Licht und Dunkel über den Salzburger Festspielen

Ein beachtlicher, aber nicht herausragender Salzburger Sommer endet. Ein neuer Jedermann wäre dringlich gefragt. Auch sonst wird die neue Schauspielchefin beherzte Aufräumarbeit leisten müssen.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Salzburg, das Leute meiner Profession in Beschlag nimmt, wenn sich andere der Wanderlust oder dem Sonnenbad hingeben, verblasst um diese Jahreszeit zügig zum Schemen. Die Rückblicke wurden von den Tagesmedien schon getätigt, jetzt ist unsereins an der Reihe. Und das auch noch mit Einschränkung: Das angeblich markanteste Gelingen des Festspielsommers musste ich ebenso versäumen wie eine seiner vernichtendsten Niederlagen, weil mich das regierungsseitig für inexistent erklärte Coronavirus in Haft genommen hatte. Ich kann also nur Restzweifel daran äußern, dass der bildmächtige Rätselzauberer Christoph Marthaler tatsächlich einen ganz und gar inferioren "Falstaff" gefertigt hätte. Andererseits weckt mir die über die Felsenreitschule gezogene Schurkenbanderole "Refugees out" den Verdacht, dass Simon Stones Inszenierung der "Griechischen Passion" von Martinu eventuell an einer gewissen Vorhersehbarkeit und Geheimnislosigkeit laboriert haben könnte.

Müßig das alles, bleiben wir beim Gesehenen und beginnen mit der Oper. Hier hat der ungern scheidende Burgtheaterdirektor Martin Kusej, dem nun nur noch ein szenischer Rehabilitationsversuch am eigenen Haus bleibt, den "Figaro" in Übellaune und Unwillen versenkt: das Götzzitat in Überlänge, ordinär bebildert, stänkernd statt aufsässig, wie man sich der Vertonung der Beaumarchais'schen Revolutionskomödie ja mit Gewinn hätte nähern können. Den Dirigenten Raphael Pichon wollten die Philharmoniker nicht, wohingegen sie seinem gleichfalls jungen Landsmann Maxime Pascal offenbar gern in die unvertrauten Martinu'schen Gefilde gefolgt sind (auch halten sich diesfalls die Vergleichsmöglichkeiten in Grenzen). Und das Mozart-Wunder, das der Regisseur Christof Loy und die Dirigentin Joana Mallwitz im Coronajahr 2021 für "Così fan tutte" entwickelt hatten, konnte heuer auch gesanglich nicht wieder aufgerufen werden. Dafür hat mich Verdis "Macbeth" hell begeistert. So bezwingend, simpel und vertrackt in einem war die von Krzysztof

Warlikowski aufgerufene Metaphernsprache, dass Philippe Jordans tadelloses Dirigat und die feine Besetzung noch eine Etage höher mitgerissen wurden. Sollte doch ein Schatten auf das Ganze gefallen sein, so wäre es die eigenartig unterspielte Schlafwandelszene, die der großartigen Asmik Grigorian etwas vom ultimativen Triumph genommen hat.

Die Schauspieldirektorin Bettina Hering gibt mit diesem Sommer an die russische Dramaturgin Marina Davydova weiter, und es kann nur besser werden. Der in der Wahrnehmung traditionell überrepräsentierte "Jedermann" steht exemplarisch für den Gesamtbefund: 2017, zu Herings Amtsantritt, im Gefolge einer Krise aus dem Boden gestampft, hat Michael Sturmingers Inszenierung seither unverdrossen unter Niveau den "woken" Themenkatalog durchwandert. Trug der Titelprasser im Vorjahr noch Minirock, schädigte er heuer als Fresskapitalist das Klima. Ich weiß schon, das Stück wird in Fachkreisen offen verachtet. Aber schon aus kommerziellen Erwägungen sollte die neue Schauspieldirektion an Abhilfe denken.

Die hier zu beobachtende vorauseilende Beflissenheit gegenüber opportunen Themenlagen hat Herings Amtszeit bestimmt. Heuer sah man eine infantile Krawalladaption des feministischen Thesenromans "Die Wut, die bleibt" und, ein zähes Malheur, die Bühnenfassung von Michael Hanekes undramatisierbarem Filmwunder "Amour". Hier wurden Behinderte auf die Bühne geholt, allerdings mit spekulativerem Resultat als einst bei Schlingensief und Werner Herzog (" Stroszek"). Das andere Merkmal der kurzen Ära Hering war der Sehnsuchtsblick nach dem Berliner Theatertreffen samt nominierungsbefugtem Feuilleton: Durch (teils akklamierte) Koproduktionen hat das deutsche Stadttheater die Herrschaft übernommen. Eine Handschrift, eine Salzburger Dramaturgie? Nada.

Doch, eine Ausnahme gab es heuer: Ulrich Rasche hat auf der Pernerinsel Lessings "Nathan" von allen Aktualisierungsbanalitäten ferngehalten. Weder der Ukraine-Krieg noch der sich aufdrängende Multikulti-Unfug kamen zu Wort. Aber jeder Lessing'sche Satz lag auf der Waage und wurde für Gold befunden. Eine kühne, herausfordernde Wanderung war das, befeuert von Valery Tscheplanowa mit der Kraft des Wortes und des Gedankens.

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