Nähe und Distanz in der Liebe

Anna braucht Nähe. Und David braucht seinen Freiraum. Sie legt das als Ablehnung ihrer Person aus. Es gibt Zoff, das Beziehungsklima schwankt. Das sogenannte "Nähe-und-Distanz-Problem" bildet einen der häufigsten Konflikte in der Liebe.

von LIEBES LEBEN - Nähe und Distanz in der Liebe © Bild: Nathan Murrell

Die wichtigste Botschaft zuerst: Niemand ist schuld daran. Und jetzt das große Aber: Wenn Anna und David nicht an ihrem Konflikt arbeiten, wird es immer wieder eskalieren. Und das kann ich ohne Einsatz eines Horoskops vorhersagen. Der Irrtum besteht darin, in doppelter Hinsicht "schwer enttäuscht" zu sein, sagt Anna: "Von mir, weil ich nicht interessant oder liebenswert genug bin, um in David das Bedürfnis nach Nähe konstant aufrechtzuerhalten. Und nochmal von mir, weil ich so schwach und abhängig von seiner Nähe bin." Dann bewundert sie noch ihren Partner, dass der auch ohne sie auskomme.

So weit, so gut. Und weiter? Anna muss dringend an ihrem Selbstwertgefühl was tun. Sie muss ihr Gefühl, etwas wert zu sein, von ihrem Bedürfnis, von David andauernd wie ein Kleinkind umsorgt und gepampert zu werden, auskoppeln. Und die innerlich nagenden Fragen optimalerweise streichen: "Liebt er mich noch wie zu Beginn?""Bin ich ihm noch gut genug?" Jetzt die gute Nachricht: Die Wahl des Partners oder der Partnerin fällt häufig instinktiv auf einen Menschen, der im Bedürfnis nach Nähe und Distanz ähnlich tickt wie man selbst. Und der ähnlich viel Nähe und Distanz braucht, um in einer Partnerschaft das zu haben, was neben einem wertschätzenden Umgang und einem erfüllenden Liebesleben mithin entscheidend ist: Toleranz und Respekt vor der Autonomie. Realisiert sich Annas Wunschszenario buchstäblicher Verschmelzung, würde das keineswegs zum Beziehungsglück beitragen. Würde David seine Freiräume aufgeben, könnte die Partnerschaft von so viel Selbstaufgabe keineswegs profitieren, sondern Anna immer mehr Selbstbestätigung und Nähe suchen. Denn eins ist sicher: Jeder muss irgendwann erkennen, dass es in der Liebe nicht nur um Nähe geht.

Das Ziel in Ihrer Partnerschaft kann daher sein: Auf der Basis zuverlässiger Nähe gewähren Sie dem geliebten Menschen Freiraum. In ihrer Psychotherapie wird Anna klar, dass sie deshalb klammert und David den Atem nimmt, weil sie sich ohne andauernde Präsenz und Liebesbeweise allein, wertlos und nichtig fühlt. Das Erlernen einer Beziehungskonstanz kann nicht nur langfristig ihr welkes Selbstbewusstsein aufrichten. Es macht eine reife Beziehung überhaupt erst möglich.

In einer Psychotherapie können Menschen mit Bindungs- und Verlustängsten jenen prägenden Erfahrungen nachspüren, die späterhin überbordenden Bedürfnissen nach Aufmerksamkeit und Nähe zugrunde liegen. Annas übermäßiges Bedürfnis nach Davids Anwesenheit beruht auf dem Gefühl, für ihre Mutter nach der Geburt eines Bruders "unsichtbar" zu sein. Erst wenn Anna erkennt, dass David die Ignoranz der Mutter weder wiederholt noch abbüßen muss oder rückgängig machen kann, gelingt es ihr, sich als die autonome Erwachsene zu erkennen, die das Trauma der Kindheit endgültig in der Vergangenheit lässt. In der Psychotherapie kann sie Ängste und Selbstzweifel auslagern und nachreifen, indem sie in der therapeutischen Beziehung Konstanz, Stabilität und dauerhafte Wertschätzung erfährt. Wieder und wieder diese heilsame Erfahrung macht über einen hinreichend langen Zeitraum, sodass sie diese Erfahrung, dauerhaft Wertschätzung zu erfahren, abspeichern, internalisieren kann. So können alte Wunden heilen, die ansonsten durch die Nähe in einer Partnerschaft immer von Neuem aufgerissen werden könnten.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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