Das Leben von Russinnen und Russen in Österreich

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat sich auch das Leben von Russinnen und Russen in Österreich geändert. Es scheint Ressentiments gegen sie zu geben. Das könnte der Putin-Propaganda in die Hände spielen.

von Das Leben von Russinnen und Russen in Österreich © Bild: Heinz Stephan Tesarek/News

Russland liegt in Wien an der Favoritenstraße im vierten Bezirk. "Malvina" steht über dem Lebensmittelgeschäft. Eine Matrjoschka, die russische Schachtelpuppe, prangt auf dem Logo. Im Verkaufsraum steht die Inhaberin und überreicht einer Kundin tiefgekühlte Pelmeni. Das sind Teigtaschen, die Tortellini ähneln. Die beiden stehen zwischen Krimsekt, Wodka und Fertiggerichten mit kyrillischer Schrift auf der Verpackung. Seit 2017 ist dieses kleine Stück Russland die Heimat von Natalya Abramova, 38 Jahre. Ihre Kunden sind nicht nur Menschen aus Russland, sondern auch aus der Ukraine und aus Österreich. Bisher sei sie mit allen gut ausgekommen. Aber seit dem Kriegsbeginn fühle sie sich unsicher. "Die Kunden beschuldigen mich, dass ich verantwortlich für den Krieg sei. Es gab schon Kunden, die sind reingekommen und haben gesagt, dass der Krieg deshalb geschehe, weil wir Russen schweigen. Aber was sollen wir machen? Wir haben den Krieg nicht gewählt. Wie können wir ihn stoppen?"

In Deutschland hat das Bundeskriminalamt in den ersten anderthalb Wochen nach dem Angriff 318 strafrechtlich relevante Ereignisse im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Konflikt registriert, darunter Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Bedrohungen im Internet und auf der Straße. In Frankreich wurden Sachschäden an der russisch-orthodoxen Kirche in Paris und dem russischen Kulturzentrum gemeldet.

Wie geht es russischstämmigen Menschen in Österreich? Was hat sich seit Kriegsausbruch für sie geändert?

Aggression gegen alles Russische

Offizielle Zahlen für Übergriffe gegen Russinnen und Russen in Österreich gibt es noch nicht. Das Bundeskriminalamt in Wien hat dazu keine Daten. Man schließe die Kriminalstatistik erst Ende des Jahres ab, heißt es auf Nachfrage. Auch bei der Beratungsstelle Zara gebe es bisher keine konkreten Meldungen dazu. Allerdings scheint es erste Ressentiments gegen Russinnen und Russen zu geben. So hat die Universität Wien am 8. März ein E-Mail an seine Studierenden verschickt, mit der Bitte um ein friedvolles Miteinander mit Menschen aus Russland. "Gehen Sie auf die KollegInnen, die verunsichert sind oder glauben, nicht mehr willkommen zu sein, zu", heißt es in dem Schreiben. Auch die Infodirektorin von Puls 4, Corinna Milborn, warnte auf Twitter davor, gegen die Bevölkerung vorzugehen: "Die Aggression gegen alles Russische - Literatur, Kekse, Musik - ist unheimlich. Besonders für hier lebende russische Menschen, die nichts mit Putin zu tun haben."

Natalya Abramova sei verunsichert. Sie habe das Gefühl, dass sie sich permanent rechtfertigen muss. Sie sagt, dass die meisten Russen gegen den Krieg seien, aber das gesamte russische Volk müsse seit mehr als 20 Jahren schweigen. Für sie hat sich vor allem geändert, dass sie jetzt keine russischen Waren mehr verkauft. "Gott sei Dank kommt das meiste sowieso von Deutschrussen aus Bayern, sogar das Baltika-Bier, und das verkaufen wir weiterhin."

Ein Schlagstock zum Verteidigen

In einem anderen Geschäft im zweiten Wiener Gemeindebezirk steht Olga hinter dem Verkaufstresen. Sie möchte anonym bleiben, weil sie Angst vor Übergriffen hat. "Ich lebe seit 32 Jahren in Österreich und liebe dieses Land, aber seit Ausbruch des Krieges fühle ich mich bedroht. Überall prangt die ukrainische Flagge, und alles, was aus Russland kommt, scheint plötzlich schlecht zu sein. Ich verbiete meinem Sohn sogar, zu sagen, dass er Russe ist, weil ich nicht möchte, dass er Probleme bekommt", sagt Olga. Sie holt einen Schlagstock hinter ihrem Tresen hervor. Den habe sie sich jetzt zur Verteidigung zugelegt. Einsetzen musste sie ihn bisher noch nicht.

Das älteste russische Restaurant Wiens befindet sich im neunten Bezirk. Peter Krajc-Vesely ist 74 Jahre und leitet den Feuervogel. Zu Beginn des Gesprächs stellt er klar, dass die Gründerin des Restaurants, seine Großmutter, in Kiew geboren wurde. "Seit fast 100 Jahren werden hier russische Spezialitäten von Ukrainern gekocht. Das wird mir hoffentlich ein bisschen helfen", sagt er. Das Geschäft sei seit Kriegsausbruch um 30 bis 35 Prozent zurückgegangen. Das könne an der Corona- Situation liegen, aber Ähnliches sei seinem Restaurant auch im Jahr 2014 passiert, als Russland die Krim annektierte. "Drei Monate danach waren alle Gäste wieder da. Die Menschen vergessen schnell." Aber er habe eine russische Aushilfskraft, die ihm erzählt habe, dass sie sich nicht mehr traue, auf der Straße laut Russisch zu sprechen. Für viele klinge halt Russisch nach Pro-Putin. Das mache ihm Sorgen.

Ein Klima der Angst

"Pauschalisierungen führen zu einem Rechtfertigungszwang", sagt Jannis Panagiotidis. Er ist Migrationsforscher an der Universität Wien und forscht zur postsowjetischen Community in Deutschland. "Wenn man sich zu Unrecht in einer Schublade fühlt, dann ist das schmerzhaft. Aber wenn man tatsächlich die Meinung vertritt, die einem zugesprochen wird, kann das zu defensiven Reaktionen führen, zu einer Trotzreaktion. Das kann so weit gehen, dass sich derjenige auf seiner Position weiter verhärtet." Dieses Schubladendenken sei zwar ein Stück weit normal, weil Menschen dazu neigen würden, Komplexes zu reduzieren. Aber problematisch sei es trotzdem. Vor allem dann, wenn man die Menschen nicht mehr aus den Schubladen rauslasse, egal, was sie machen.

Aus Deutschland kennt der Migrationsforscher belegbare Fälle, wonach es tatsächlich zu Anfeindungen gegen russischstämmige Menschen gekommen ist. Aber er warnt davor, ein Bild von einer Russen-Phobie zu malen. Es gebe gleichzeitig viel Desinformation. "Es wird aufgebauscht. Es kursieren Gerüchte in sozialen Netzwerken, die sich nicht belegen lassen, aber die ein Klima der Angst erzeugen und bei dem man den Eindruck bekommt, dass dieses Klima erwünscht ist. Zum Beispiel von Seiten der russischen Regierung."

Russe sei ein Schimpfwort

Beim Bärenmühldurchgang an der Ecke zur Rechten Wienzeile befindet sich das Lokal von Daniil Klubov. Der 32-Jährige stammt aus Sankt Petersburg und verkauft seit 2020 veganes Fastfood, das man über Self-Service-Computer mit Touchscreen wie bei von McDonald's bestellt. Das Russischste an seinem Restaurant ist der Name: Tolstoy. Der Autor sei selbst Veganer gewesen. Daniil Klubov kam nach Österreich, nachdem er im Jahr 2011 in Sankt Petersburg Proteste organisiert hatte. Es ging um mutmaßliche Wahlfälschungen bei den vorhergegangenen Parlamentswahlen. Daniil Klubov wurde mehrmals festgenommen. Als Wladimir Putin im Jahr 2012 erneut zum Präsidenten gewählt wurde, wanderte Klubov nach Österreich aus.

Für ihn sei der Krieg "Pure Evil", also ein Akt des Bösen, und er möchte sich deutlich dagegen positionieren. "Ich hoffe, dass die Leute unterscheiden können zwischen der russischen Regierung und den normalen Bürgern." Am Anfang des Krieges habe es ein paar Facebook-Posts gegeben, die zu einem Boykott des Lokals aufriefen. Die Gäste kamen aber weiterhin.

Das Wort Russe sei vor allem in den sozialen Medien zu einem Schimpfwort mutiert, und das könne er sogar verstehen. "Es ist schwierig, in dieser Situation rational zu bleiben." Die Generalisierung der Russen tue ihm trotzdem weh. Es gäbe sehr viele Russen, die dagegen sind, aber die nichts sagen können, weil sie Angst haben. Die Russen, die bisher für Putin waren, hofft er, würden so langsam verstehen und ihre Meinungen ändern. "Wenn du 22 Jahre Putin wählst und alles glaubst, was er sagt, dann kannst du dir nicht von heute auf morgen eingestehen, dass du damit unrecht hattest."

Vor Kurzem hat er den Verein "Russen gegen Krieg" gegründet. Damit will er die russische Community vereinen, um Spenden zugunsten der nach Österreich ankommenden ukrainischen Flüchtlinge zu sammeln. Innerhalb der ersten vier Tage trugen sich 200 Russinnen und Russen auf seiner Website ein.

Gerüchte und Falschmeldungen

Ein Ort, wo sich russische und ukrainische Menschen in Wien treffen, ist die russisch-orthodoxe Nikolauskathedrale im dritten Bezirk. Bischof Aleksij Zanochkin kümmert sich um eine Kirche, deren Anhänger Familien und Freunde auf beiden Seiten der Fronten haben. "Unsere Gemeindemitglieder haben einander immer unterstützt. Aber wir spüren jetzt, dass der Zusammenhalt noch stärker geworden ist", sagt der Bischof. Von Anfeindungen gegen russischstämmige Menschen habe er nur in den Medien gelesen. Erzählt habe ihm das niemand. "Seit dem ersten Tag, als wir von dieser Situation erfuhren, haben wir in der Kirche verlautbart, dass wir Spenden sammeln, und die erste Tranche ist schon in der Ukraine angekommen", sagt er. Es würden nicht nur Gelder gesammelt, sondern man würde ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainern auch helfen, sich zu informieren und in Österreich zurechtzufinden.

Bisher scheint es also ein subjektives Empfinden zu sein, dass Russinnen und Russen hierzulande diskriminiert werden. Darunter sind Gerüchte und Falschmeldungen, die so lange wiederholt werden, bis sie alle glauben. Der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis warnt: "Die einzelnen Fälle sollen nicht kleingeredet werden, aber es gibt viel Manipulation, und da muss man aufpassen." Sonst spiele das der russischen Propaganda am Ende in die Hände. Und genau das will Putin.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 11/2022.