Wie man in der Oper scheitert und gewinnt

Salzburger Osterfestspiele und Wiener Staatsoper mit zwei Premieren an zwei aufeinanderfolgenden Tagen: Das Prinzip des All-Star-Teams muss nicht das beste sein. Aber Qualität, die sich nicht wichtig macht, gewinnt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Zwei Opernpremieren an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in zwei verschiedenen Städten: Für einen wie mich, dem diese Disziplin insgeheim näher beim Herzen sitzt als die anderen zusammen, war das ein schönes Wochenende. Minder fundamentalistische Kritiker dürften eine Ochsentour beklagt haben. Aber ich konnte am "Tannhäuser" der Osterfestspiele und an Monteverdis "Ulisse" in der Staatsoper modellhaft das Scheitern und Gelingen von Opernproduktionen studieren.

Wobei: Gescheitert will ich diesen extrem ehrgeizig besetzten "Tannhäuser" nicht nennen. Nur hat er so viel versprochen, dass bei manchem enttäuschten Zuschauer nachher kein Halten war. Ein wenig waltete hier das Prinzip des All-Star-Teams, mit dem arabische Scheichs von ihnen erworbene Fußballklubs mehrfach in den Abgrund gefördert haben: genug Namen für je einen Welt-und Europameistertitel, aber mangels Zusammenspiels in der Vorrunde ausgeschieden. Erlauben Sie, dass ich Romeo Castelluccis betagte, interessant verrätselte, aber nicht ganz auf der Höhe ihres Schöpfers logierende Inszenierung nur erwähne und mich Wichtigerem zuwende? Dass Elina Garancas Rollendebüt als Venus einer doppelseitigen Mittelohrentzündung weichen musste, ist ein unverdientes Missgeschick. Ihr hätte man gern die endlose Venusberg-Szene lang zugehört, die Wagner der Wiener Fassung angedeihen ließ. Für die wackere Einspringerin Emma Bell hingegen hätte man sich gern nach Dresden orientieren können.

Zumal dem Dirigenten Andris Nelsons am Pult des delikat und klangschön musizierenden Leipziger Gewandhausorchesters auch nicht der Drang zum Tor (Sie verzeihen, dass ich metaphorisch zum Sport zurückkehre) im Nacken sitzt. Wir haben es hier beispielhaft mit dem größten Missverständnis zu tun, das einem beim Besetzen einer Opernproduktion unterlaufen kann. Schon die Berliner Philharmoniker unter Rattle sind bei den Osterfestspielen auf diesem Weg klanglos gescheitert: Ein berühmter Konzertdirigent steht als Operndilettant im Graben und versteht nichts, was diesseits und jenseits der Rampe nottäte. Ihm gehen schon bei Erstlektüre der Partitur die Augen über, so herrlich sind die Stellen, derer mancher Kollege nicht einmal gewahr würde. Aber Oper ist Theater mit dramaturgischen Erfordernissen, und auf der Bühne stehen Sänger, mit denen der Dirigent Luft holen und den Pfeil von der Sehne schicken muss. Tut er das nicht, sondern lauscht ihnen auch nur um einen Wimpernschlag nach, summieren sich Zehntelsekunden zu Ewigkeiten. Minder umschweifig: Der erste und der zweite Akt waren geschleppt, wie ich es in 54 Jahren nur selten erlebt habe. Auf diese Weise wurde dem Titeldebütanten Jonas Kaufmann ein übler Dienst erwiesen. Dank ökonomischer Konzeption hat er sich der mörderischen, in der Schere zwischen "Tristan" und Meyerbeer aufgespannten Partie achtbar entledigt. Geholfen hat ihm dabei eher seine Popularität als der Dirigent. König der Bühne ist Christian Gerhahers Wolfram, der jede Zeitlupenzumutung in unirdische Verinnerlichung verwandeln kann. Vizekönig ist Georg Zeppenfelds Landgraf, Marlis Petersen hätte ihr Rollendebüt als Elisabeth besser versäumt.

Mit anderen Worten hätte man Christian Thielemann, den größten Wagner-Dirigenten unserer Zeit, besser gehalten als vertrieben. Denn in der Oper kennen sich heutzutage nicht mehr viele Maestri aus. So betrachtet sollte die aktuelle Chefgarnitur der Wiener Staatsoper ihr Zerwürfnis eventuell noch überdenken.

Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse in patria", nachmittags darauf in der Staatsoper, ist unter genau konträren Bedingungen gelungen: Hier macht sich nichts wichtig. Auf der Bühne stehen zwei phantastische, oft unakademisch die Grenzen zum expressiven Sprechgesang erkundende Protagonisten. Georg Nigl als heimkehrender Odysseus und Kate Lindsey als Penelope sind Kundigen geläufig, ins Praterstadion oder ins Tiroler Bergland werden sie niemanden überreden. Und welch prachtvolles Ensemble die Oper zur Verfügung hat! Zum Teil rekrutiert es sich aus zwei Jahrgängen des beispielgebenden Opernstudios.

Isabel Signorets Name wird schon geläufig, Daria Sushkova wird man gern im Gedächtnis behalten, und Katleho Mokhoabane führt den schönsten Tenor, den ich seit Jahren gehört habe. Bang fragt man, wie sich diese Qualität in der Zeit singender Supermodels durchsetzen wird. Die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito erhebt die Premiere vollends über die beiden vorhergegangenen Monteverdi-Produktionen des Hauses. Ohne Ausstattungsliebreiz und ohne Flachaktualisierung ins Kriegsheimkehrer-Sujet wird hier in klarer, auch witziger Modernität die Grundlage der griechischen Mythologie skizziert: der kämpfende ermattende, aber nie aufgebende Mensch in den Händen einer ungerechten, korrupten Götterkaste. Der zuletzt schon derangierte Concentus Musicus präsentiert sich unter Pablo Heras-Casado interessant besetzt und stark verjüngt. (Die Kritiken finden Sie übrigens auf Seite 68 im News Heft Nr. 14/23.)

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