selbst in Schweden sind es ,nur' 42,7 Prozent."

Milliarden für die Staatskasse

Positiv sei die Entlastung von Familien und Beziehern niedrigerer Einkommen. Aber: "Das ist zu wenig ambitioniert." Nach wie vor werden Steuertarifstufen und Absetzbeträge nicht an die Inflation angepasst, wodurch die Steuerlast für den Einzelnen automatisch steigt. "Jeder Prozentpunkt Inflation spült 250 Millionen Euro in die Staatskasse. Seit der letzten Steuerreform 2016 sind 2,5 Milliarden Euro zusammengekommen, die von den Bürgern zu viel an den Staat abgeführt wurden", erklärt Schellhorn.

Das Ziel, in internationalen Rankings nach vorne zu rücken, wurde klar verfehlt: "Von der Spitze lachen Länder wie Schweden, die Schweiz, Dänemark oder die Niederlande, während Österreich auf dem recht bescheidenen 19. Platz zu finden ist. Der Grund: Die erwähnten Länder haben ihre staatlichen Systeme reformiert, während Österreich in diesem Punkt auf der Stelle tritt." Auch bei der Entbürokratisierung seien die Erfolge überschaubar: Auf der Plus-Seite nennt Schellhorn die Einführung des Familienbonus. "Dem gegenüber steht die strenge Regulierung von Uber und Co. Digitalen Dienstleistern die Geschäftsgrundlage zu entziehen, war ein regulatorischer Sündenfall."

Noch ein Sündenfall aus Sicht Schellhorns: "Für die Pensionen müssen jährlich 23 Milliarden Euro aus dem Budget zugeschossen werden. Das sind beinahe die gesamten Einnahmen aus der Lohnsteuer. Statt über ein höheres Pensionsalter gegenzusteuern, werden immer neue Geldgeschenke für die Pensionisten geschnürt."

Als Chef der Jungen ÖVP forderte Kurz noch vollmundig Pensionsreformen. Heute weiß er, wer seine Kanzlerschaft absichert: 43 Prozent der über 60-Jährigen (aber nur 27 Prozent der unter 29-Jährigen) haben bei der Wahl 2019 der ÖVP ihre Stimme gegeben.

Das Thema Pensionen streift Kurz bei seinen Reden 2017 nur, wenn er darauf hinweist, dass die Mindestpensionistin nicht verstehe, dass sie mit einer knappen Pension auskommen muss, während zugewanderte Menschen "die volle Mindestsicherung bekommen". Er bekennt sich "zur Sicherung unseres Sozialsystems", will dabei "Fehlentwicklungen stoppen", wenn es um Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder oder Sozialhilfe für Zuwanderer geht. Er verspricht Hilfe für pflegende Angehörige und erzählt davon, wie viele Formulare eine Mutter für einen behindertengerechten Kindersitz ausfüllen muss. "Menschen dürfen nicht zu Bittstellern im System werden", sagte Kurz 2017.

Kürzungen für alle

Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Österreich, sagt: "Nach wie vor gibt es eine Pflegelücke, und es geht nichts weiter bei leistbaren, wohnortnahen Pflegeangeboten daheim. Wo es die gibt, etwa in den skandinavischen Ländern, sind die Pflegebedürftigen keine Bittsteller mehr." Ebenso wenig habe sich für Eltern und Kinder mit Behinderungen etwas geändert. Dringend benötigte Hilfsmittel seien nach wie vor oft unleistbar, finanzielle Unterstützung mit bürokratischen Hürden verbunden. Dazu komme, dass nach wie vor ein offizieller Hilfsmittelkatalog aus dem Jahr 1994 gilt. Aktuelle technologische Entwicklungen wie etwa eine Augensteuerung, die Behinderten bei der Kommunikation hilft, sind darin gar nicht enthalten. Betroffene müssen sich ihre Hilfen mit mehreren Tausend Euro vorfinanzieren.

Eines der wichtigsten Projekte der türkis-blauen Koalition war die Abschaffung der Mindestsicherung und die Einführung der Sozialhilfe neu. Das habe, sagt Schenk, einen Rückschritt in der Armutsbekämpfung bewirkt. "Es geht keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderung, keinem Niedriglohnbezieher besser, seit die Mindestsicherung abgeschafft wurde", sagt er, und: "Die Regierenden zeigen auf ,die Flüchtlinge', die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist das Geschäft von Trickdieben. Es braucht immer einen, der ablenkt, damit dir ein anderer das Geld aus der Tasche ziehen kann." Das neue Sozialhilfegesetz bewirke, dass etwa Menschen in teilbetreuten Wohngemeinschaften weniger Geld bekommen, dass Behinderten selbst geringer Zuverdienst von der Sozialhilfe abgezogen wird und erwachsene Menschen mit Behinderung ihre Eltern auf Unterhalt klagen müssen.

"Die letzten vier Jahre waren eine schwierige Zeit für die Sozialpolitik", sagt Schenk, nennt aber auch Positives: Die "Frühe Hilfe" für junge Eltern werde ausgebaut. Und: Diesen Herbst gibt es erstmals den im türkis-grünen Regierungsprogramm verankerten Chancen-und Sozialindex, durch den zunächst wenigstens 100 "Brennpunktschulen" mehr Geld bekommen. "1.100 würden das brauchen."

Der Staat, den wir brauchen

Sebastian Kurz erzählt gerne, wie schwer er es zu Beginn seiner politischen Laufbahn und wie viel Mut es gebraucht hatte, den Sprung an die Spitze zu wagen. Kaum jemand werde so viel kritisiert wie er. Er beklagt rüden politischen Stil, gegenseitiges "Anpatzen". Die Politik sei "feig und schwach" geworden. Man müsse Wahrheiten aussprechen, "danach können wir definieren, wohin wir wollen und welchen Staat wir dafür brauchen", erklärte er 2017. Zwar würden sich Zweifler gegen jede Veränderung stellen, doch: "Wo ein Wille, da ein Weg", wiederholt er mantraartig.

Hat Kurz in den letzten Jahren die Politik geprägt, das Land verändert? Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle verweist darauf, dass die ÖVP ihre Gegner weiter anpatze, "wenn es darum geht, eigene Verfehlungen zu relativieren. Kurz schickt dabei aber meist andere vor." Zudem sprächen die bekannt gewordene immense Wahlkampfkostenüberschreitung von 2017 gegen einen neuen Stil der Fairness, und sie verweist auf die rund um Kurz betriebene Message Control im Umgang mit den Medien.

"Wäre seine erste Regierung mit der FPÖ nicht so rasch gescheitert, hätte Kurz wesentlich mehr Spielraum für einen Umbau des Staates gehabt", sagt Stainer-Hämmerle. "Den Abbau des Sozialstaates sowie die Zurückdrängung der Sozialpartnerschaft und des Parlaments lassen die Grünen als jetziger Regierungspartner nicht mehr zu." Kurz sei ideologiefrei, sagt die Politikwissenschaftlerin: "Er ist ein am Leistungsprinzip orientierter Individualist, das ist der Staat, den er anstrebt. Er steht nicht für eine solidarische Gemeinschaft, wie sie von den Großen Koalitionen, die für eine Konsenspolitik standen, angestrebt wurde."

»Wenn Kurz merkt, dass etwas nicht rasch funktioniert, lässt er es schnell fallen«

Allerdings hat die Politologin auch beobachtet: "Wenn Kurz merkt, dass etwas nicht rasch funktioniert, lässt er es schnell fallen. Er kündigt viel an, hat aber die großen Projekte nicht angegangen." Die Ressorts, wo die harten Brocken, etwa die Pensionsreform, liegen, überlasse er dem jeweiligen Koalitionspartner.

Am konsequentesten sei die Umsetzung bei seinem Hauptthemen Integration und Zuwanderung, auch wenn sich Kurz etwa bei der "Schließung der Balkanroute" mit fremden Federn schmückt. Die von ihm 2017 geforderte "Schließung der Mittelmeerroute" als "christliche und soziale" Aufgabe bleibt nicht mehr als eine Phrase: Allein im ersten Halbjahr 2020 ertranken laut der Internationalen Organisation für Migration der UNO auf dieser Fluchtroute fast 1.200 Menschen.

Österreich steht nicht nur beim Thema Flucht und Migration heute oft in einer Linie mit den Visegrád-Staaten. "Das muss die ÖVP wirklich schmerzen, dass sie unter Kurz von europäischer Politik und weltpolitisch verantwortlichen Positionen abgerückt ist", verweist Stainer-Hämmerle auf die Kurz-Linie nicht nur bei der Bewältigung von Flüchtlingskrisen.

Kurz sei der Bundeskanzler, "der am stärksten polarisiert, aber auch am meisten verehrt wird und das auch noch inszeniert: türkise Leiberln und eine jubelnde Menge entstehen ja nicht spontan." Andere Parteien würden sich das vielleicht nicht direkt bei der ÖVP abschauen, aber Elemente des Populismus kämen mittlerweile bei allen von ihnen vor, sagt die Politik- Expertin. Interessant werde, "wo der Kipppunkt ist, wo Message Control und Inszenierung ins Marionettenhafte kippen und es dem Publikum auffällt."

Wie es weitergeht

Im Herbst wird sich zeigen, ob die Ermittlungen gegen Kurz wegen des Verdachts auf falsche Zeugenaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss vor Gericht enden. Würde Kurz verurteilt, könnte er sich kaum im Kanzleramt halten. Passiert das nicht, kann er noch lange an der Spitze seiner Partei und wohl auch einer Regierung stehen: "Solange er noch Koalitionspartner findet, geht es weiter", sagt Stainer-Hämmerle.

Zunächst wird Kurz aber im VAZ St. Pölten gewählt. Bei seiner Rede will er auf Corona, Migration und Klimakrise eingehen und eine Leitlinie vorgeben. Und er wird dabei wohl wieder einiges versprechen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 34/21

Kommentare

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Man kann nicht immer nur fordern!Wenigstens hat Herr Kurz Rückgrat was die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen betrifft im Gegensatz zum BP, der eine Schande für unser Land ist! Seit Jahrzehnten hat man in diesen Ländern nichts geleistet und wir sollen jetzt die Dummen sein? Wer hat unser Land aufgebaut und diese Flüchtlinge wollen unsere Heimat zerstören? Her BP wachen sie auf oder gehen sie !

Testor melden

@Rigi: Folgen Sie einem Irrlicht? Lassen Sie sich so leicht blenden?

joseph melden

Ihnen ist schon klar, dass Österreich weiter zu den Ländern mit den meisten Aufnahmen gehört? 2021 waren es allein von Jänner bis September schon 23.000

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