Zuerst Orgasmus, dann Blues

Viele Paare wünschen sich, unmittelbar nach dem bestenfalls gleichzeitig erlebten Höhepunkt innig verschmolzen im Glücksrausch zu bleiben. Mehr als die Hälfte aller sexuell aktiven Personen kennt jedoch den Absturz von Wolke sieben, wenn nach dem Orgasmus der Blues kommt.

von Dr. Monika Wogrolly © Bild: Matt Observe/News

Man nennt es postkoitale Dysphorie. Und meint damit einen Zustand von Verstimmtheit, Traurigkeit, Melancholie, aber auch Depression, Scham- und Schuldgefühlen, Selbsthass und vor allem einer hart an der Schmerzgrenze oszillierenden inneren Leere. „Ich fühle mich wie ein ausgespuckter Kirschkern!“, sagt Rita und findet keine Worte für das, was sie vom höchsten Glück in den untersten Bunker der Selbsterniedrigung katapultiere. Vorher habe sie sich himmelhochjauchzend gefühlt, danach fühle sie sich nichtswürdig. Die Folgen eines über eine vorübergehende Katerstimmung weit hinausgehenden Stimmungseinbruchs nach dem sexuellen Höhepunkt können Orgasmusstörungen und andere sexuelle Funktionsstörungen sein. Der auf den Klimax folgende psychische Schmerz tritt in aller Regel dann auf, wenn man sein Glück noch auskosten und nachwirken lassen möchte. In der Entspannungsphase unmittelbar „danach“. Betroffene brechen unvermittelt in Tränen aus oder suchen das Weite.

Hier sind die Ursachen und Wege aus dem Dilemma:

1. Biologische Faktoren. Beim Sex werden Hormone ausgeschüttet, die uns glücklich machen, allerdings nicht dauerhaft. So kann die postkoitale Trauer davon rühren, dass die „natürlichen Rauschmittel“ fehlen. Brechen Sie nach dem Höhepunkt den Sex nicht plötzlich ab, sondern führen Sie bewusst eine Nachspielzeit ein, wobei Sie statt der „Zigarette danach“ oder einer Reflexion der Sexleistung lieber einander Aufmerksamkeit schenken, einander streicheln und liebkosen, als würde das etwas Großes sein und kostbar.

2. Psychisches Trauma. Eine seelische Erschütterung, die womöglich viele Jahre zurückliegt, kann durch die Nähe beim Sex wiedererweckt werden, was nicht selten zu einer gefühlten Wiederholung des einst erlebten seelischen Schmerzes führt. Betroffene erleben das Ende des Sexualakts wie einen traumatischen Verlust. Und als vernichtend, als hätten sie jetzt „ausgedient“. Folgen können dann sexuelle Abstinenz oder Sexsucht sein, um der Wiederholung des Verlusterlebnisses zu entgehen. Seelische Wunden sollten in jedem Fall ernst genommen werden. Sie haben kein Ablaufdatum. Sollte Ihre Beziehung davon belastet werden und Sie vor dem emotionalen Tief nach dem Orgasmus zurückschrecken und Sex daher vermeiden, besteht die Indikation zu einer Psychotherapie oder spezifisch auf Ihre Problematik ausgerichteten Sexualtherapie.

3. Bindungsangst. Auch die – zunächst verdrängte – Angst vor Bindung kann von einem Blues bis hin zu Verzweiflung, Panikattacken und sogar Sinnlosigkeitsgefühlen nach dem Orgasmus führen. Auch hier sind bei hohem Leidensdruck fachärztliche und psychotherapeutische Begleitung unbedingt zu empfehlen.

4. Stress und Leistungsdruck. Wer Sex als weitere Herausforderung betrachtet, um „perfekt abzuliefern“, steht unter hohem Erwartungsdruck. Hier helfen Psychotherapie oder Coaching, um Sie zu Entschleunigung und Selbstfürsorge zu bewegen, denn ohne werden Sie Ihren Stresslevel nicht regulieren können. (Jeder Mensch ist auf Verhaltensmuster programmiert, und ohne alternativ erlernte neue Verhaltensstrategien steigt man nicht einfach aus der Wert-durch-Leistung-Spirale aus.)

5. Dissoziation. Zwar ist der Blues nach dem Geschlechtsverkehr seltener als sexuelle Funktionsstörungen wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr etwa im Fall von „Vaginismus“. Kommt aber immer öfter vor, wenn Persönlichkeitsanteile beim Sex innerlich abgewehrt werden, man mit sich selbst gleichsam emotional „nicht im Reinen“ ist. Und wenn Körper und Psyche dissoziiert sind, man danach erst wieder wie aus einer Betäubung erwacht. In einer Psychotherapie wird offengelegt, wie es zumeist aus Schutzbedürfnis nach Grenzüberschreitungen und nicht immer nur, aber auch nach sexuellen Übergriffen zur Abspaltung von Gefühlen beim Sex kommt. Das wirksamste Mittel ist immer noch die ungeteilte Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung. Daher schaffen Sie nach dem nächsten Mal einen buchstäblich gleitenden Übergang zwischen Nähe und Distanz, Verschmelzung und Loslösung. Nur wer nach dem Höhepunkt angstfrei emotional erreichbar bleibt, erhält sich das Glück in jedem Moment des Daseins, nicht nur beim sexuellen Höhepunkt.

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