Meredith Whittaker, die Google-Rebellin

Sie ist eine der kompetentesten KI-Expertinnen der Welt. Die Chefin des Messenger-Dienstes Signal, Meredith Whittaker, beschreibt künstliche Intelligenz als Marketingwerkzeug reicher Big-Tech-Unternehmen. Auf Events in Wien, Hamburg und Berlin warnt sie davor, im Datenschutz Hintertüren zur totalen Überwachung zu öffnen

von Meredith Whittaker © Bild: Kimberly White/Getty Images for TechCrunch

Der Terminkalender der Frau mit den dunklen Locken, dem konzentrierten Gesichtsausdruck und der sachlichen Argumentation ist gut gefüllt. Als laute Stimme gegen Massenüberwachung, die datenbasierte Macht US-amerikanischer Technologieunternehmen und das Missverstehen von künstlicher Intelligenz ist Meredith Whittaker derzeit auf Tour. Sie hat in Wien beim ORF-Dialog-Forum Station gemacht. In Hamburg erwartete die Kämpferin für „verantwortungsbewusste und menschengerechte Entwicklung der KI“, so die Jurybegründung, nach Redaktionsschluss die Auszeichnung mit dem Helmut-Schmidt-Zukunftspreis.

In Berlin spricht sie anschließend auf Europas größter Veranstaltung für digitale Agenden, dem Republica-Festival. Dort wird das Credo vertreten, die gesellschaftliche Verantwortung vor Profite zu reihen. Meredith Whittaker spricht in der deutschen Hauptstadt vor Gleichgesinnten.

Ihre Botschaft und Forderung ist im Kern überall dieselbe: Kommunikation über Mobiltelefone muss zum Schutz der Meinungsfreiheit verschlüsselt bleiben, und die globale KI-Politik braucht strenge Datenschutzprinzipien.

Gegen Daten-Sammeln für den Profit

Ihre Forderung nach dem Beharren auf sichere Kommunikation durch die Wahrung von verschlüsselten Nachrichten bei digitalen Messenger-Diensten überrascht wenig. Whittaker ist seit September 2022 Präsidentin der gemeinnützigen Stiftung hinter der Messenger-App Signal, mit der man ähnlich wie mit WhatsApp und Telegram Nachrichten verschicken kann. Ihr Engagement ist dennoch weit mehr als eine Marketingoffensive.

Signal ist die weltweit größte und am meisten genutzte private Kommunikations-App. Im Playstore wurde die App über 100 Millionen Mal heruntergeladen. Das Besondere an Signal ist seine Ausrichtung auf Datenschutz und Sicherheit, die laut Whittaker deutlich größer ist als bei ähnlichen Diensten wie WhatsApp und Telegram. „Wir lehnen das Geschäftsmodell des Datensammelns ab“, unterstreicht sie in Wien beim ORF-Dialog-Forum den wesentlichen Unterschied zu anderen Diensten und meint selbstverständlich auch Metadaten. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung steht bei Signal im Fokus, sie bedeutet, dass nur die Kommunikationspartner die Inhalte der Nachrichten entschlüsseln können. Während anderen Messenger-Apps oft Daten für Werbezwecke nutzen, ist Signal ein von Werbung unabhängiges Modell.

Meredith Whittaker
© IMAGO/dts Nachrichtenagentur DIE WARNERIN. Signal-Chefin Meredith Whittaker sagt, Datenschutz gibt es schon rein mathematisch gesehen nur für alle oder keinen

Als Non-Profit-Organisation agiert der Dienst unabhängig von Investoren oder sonstigen kommerziellen Zwängen und hat sich dem Schutz der freien Meinungsäußerung verschrieben. „Wir könnten niemandem Daten liefern, selbst wenn wir wollten“, macht die Signal-Präsidentin deutlich. In Zeiten, da die App-Daten von Mobiltelefonen für Ermittlungsbehörden und Geheimdienste zunehmend relevante Hinweise liefern könnten, wird das Thema täglich heißer.

In Österreich hat es zuletzt mit der Spionageaffäre um Ex-Staatsschützer Egisto Ott neue Fahrt aufgenommen. 2019 hatte der Verfassungsschutz dem sogenannten Bundestrojaner – einer Spionagesoftware zur Überwachung von Handy-Chats o. ä. durch staatliche Behörden – eine Absage erteilt. Nun will die ÖVP mit einem Gesetzesentwurf die Überwachung der Metadaten durch die Exekutive ermöglichen. Metadaten geben darüber Auskunft, wer wann mit wem kommuniziert hat.

Es gibt keine magische Tür für die Guten

„Diese Ideen sollten uns alle hellhörig machen, denn jede solche Maßnahme würde das Hacken legalisieren“, sagt Meredith Whittaker im „ZiB“-Gespräch. „Sie würde die Destabilisierung unser Sicherheit und der Sicherheit unserer Infrastruktur erlauben. Wenn man diese Tür für die Polizei öffnet, ist sie für alle künftigen Regierungen offen und auch für jeden anderen, der durchgehen will“, sagt Whittaker dem ORF.

»Öffnet man die Datenschutz-Tür für die Polizei, kann auch Putin durchgehen«

Meredith Whittaker über Datenzugriff zur Terrorbekämpfung

Argumente wie Terrorbekämpfung oder Kampf gegen Cyberkriminalität lässt die US-Amerikanerin dabei nicht gelten. „Hier geht es um Mathematik und technologische Integrität, kein Thema, bei dem man Kompromisse schließen kann. Wenn diese Hintertür für eine Person geöffnet wird, kann jeder andere auch durchgehen. Wenn sie für die Polizei geöffnet wird, kann Putin auch durchgehen und jeder, der Österreichs Infrastruktur im Kern erschüttern will“, so Whittaker. „Es gibt keine magische Tür, die nur die Guten durchlässt. Die Geschichte hat dies oft bewiesen. Datenschutz funktioniert für alle oder niemanden.“

Rebellin hinter den Google-Protesten

Meredith Whittaker weiß, wovon sie spricht, hat sie doch 13 Jahre lang Google mit aufgebaut, dort die Open Research Group gegründet und das M-Lab mitbegründet. Als kleines Unternehmen, das sich um Suchmaschinenbelange gekümmert hat, beschreibt sie ihren Ex-Arbeitgeber zum Zeitpunkt ihres Starts. Sein Wachstum hat sie aus dem innersten Organisationskern mitverfolgt – und sich so zur Big-Tech-Kritikerin entwickelt.

Im Jahr 2018 wollte sie das System als Teil von Google beeinflussen. Sie war eine der Organisatorinnen des Google Walkouts. Im November protestierten damals weltweit rund 20.000 Google-Angestellte. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass die Firma sich längst nicht mehr an das eigene Motto „Don’t Be Evil“ hielt. Es ging um Sexismus und Rassismus.

Meredith Whittaker
© picture alliance/AP Photo REBELLIN BEI GOOGLE. Meredith Whittaker, damals Leiterin der Open Research Group von Google, war 2018 Mitorganisatorin der Protestkundgebung Google Walkout mit 20.000 Teilnehmern weltweit

Für Whittaker ging es auch um die wirtschaftliche Entwicklung von Google, das sich immer stärker Wachstum und steigenden Profiten verpflichtet fühlte als dem selbst zum Start auf Plakaten propagierten Motto vom Nicht-böse-Sein. „Ich bin deshalb eine Kritikerin der Big-Tech-Unternehmen, weil ich von innen miterlebt habe, wie dieses Wachstum funktioniert. (…) Bei Google geht es jetzt nur noch um die Kerninfrastrukur für globale Kommunikation. Es ist nicht zweckmäßig, dass ein einziges Unternehmen das alles besitzt“, sagt Whittaker.

Keine Google-Geschäfte mit dem Krieg

Noch während ihrer Zeit bei Google gründete Meredith Whittaker 2016 das AI Now Institute an der Universität New York. Sein Ziel ist die Erforschung der Auswirkungen von KI im sozialen Bereich. Es ist eines der ersten akademischen Institute, die die ethische Dimension künstlicher Intelligenz erforschen. Whittaker ging es darum, abseits technologischer Errungenschaften zu klären, was der Einsatz von KI für Bildung, Gesundheit oder auch Strafrechtsverfolung bedeuten kann.

Die jahrelange Erfahrung mit den Fähigkeiten, aber auch den Grenzen von KI bewog sie auch zur Kampagne gegen das umstrittene gemeinsame Militärprojekt von Google und der US-Regierung, genannt Project Maven. Dabei ging es um die Entwicklung einer KI gemeinsam mit dem amerikanischen Militär, die helfen sollte, Drohnen- und Satellitenaufnahmen automatisch auszuwerten um so eine effektivere Überwachung zu ermöglichen.

Nach heftigen Protesten vieler Google-Mitarbeiter und einem offenen Brief an CEO Sundar Pichai zog sich das Unternehmen im Jahr 2018 aus der Kooperation zurück. „Google sollte keine Geschäfte mit dem Krieg machen“, so die Angestellten damals im Brief. 2021 brachte „Forbes“ ans Tageslicht, dass Amazon und Microsoft statt Google als Partner eingesprungen waren und u. a. Microsoft vom US-Militär 30 Millionen Dollar kassierte.

Unter den top 100 des „Time Magazines“

Internet-Suchmaschinen gehen bei der Fahndung nach privaten Informationen über die Signal-Chefin leer aus. Freunde, Familienstand, Eltern? Fehlanzeige. Ihr Bachelor-Abschluss in Rhetorik von der University of California, Berkeley, zählt zu den frühesten Ereignissen ihres Lebens, die das Internet nennen kann.

Ihr Geburtsjahr ließe sich nach Aussagen über ihre Graduierung im Jahr 2006 schätzen. Es scheint schlüssig, dass diese Frau das Weiße Haus, die Federal Communications Commission, die Stadt New York, das Europäische Parlament und andere Regierungen beraten hat, was Datenschutz, künstliche Intelligenz und Digital-Politik betrifft.

Das „Time Magazine“ zählte Whittaker 2023 zu den 100 einflussreichsten Menschen im Bereich der KI-Entwicklung. Seit sie Google 2019 verließ, behält sie das Unternehmen im Auge, sagt sie, und konstatiert, dass „die Maske für alle, die es sehen wollen, zunehmend fällt“. Was bleibt, ist eine vom Überwachungskapitalismus getriebene Firma jenseits von Gut und Böse.

Es gibt keine künstliche Intelligenz

Neben der Entzauberung der Vorstellung vom Zugriff auf sensible Nutzerdaten, der nicht von Angreifern mit bösen Absichten missbraucht werden kann, verweist Whittaker auch auf Missverständnisse in Bezug auf künstlichen Intelligenz. Mit Intelligenz habe man es nicht zu tun, lediglich mit Maschinen, die trainiert sind, Muster zu erkennen. „Künstliche Intelligenz ist ein Marketingbegriff, kein Name, der auf technischem Hintergrund basiert“, so Whittaker im Dialogforum in Wien. „Er suggeriert, dass wir intelligente Systeme nutzen, während in Wahrheit wir benutzt werden.“

»KI suggeriert, dass wir intelligente System nutzen, während in Wahrheit wir benutzt werden«

Meredith Whittaker über das Geschäftsmodell der Big-Tech-Firmen

Im Grunde sei KI logische Fortsetzung des Geschäftsmodells großer Techkonzerne, die durch kostenlose Dienste jahrelang riesige Datenmengen über die Nutzer anlegten, diese dann zum Training einer künstlichen Intelligenz nutzten und nun die KI abermals als Problemlöser an die Nutzer verkaufen. „Je mehr wir uns der KI zuwenden, desto größer wird die Konzentration von Macht und die soziale Kontrolle durch einige wenige Unternehmen,“ stellt sie fest und fordert den Einzelnen zum Hinterfragen, Begreifen und bewussten Handeln auf. Einfache Lösungen gebe es nicht.

Unkontrollierte algorithmische Technologien würden an der Grundlage von Demokratien rütteln, warnt Whittaker: „Immer raffiniertere Überwachungstechnologien begünstigen den Aufstieg des Autoritarismus.“

Ihre Antwort auf die Frage nach einem möglichem positiven Nutzen künstlicher Intelligenz kann demnach auch keine Hoffnung spenden: „Da ist kein positiver Aspekt zu finden.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/2024 erschienen.