Kai Diekmann: "Haben wir uns in Putin geirrt, oder hat er sich so verändert?“

Ex-"Bild"-Chef Kai Diekmann schrieb ein Buch über seine Zeit als Journalist. Ein Gespräch über Macht, "Bild", Gendern und seine Reise zu Putin mit dem österreichischen Kanzler.

von Kai Diekmann © Bild: imago images / Future Image

Der Titel des Buchs erinnert an eine Schlagzeile der "Bild"-Zeitung aus dem Jahr 2005. "Wir sind Papst!" titelte Deutschlands großformatige Tageszeitung, als der Bayer Joseph Ratzinger zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde. Jetzt behauptet einer "Ich war Bild". Kai Diekmann heißt er und war 16 Jahre Chefredakteur des Blatts. Auf 544 Seiten blickt der heute 58-Jährige auf ein Stück Zeitgeschichte zurück, erzählt, wie "Bild"-Enthüllungen zum Sturz des jüngsten Bundespräsidenten Deutschlands, Christian Wulff, führten, von seiner Freundschaft mit Helmut Kohl und von seinem Verhältnis zu Wladimir Putin.

Diekmann trat im Jänner 2017 als Chefredakteur zurück. Sein letzter Coup: ein Interview mit Donald Trump.

Dass ausgerechnet wenige Tage vor dem Erscheinen sein ehemaliger Chef Mathias Döpfner wegen ungebührlicher Äußerungen über Ostdeutschland selbst zur Schlagzeile wird, mutet wie eine Werbemaßnahme an. Im Buch spielen derlei "Bild"-Interna keine Rolle. Verständlich. Er erzählt selbst erlebte Zeitgeschichte, die bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine reicht und ihn mit dem österreichischen Kanzler nach Kiew und zu Putin nach Moskau führt.

Herr Diekmann, Sie erzählen in Ihrem Buch ausführlich von Ihren Begegnungen mit Wladimir Putin. Er hat Sie zum Schwimmen eingeladen, Sie schenkten ihm einen Nachdruck der Erstausgabe von Goethes "Faust". Was haben Sie empfunden, als der Krieg in der Ukraine ausbrach und Sie gesehen haben, wozu dieser Mann fähig ist?
Früher ist es mir nicht schwer gefallen, diese Geschichten zu erzählen und sogar Spaß daran zu haben. Mit dem Wissen von heute, was für ein blutiger Schlächter, was für ein Kriegsverbrecher Putin ist, fällt mir das natürlich schwer. Ich habe Putin wahrscheinlich so häufig zu One-on-one-Interviews getroffen wie kaum ein anderer deutschsprachiger Journalist und das in völlig unterschiedlichen Situationen. Das erste war in Moskau, im Kreml, ein halbes Jahr nachdem er Präsident geworden ist. Der Putin, den ich 2000 kennengelernt habe, war ein völlig anderer als der, den wir heute kennen. Das gilt übrigens gleichermaßen für viele dieser Autokraten, dass sie sich verändern: Auch der türkische Ministerpräsident Erdoğan, den ich 2004 getroffen habe, war ein Hoffnungsträger. Der junge, erfolgreiche Ex-Oberbürgermeister von Istanbul galt als Modernisierer, und Ungarns Viktor Orbán war ein Volksheld, als er im Sommer 1989 als erster im Ostblock den Abzug der Sowjetsoldaten forderte. Putin habe ich diese besondere Buch-Ausgabe geschenkt, als er 2001 im deutschen Bundestag gesprochen hat. Auf Deutsch. Etlichen Abgeordneten standen damals die Tränen in den Augen, dass sie das erleben durften. Ein russischer Präsident, der im Reichstag auf Deutsch zu ihnen spricht. Insofern stellen sich viele die Frage, wahrscheinlich auch Angela Merkel und Gerhard Schröder, ,Haben wir uns in ihm geirrt oder hat er sich so dramatisch verändert?'

Sie waren mit dem österreichischen Kanzler Karl Nehammer bei Putin, hatten Sie da die Möglichkeit, mit Putin über den Krieg zu sprechen?
Nein, mit Putin selbst sollte nur Nehammer sprechen. Wir haben Wert darauf gelegt, dass es zu keiner Begegnung zwischen Putin und unserer Delegation kommt, damit sich kein Smalltalk mit dem Kriegspräsidenten ergibt, der falsch ausgelegt werden könnte. Der österreichische Bundeskanzler hatte mich damals gefragt, ob ich ihn auf dieser Reise begleiten würde, weil ich sowohl Putin als auch Vitali Klitschko von vielen Begegnungen kenne. Meine Aufgabe bestand darin, den Kanzler zu beraten, wie mögliche Propagandafallen Putins zu umschiffen wären. Dazu kam es nicht. Die russische Seite hat sich strikt an alle Abmachungen gehalten: Keine Fotografen, keine Handshakes usw. Aber weil Sie bei Putin immer mit allem rechnen müssen, war ich dabei. Allein die Tatsache, dass Putin hervorragend Deutsch spricht, ist für jeden deutschsprachigen Politiker eine Herausforderung: Man gerät schnell in die Versuchung, sich auf einen Smalltalk einzulassen -und das darf es mit einem Kriegsverbrecher nicht geben.

Den Frieden hat die Reise aber nicht gebracht. Gibt es davon überhaupt etwas Gutes zu verbuchen?
Das war auch nicht die Erwartung. Allein die Tatsache, dass dort mit Karl Nehammer ein westlicher Politiker Putin die Wahrheit unmittelbar ins Gesicht gesagt hat, zum Beispiel was seine Soldaten in Butscha an Gräueltaten begangen hatten, war ein Wert an sich. Damals wurde ja heftig spekuliert, dass Putin Informationen von seinen Geheimdiensten nur gefiltert bekäme und ein völlig falsches Bild der Situation habe. Umgekehrt gab es anschließend in der ganzen Welt ein hohes Interesse an den Eindrücken, die der österreichische Bundeskanzler von seiner Begegnung mit Putin mitgenommen hat. Es gab und gibt ja kaum westliche Politiker, die Putin seit dem Überfall auf die Ukraine von Angesicht zu Angesicht treffen.

Warum arbeiten Sie dann nicht weiter für Nehammer? Warum hat Storymachine, Ihr Unternehmen, den Vertrag mit ihm gekündigt?
Jetzt bringen Sie zwei Dinge durcheinander. Ich habe Karl Nehammer in der Ukraine und in Moskau ausschließlich privat als Kai Diekmann beraten. Das hat gar nichts mit Storymachine zu tun. Ich bin Gründer dieses Unternehmens, aber nicht operativ tätig.

Kommen wir zu etwas Erfreulicherem, zu Ihrem Buch "Ich war Bild". Tut es Ihnen niemals leid, dass Sie gegangen sind?
Wenn Sie 31 Jahre bei "Bild" gewesen sind und 16 Jahre davon an der Spitze, dann haben Sie so viele unglaubliche Dinge erlebt, dass das für drei Leben reicht: Meine skurrilen Begegnungen mit Wladimir Putin zum Beispiel, mit dem ich im Schwarzen Meer schwimmen war. Mein Besuch bei Syriens Diktator Assad, der persönlich die Tür zu seinem Palast in Damaskus aufgemacht hat. Es geht mir darum, Geschichte in Geschichten zu erzählen. Zeitgeschichte eben. Ich hatte am Anfang ein Buch von 350 Seiten geplant, es sind 544 geworden. Winston Churchill hat für seine Lebenserinnerungen drei Bände gebraucht. Das ist ja jetzt gerade mal mein Erstling.

Im Ernst: Nach zehn Jahren war ich schon der am längsten amtierende Chefredakteur bei "Bild". In meiner Zeit im kalifornischen Silicon Valley entstand dann bei mir der Wunsch, etwas anderes als "Bild" zu machen. Das sollte aber noch dauern, denn vorher habe ich die Digitalisierung von "Bild" vorangetrieben. Am Ende hat das Schicksal noch einmal nach mir gegriffen und mir angeboten, Donald Trump zu treffen. Klar, dass ich dann meine Zeit bei "Bild" noch einmal spontan um vier Wochen verlängert habe.

Ausreichend Werbung hat das Buch schon: Stuckrad- Barres Roman über die "Bild", Vorwürfe gegen Döpfner, den Springer-Verlagschef, und auf Spotify erscheint ein Podcast über Ihren Nachfolger Julian Reichelt.
Sagen wir mal so, über die Extra-Publicity bin ich nicht nur traurig. Und es passieren immer wieder Dinge, von denen ich mir nicht hätte vorstellen können, dass das zu meinen Lebzeiten noch geschieht. Wenn zum Beispiel ausgerechnet "Die Zeit" mir attestiert, ich hätte "Bild" aus der "politischen Schmuddel-Ecke" geholt, dann rührt mich das zu Tränen. Das werde ich mir in Gold rahmen lassen und an die Wand hängen.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen ihren Nachfolger Julian Reichelt und den Springer-Chef Mathias Döpfner? Letzterem wirft "Zeit" vor, sich in internen Nachrichten abwertend über Ostdeutschland geäußert zu haben.
Sie werden jetzt mit meiner Antwort nicht zufrieden sein. Ich habe zwar eine sehr explizite Meinung dazu, aber bin seit sechs Jahren nicht mehr bei Springer und Gott sei Dank nicht Teil dieses Dramas. Deshalb erlaube ich mir den Luxus, meine Meinung in diesem Fall für mich zu behalten.

Sie erzählen, wie die Bild auf Sie aufmerksam wurde: durch inszenierte Bilder wie einen Soldaten in Kaftan und Turban. Darunter schrieben Sie "Muslime in der Bundeswehr". Das war der Beginn Ihrer Karriere bei Bild.
Heute würde ich für eine solche Inszenierung geschlachtet werden, zu Recht, aber damals waren wir noch nicht so weit.

Werden wir von #Metoo und politisch Korrekten nicht immer mehr eingeengt? Auch in der Kultur ist heute viel nicht mehr möglich.
Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt und die Medien mit ihr. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz. Was lassen wir zu? Die private Homestory bei Politikern war früher selbstverständlicher Standard. Inzwischen hat auch die Politik begriffen, dass es keine so gute Idee ist, Journalisten ins Privatleben zu lassen: Wenn sie einmal drin sind, ist es schwer, sie wieder hinaus zu bekommen. Ich bin Vater von vier Kindern. Wenn Sie mich als Vater meiner zwei Töchter fragen, bin ich sehr froh, dass viele Themen rund um #Metoo jetzt offen und explizit diskutiert werden. Wenn Sie mich als Vater meiner zwei Söhne fragen, dann hoffe ich, dass diese Debatte ausgewogen und nicht maßlos geführt wird. Wir Deutschen sind in allem sehr gründlich und neigen leider immer wieder zu Übertreibungen. Ein Beispiel: Die Art und Weise, wie wir versuchen, die Vergangenheit sprachlich zu korrigieren, ist absurd, ist Orwell und macht die Vergangenheit ja nicht besser. Damit ist niemandem geholfen. Wenn wir so weitermachen, werden wir die gesamte Popmusik von den 60er-bis zu den 80er-Jahren auf den Index setzen müssen. Die Art und Weise, wie wir versuchen, mit den Compliance-Regeln von heute die Dienstreisen von vorgestern zu beurteilen, das läuft schief.

Schlimmer finde ich das ständige Vernadern. Jeder kann jeden sofort anzeigen, Karrieren zerstören. Sie wurden ja auch bezichtigt, sich einer Mitarbeiterin genähert zu haben.
Das ist dann auch die Verantwortung von Journalisten, wie sie mit ungerechtfertigten Vorwürfen umgehen. Ich würde niemals behaupten, dass Bild da in der Vergangenheit alles richtig gemacht hat. Und ich selbst beklage mich schon einmal gar nicht: Wer austeilt, muss auch einstecken können - auch, wenn es sich ungerecht anfühlt.

Würden Sie heute in der "Bild" gendern?
Ich würde das nicht tun. Sprache ist Informationsvermittlung. Und Texte werden ja nicht klarer, wenn gegendert wird. Als ich folgenden Satz hörte: "Es gab viele Bewerber: innen, unter ihnen waren vor allem Männer", da muss ich zweimal nachdenken, um diesen Satz zu verstehen. Absurd wird es, wenn ich beispielsweise lese: Witwer und Witwerinnen Oh Mann! Oder ist das auch wieder falsch?

Was war Ihr schönster, was Ihr schlimmster Moment? Der Anschlag auf Ihr Auto?
Wie gesagt, Sie erleben bei "Bild" so viel, dass ich das niemals auf einen oder zwei Momente reduzieren könnte. Manches ist so unglaublich, dass Sie es sich einfach nicht ausdenken können. Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Irgendwann in der Weihnachtszeit 2005 waren 45 Millionen Euro im Lotto-Jackpot, die Lotterien boten Superlose um 7.000 Euro das Stück. Wir haben dann bei Bild um 100.000 Euro Lose gekauft und verlost. Ich erinnere ich mich noch gut, als ich am Tag der Ziehung etwas früher nach Hause fuhr, weil ich den Nikolaus bei meinen Kindern nicht verpassen wollte. Kaum war ich zu Hause angekommen, hatte ich die Lottozentrale am Telefon, es hatte drei Gewinner gegeben, einer war von "Bild". Das heißt, wir haben für einen Leser 15 Millionen Euro gewonnen. So etwas halten Sie nicht für möglich. Das sind die ungeheuren und aufregenden Glücksmomente, die einen lange tragen. "Bild" ist in dieser Hinsicht einzigartig: Als die Meldung über den Nachrichten-Ticker lief, die deutsche Handschrift stürbe aus, haben wir die ganze Seite 1 in Handschrift gemacht. Nach einer hitzigen Debatte über die Frage, was Fotos in Zeitungen und Zeitschriften zeigen sollten und was nicht, ließen wir eine ganze Ausgabe ohne Fotos erscheinen: Wir haben den Platz freigelassen, um zu zeigen, wie wichtig Fotos sind. "Bild" ist die lauteste Trompete auf der Bühne, aber ehrlicherweise ist "Bild" ein ganzes Orchester und sie können unterschiedlichste Stücke damit aufführen. Das ist es, was mich an "Bild" so gereizt hat. Dazu kommt dieses riesige Publikum: Zu analogen Zeiten hatten wir zwölf Millionen Leser, heute erreicht "Bild" über die digitalen Vertriebsmöglichkeiten 30 Millionen Deutsche. Absoluter Rekord! Was den Anschlag auf unser Auto angeht: Mich hat erschüttert, wie offen mancher seine gar nicht klammheimliche Schadenfreude gezeigt hat.

Halten Sie es für möglich, dass die "Bild" einmal nicht mehr gedruckt wird?
Natürlich. Das ist der Lauf der Dinge. Es reitet ja auch niemand mehr auf dem Pferd ins Büro - und die Zahl der Elektroautos steigt täglich. Macht Taylor Swift noch Schallplatten? Immerhin ist sie einer der erfolgreichsten Popstars aller Zeiten. Aber an der Zahl der verkauften Schallplatten würde ihr Erfolg nicht gemessen. Es kommt immer auf die Reichweite an -egal, ob auf Papier oder digital. Meine Botschaft an meine Kollegen war immer eine einfache -es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht: 1. Die Auflagenbäume wachsen nicht in den Himmel. 2. Wir sind zum Glück nicht im Papiergeschäft, wir sind Geschichtenerzähler -und dafür ist die digitale Welt eine großartige Chance.

Was ist mit jenen, die lieber die gedruckte Zeitung vorziehen?
Deshalb gibt es noch immer eine Million Exemplare, die täglich als gedruckte Zeitung verkauft werden.

Wie lesen Sie "Bild" heute?
Die meisten meiner Medien konsumiere ich digital, natürlich auch "Bild".

Sie erzählen ausführlich, wie der deutsche Präsident Christian Wulff aufgrund von "Bild"-Recherchen sein Amt verloren hat. Wie war das, in die Politik eingreifen zu können?
Journalisten machen zuallerst keine Politik, wir berichten über Politik. Aber das hat für die Betroffenen dann mitunter natürlich Folgen. Wir Journalisten sind die Fehlersucher, wir sind diejenigen, die Inszenierungen überprüfen müssen. Stimmt das, was ein Politiker seinen Wählern verkauft? Dieser Überprüfung hat Wulff nicht standgehalten. Vieles geschah in dieser Affäre ohne unser Zutun. Am Anfang stand eine exzellente Recherche meiner "Bild"-Kollegen zu einer fragwürdigen Hausfinanzierung Wulffs, dann kamen die politischen Fehler des Bundespräsidenten hinzu, die schließlich dazu geführt haben, dass ihm kein Ausweg mehr blieb als der Rücktritt.

Gäbe es einen anderen deutschen Bundeskanzler, eine andere Regierung, wenn Sie Chefredakteur gewesen wären?
Hätte, hätte -Fahrradkette. Im Ernst: "Bild" kann Trends verstärken, aber keinen Trend, der nicht da ist, gegen eine Mehrheitsmeinung durchsetzen. Zu einer guten Boulevardzeitung gehört übrigens auch, Haltungen, die man für richtig erkannt hat, auch gegen die Mehrheitsmeinung der Leser durchzustehen. Wenn ich also zum Beispiel der Meinung bin, die Rentenbeitragssätze seien zu hoch, darf ich nicht gleichzeitig zu geringe Renten beklagen. Es macht mich übrigens ausgesprochen zufrieden, dass ich in meiner Zeit als "Bild"-Chef sowohl von der AfD auf der Rechten als auch von den Linken bekämpft worden bin. Der Platz eines Journalisten ist zwischen allen Stühlen. Da gehören wir hin. Wenn Sie gleichermaßen Kritik von rechts und Kritik von links auf sich ziehen, dann machen Sie alles richtig.

Wie blicken Sie auf Ihre Freundschaft mit Helmut Kohl zurück?
Helmut Kohl war für mich immer ein väterlichen Freund. Und ich habe diese Freundschaft als ein ganz besonderes Geschenk empfunden. Privat näher gekommen sind wir uns aber erst, als er nicht mehr Bundeskanzler und nicht einmal mehr Ehren-Vorsitzender der CDU war. Es war die schwere Zeit nach dem Selbstmord seiner Frau im Jahr 2001, als er begonnen hat, mir zu sehr zu vertrauen. 2005 bekamen meine Frau und ich eine Vase von ihm geschickt, mit einer Gravur: "Für Katja und Kai -Eure Maike und Helmut." Er rief mich an und sagte: "Du weißt, was das bedeutet -ich bin jetzt der Helmut." Das war seine rührende und umständliche Geste, mir das Du anzubieten. Ich konnte ihn aber nach all den Jahren nicht so einfach duzen. Wir haben uns dann auf "Herr Bundeskanzler" und "du" geeinigt. Der Staatsmann Helmut Kohl trägt zurecht den Titel "Kanzler der Einheit" - ohne ihn hätte es aus vielerlei Gründen die Wiedervereinigung möglicherweise nicht gegeben. Es hat mir wehgetan, zu sehen, wie alleine er mitunter war, als er nicht mehr Kanzler war.

Das Buch
Deutsche Zeitgeschichte durch den Blick eines Boulevardjournalisten, spannend erzählt: "Ich war Bild" von Kai Diekmann DVA, € 35,-

Das Buch erhalten Sie hier (*)

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Waren Sie erstaunt, als sich ein Lehrer über die Schlagzeile "Wir sind Papst!" beschwert hat?
Auch das gehört zu den erstaunlichen Erlebnissen, mit denen man sich rumschlagen muss. Der Lehrer war der Meinung, die Zeile sei nicht nur grammatikalisch, sondern auch inhaltlich falsch, weil ja nicht alle Deutschen Papst geworden seien. Was unterscheidet "Bild" übrigens grundsätzlich von anderen Medien? Die "FAZ" und die "Süddeutsche" schreiben, was ist. Die "Bild- Zeitung" schreibt nicht nur das, was ist, sondern, wie das, was ist, von einer Mehrheit des Publikums empfunden wird. Dafür ist die Zeile "Wir sind Papst!" ein gutes Beispiel. Es geht nicht um eine Tatsache, sondern um den Ausdruck eines Gefühls. Jemand hat formuliert, "Bild" sei der Seismograf der deutschen Befindlichkeit: Wir messen die Temperatur im Lande, das ist die wichtigste Aufgabe.

Wie sehen Sie "Bild" im Vergleich zur "Kronen Zeitung"?
Wenn wir die Reichweiten nehmen, hat die "Krone" mehr als die "Bild". Der Erfolg der "Krone" hat mich immer sprachlos gemacht. Wobei die "Krone" doch hauptsächlich ein Medium für den Großraum Wien ist. Die "Bild" ist vor allem in den ländlichen Gebieten zu Hause.

Was, wenn die AfD Storymachine einen Auftrag gibt?
Das würden wir ablehnen. Es gab eine ganze Reihe von Unternehmen, die wir schon abgelehnt haben.

Was machen Sie den ganzen Tag ohne "Bild"?
Die letzten zwei Jahre habe ich an einem kleinen Büchlein geschrieben, was ziemlich viel Kraft und Zeit gekostet hat. Außerdem bin ich Gründer bei Storymachine und schaue dort regelmäßig vorbei. Ich bin Vorsitzender des Freundeskreises von Yad Vashem in Deutschland, deshalb regelmäßig in Israel. Vor allem aber bin ich Herr meines Terminkalenders - und das ist klasse!

Was, wenn jemand kommt und sagt, Diekmann übernehmen Sie?
Ich kann mir nicht vorstellen, dauerhaft wieder in einem Konzern tätig zu sein. Ich habe bei der Bild so ziemlich alles erlebt, was man erleben kann. Hilfseinsätze wie seinerzeit bei der "taz", die ich einen Tag führen durfte, und im Ergebnis war das die bis heute erfolgreichste Ausgabe aller Zeiten, sind natürlich etwas anderes.

Würden Sie ChatGPT bei "Bild" einsetzen?
Selbstverständlich. Ich war zufällig beim Launch von ChatGPT in Amerika. Auf einer großen Konferenz, auf der sehr viele erfolgreiche Tech-Unternehmer waren. Es gab überhaupt kein anderes Thema als ChatGPT. Wir müssen als Journalisten lernen, technische Innovationen zu umarmen. Nichts anderes haben unsere Vorgänger beim Einsatz der Druckmaschinen und der Einführung der Textsysteme gemacht. Hätten wir vor zehn Jahren geglaubt, dass wir uns nicht mehr treffen müssen, um dieses Interview von Angesicht zu Angesicht zu führen? Jetzt haben wir Zoom.

Welche Macht, wie viel Einfluss auf die Politik, auf die Stimmung in Ihrem Land würden Sie für sich verbuchen?
Es ging mir nie um Macht, sondern immer nur um Verantwortung. Wenn Sie ein so großes Publikum erreichen, bedeutet das, dass Sie immer die Folgen Ihrer Berichterstattung bedenken müssen. Mir war immer bewusst, dass der gleiche Sachverhalt in den gleichen Schlagzeilen in Bild eine völlig andere Wirkung hat als in der "FAZ" oder der "Süddeutschen". Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel aus der Finanzkrise 2008/2009 erzählen. Wir hatten zuverlässige Informationen, dass die Geldautomaten leer liefen, dass es also nicht mehr genug Bargeld in den Automaten gab. Es wäre journalistisch völlig legitim gewesen, wenn wir die Schlagzeile gemacht hätten: "Bargeld wird knapp". Was wäre passiert, wenn wir das getan hätten? Die Automaten wären anschließend wirklich alle leer gewesen. Es wäre zu einem Banken- Run gekommen und möglicherweise wäre das gesamte Finanzwesen zusammen gebrochen. Das ist etwas, was sie bei "Bild" immer bedenken müssen. Was für eine Folge hat die Schlagzeile? Für den Verzicht auf diese Schlagzeile haben wir übrigens später einen Journalistenpreis erhalten.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Ich bin ein Berufsmoptimist. Als Vater von vier Kindern machen Sie sich grundsätzlich Sorgen, aber ich bin davon überzeugt, dass die Welt in den letzten 300 Jahren immer besser geworden ist. Technologie hat unser Leben immer besser gemacht, deshalb denke ich, dass wir auch Technologien entwickeln können, die beispielsweise die Klimakrise beherrschbar machen. Die klassischen großen Geiseln der Menschheit wie Hunger oder Krankheit spielen heute immer weniger eine Rolle.

Was würde Kai Diekmann Kai Diekmann fragen?
Ganz einfach: "Wo haben Sie nur immer all diese großartigen Ideen her, Herr Diekmann?" Oder: "Warum sehen Sie nur immer so gut aus, Herr Diekmann?" Oder auch: "Ist es eine große Bürde, immer der beste Journalist im Lande sein zu müssen?" Hach, ich würde sooooooo gerne Interviews mit mir selber machen.

ZUR PERSON: Kai Diekmann wurde am 27. Juni 1964 als Sohn des Rechtsanwalts Klaus und der medizinisch-technischen Assistentin Brigitte Diekmann in Ravensburg, Oberschwaben, geboren. Als Gymnasiast gründete er eine konservative Schülerzeitung. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr absolvierte er ein Praktikum beim Axel-Springer-Verlag und wurde Journalist. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur der "Welt am Sonntag", von 2001 bis 2017 der "Bild". Nach seinem Ausscheiden gründete Diekmann mit Philip Hessen die Agentur Storymachine, die mit Philipp Jessen die Agentur Storymachine, die Unternehmen und bekannte Persönlichkeiten bei deren Auftritten in sozialen Medien berät. Kai Diekmann lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Potsdam.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 19/2023.