Jens Schneider: "Understatement ist in Österreich besonders ausgeprägt"

Die TU Wien ist besser, als sie sich selbst oft darstellt, findet deren neue Rektor Jens Schneider. Um das deklarierte Ziel österreichischer Bildungspolitik zu erreichen und zwei Universitäten unter die Top 100 der Welt zu bringen, brauche es aber mehr als Lippenbekenntnisse, erklärt er in seinem ersten Interview nach Amtsantritt.

von Jens Schneider © Bild: Matt Observe

Viele haben den Nobelpreis für Ferenc Krausz als Nobelpreis für Österreich gefeiert. Ist das angebracht?
Ich finde es grundsätzlich immer schwierig, wenn man Dinge national reklamiert. Für mich war das ein europäischer Preis. Die europäische Wissenschaft hat einen Preis für ausgezeichnete Grundlagenarbeit bekommen. Wichtig ist natürlich, dass die Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern so gestaltet werden, dass das möglich ist.

Sind diese Rahmenbedingungen in Österreich gut genug?
Es gibt Bereiche, in denen man sehr frühzeitig erkannt hat, wie wichtig Grundlagenforschung ist und da gute Voraussetzungen geschaffen hat. Allerdings setzt man nach wie vor zu sehr auf die intrinsische Motivation der Menschen. Wissenschafter wie Krausz bringen ihre Leistungen aufgrund sehr hohen persönlichen Engagements, nicht wegen hervorragender personeller und infrastruktureller Ausstattung. Aber diese Wissenschafter müssen natürlich auch eine gewisse Toleranz und Offenheit vorfinden. Und da ist der Standort Wien besonders. Es gibt hier eine Kultur der Offenheit und der Weltoffenheit, die ein tolerantes Umfeld schafft, und daraus entwickeln sich gewisse Dinge. Das kann man nicht kaufen.

Interessant, dass Sie Toleranz und Offenheit betonen. Erleben Sie das speziell in Wien oder würden Sie es Österreich generell zuschreiben?

Ich denke, da ist Österreich besser als sein Ruf. Es gibt ja oft das Bild, hier werde nur gemeckert, die Wiener seien ständig am Sudern und die Österreicher generell grantig. Manchmal habe ich das Gefühl, da werden eher gewisse Klischees bedient. Wenn man mit den Menschen zusammentrifft, habe ich fast nur positive Erfahrungen gemacht. Ich sehe allerdings schon, dass Wien durch seine Größe und seine kulturelle Einbettung eine Besonderheit in Österreich ist. Das gesamte kulturelle Umfeld, das daraus erwächst, ist einzigartig.

Österreich ist auch ein Land, in dem 30 Prozent angeben, bei der nächsten Nationalratswahl Herbert Kickl wählen zu wollen. Das hat mit Toleranz und Offenheit nicht mehr so viel zu tun.
Korrekt. Das ist ein grundlegendes Problem in den europäischen Demokratien. Anfang Oktober waren Landtagswahlen in Hessen und in Bayern, da haben Sie auch starke Zuwächse der AfD gesehen. Es gibt überall eine gewisse Klientel von Menschen, die glauben, Veränderungen zu verlangsamen oder Dinge bewahren zu können. Obwohl eigentlich alle wissen, so geht es nicht weiter. Das ist nicht spezifisch österreichisch. Was mich erschreckt hat, war dass bei Umfragen in Deutschland herausgekommen ist, dass es nicht nur Protest ist, sondern viele Menschen aus Überzeugung AfD gewählt haben. Das sollte uns zu denken geben.

Das Thema hat insofern unmittelbar mit Ihnen zu tun, als ein Kennzeichen dieser Bewegungen eine ausgeprägte Wissenschaftsfeindlichkeit ist. Hat Wissenschaft in der Vergangenheit zu wenig oder zu schlecht kommuniziert?
Ich denke, es ist wichtiger denn je, dass man Wissenschaftskommunikation ernst nimmt und dafür auch in der Wissenschaft selber Anerkennung bekommt. Das ist derzeit nicht immer so. Es gibt Menschen, die sind hervorragende Wissenschaftskommunikatoren, aber es ist nicht in der DNA jedes Wissenschafters. Was so schwer zu vermitteln ist: Es gibt in der Wissenschaft kein schwarz-weiß. Es gibt kein richtig oder falsch. Man kann nur sagen, nach heutigem Wissensstand ist es das Beste, was wir wissen. Man muss also das Prinzip des wissenschaftlichen Arbeitens, des sich ständig Infragestellens, vermitteln. Und das ist schwierig. Die Menschen wünschen sich klare Ansagen, die Sicherheit vermitteln. Am Ende gaukelt das Sicherheit aber nur vor.

»Man könnte häufiger ein bisschen stolz sein auf das, was man kann«

Hat Wissenschaft auch das Problem, per se elitär zu sein? Gewisse Dinge sind hochspezialisiert und ohne entsprechendes Vorwissen nicht leicht zu verstehen.
Ich glaube ja, es ist trotzdem möglich, jemandem zu erklären, was dahintersteckt. Ich habe Ferenc Krausz zum Beispiel letzte Woche gefragt, welche Wegstrecke das Licht in dieser Attosekunde zurücklegt. Ich glaube seine Antwort war, drei Nanometer.

Er konnte die Frage zufriedenstellend und verständlich beantworten?
Genau. Und ich bin Bauingenieur. Ich kann mir eine Attosekunde nicht vorstellen, aber ich konnte mir vorstellen, wie man von Millimeter geteilt durch tausend auf Mikrometer und noch einmal geteilt durch tausend auf Nanometer kommt. Das Beispiel zeigt mir, dass es möglich ist, auch sehr komplexe Sachverhalte anschaulich darzustellen. Umgekehrt gibt es ja den berühmten Spruch von Einstein, man soll alles so einfach machen, wie möglich, aber nicht einfacher. Man darf auch nicht annehmen, dass man komplexe Dinge zwischen Frühstück und Mittagessen einfach so nebenher versteht.

Ein Spezialfall von Wissenschaftskommunikation ist das, was sich gerade im Bereich Klimaforschung abspielt. In Österreich haben sich zahlreiche Wissenschafter mit den sogenannten Klimaklebern solidarisiert. Ist das für Sie zulässig?
Wenn Personen sich als Privatpersonen solidarisieren, finde ich das zulässig. Sie können aber nicht als Repräsentanten der Institutionen auftreten, denn dafür bedürfte es zum Beispiel an der TU Wien eines Beschlusses des gesamten Senats und der Universitätsleitung. Dass man die persönliche Meinung quasi zur Meinung der Institution erklärt, halte ich für nicht angemessen. Man müsste zuerst einen Diskussionsprozess in der Institution anstreben und das Ergebnis abwarten. Natürlich wären sehr stark positionierte Personen am Ende so eines Prozesses womöglich der Meinung, das ist jetzt wischi-waschi, das ist nicht mehr meine Position. Aber das muss man in einem demokratischen Prozess aushalten.

In der Öffentlichkeit ist es aber schwer zu unterscheiden, ob jemand als Privatperson oder als Vertreter einer Institution agiert.
Das ist ein Spannungsfeld, das sich sehr schwer auflösen lässt. Aber ich halte es als Repräsentant der Institution für wichtig, diesen Unterschied zu machen. Sonst kommen wir dahin, dass es für die Öffentlichkeit immer schwieriger wird, zu beurteilen, was ist die Position der TU Wien.

Ein Gedankenexperiment: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir in einem Jahr eine Regierung mit Beteiligung der Kickl-FPÖ haben. Welche Rolle und Verantwortung hätte Universität Ihrer Meinung in so einem Umfeld?
Universitäten spielen natürlich eine Rolle im politischen Raum. Zu ihrer Grundmission gehört es ja auch, Dinge vorzudenken. Wir als Technische Universität sind häufig diejenigen, die Entwicklungen in der Technologie sehr frühzeitig erkennen und damit auch erkennen, wo es gesellschaftlich hingehen könnte. Damit kommt uns auch Verantwortung zu, weil wir diese Erkenntnisse kommunizieren müssen. Dass wir komplett unpolitisch sind, das funktioniert gar nicht. Entscheidend ist, dass man dabei auf der Grundlage gewisser Werte agiert. Wir haben als neues Rektoratsteam der TU Wien die Maxime ausgegeben, dass wir unser Handeln auf den europäischen Werten aufbauen. Zu denen unter anderem auch Demokratie gehört. Das heißt, sobald undemokratische Prozesse in Rede kommen, müssen sich auch die Universitäten positionieren.

Jens Schneider
© Matt Observe Seit 1. Oktober ist der Deutsche Jens Schneider Rektor der TU Wien. Die feierliche Inauguration fand am 6. Oktober im Kuppelsaal im Hauptgebäude am Karlsplatz statt

Kommen wir zurück zum Thema Exzellenz. Sie kommen aus Deutschland. Mit dem Blick von außen, wie gut sind die Universitäten in Österreich?
Ein Urteil über alle Universitäten abzugeben, wäre vermessen. Aber ich möchte schon eines sagen: Die TU Wien verkauft sich im internationalen Kontext für das, was sie kann, zu schlecht. Man könnte häufiger ein bisschen stolz sein auf das, was man kann. Das bedeutet nicht, dass man es machen muss wie in den USA, wo die Art, seine eigene Leistung zu verkaufen, aus europäischer Sicht teilweise stark übertrieben ist. Aber etwas mehr Selbstbewusstsein wäre gut.

Wie erklären Sie sich diesen Hang zum Understatement?
Ich glaube, es kommt grundsätzlich von den Menschen, die klassischerweise an den Technischen Universitäten ihr Studium beginnen. Menschen, die aus einem mathematischnaturwissenschaftlichen Umfeld kommen, sind häufig etwas selbstkritischer, weil sie mit Metiers zu tun haben, die per se schon schwierig und kompliziert sind. Im Engineering gehört es auch nicht zum guten Ton, sich selbst zu viel zu loben. Verstärkt wird das dadurch, dass dieses Understatement in Österreich besonders ausgeprägt ist, ist mein Eindruck. Nach dem Motto: Nicht gemeckert ist genug gelobt.

Eine interessante Beobachtung ...
Wenn ich Darmstadt mit Wien vergleiche: Auch in Darmstadt ist es nicht so, dass man ständig in Jubelstürme über die eigene Institution ausbricht. Aber ich finde es in Wien noch stärker ausgeprägt, dass auch die Studierenden selber sagen, sie verlassen die Universität mit dem Gefühl, es gepackt zu haben. Aber nicht mit dem Gefühl, es gepackt zu haben und stolz darauf zu sein, an der TU Wien studiert zu haben. Das finde ich nicht gut.

Im letzten THE-Ranking ist die TU Wien auf einem Platz zwischen 251 und 300 gelandet. Was sind diese Rankings wert?
Sehr gute Frage. Ich muss Ihnen sagen, nach so vielen Jahren in der Wissenschaft kann ich es auch nicht recht beurteilen. Diese Rankings sind sehr stark auf Institutionen aus dem angelsächsischen System zugeschnitten und passen eigentlich nicht auf ein europäisches System der Universitäten, in dem zum Beispiel keine Studiengebühren eingehoben werden. US-Universitäten sind enorm darauf angewiesen, im Ranking weit oben zu sein, weil sie sonst weniger Studierende und damit weniger Geld bekommen. Man muss auch genau wissen, welche Knöpfe man drückt, um gut abzuschneiden. Ein Beispiel ist die Student-to-Faculty-Ratio, also wie viele Professorinnen und Professoren es in Bezug auf die Anzahl der Studierenden gibt. Im amerikanischen System gibt es viel mehr Associateund Assistant Professors, die bei uns als Post-Docs oder Ober-Ingenieure beschäftigt werden. Und plötzlich ist man bei diesem Faktor ganz schlecht.

Aber es gibt ja auch europäische Universitäten, die besser abschneiden. Die TU München zum Beispiel liegt auf Platz 30 in diesem Ranking. Was machen die besser?
Die TU München hat verschiedene Vorteile. Erstens hat sie in den letzten Jahren eine sehr konsequente Internationalisierungsstrategie gefahren, der ehemalige Rektor Hermann hat sehr frühzeitig auf richtige und wichtige Themen gesetzt. Und sie wurden natürlich finanziell ganz anders ausgestattet, als die TU Wien. Das Jahresbudget ist sicher drei Mal höher. Ich vermute auch, dass sich in München Personen ganz gezielt um Rankings kümmern und entsprechende Maßnahmen setzen.

Österreich hat das Ziel ausgegeben, dass bis 2030 zwei Unis unter den Top 100 sein sollen. Wenn man der TU Wien jetzt ganz viel Geld gibt, schaffen wir es dann?
So einfach ist es nicht. Es muss gepaart sein mit strategischen Elementen. Wir versuchen zum Beispiel, das Thema Internationalisierung mit Forschung und Innovation zu koppeln. Weil wir überzeugt sind, dass Forschung immer inhärent international ist, und allein dadurch der Name TU Wien und unsere Leistungen in der Wissenschaft global besser sichtbar werden.

Umgekehrt gefragt, ist es illusorisch, die Top-100 ohne mehr Geld zu schaffen?
In Bezug auf die Top 100 kann ich es nicht beurteilen. Aber es ist illusorisch, ohne mehr Geld die ganzen Aufgaben zu erfüllen, die wir erfüllen sollen. Das ist nicht machbar. Wir müssen Prioritäten setzen und wir müssen teilweise improvisieren, weil die Finanzausstattung nicht dem entspricht, was politisch erwartet wird.

Was fordern Sie konkret?
Wir müssen finanziell besser ausgestattet werden. Wir müssen bei der Politik sehr stark und sehr hart für Verständnis werben, dass eine Technische Universität, von der Industrie und Wirtschaft personell stark abhängen, enorm wichtig für den Standort ist. Und dass sie nicht als Kostenträger gesehen wird, sondern als Investition in die Zukunft. In Deutschland ist es eigentlich genau dasselbe. Es sind mir zu viele Lippenbekenntnisse. "Die wichtigste Bank ist die Schulbank", stand auf einem CDU-Wahlplakat in Hessen. Ja, aber wenn sich das nicht in die entsprechende Finanzausstattung übersetzt, dann funktioniert es nicht. Das Problem ist, diese Prozesse dauern länger, und Politiker, die heute entscheiden, haben sozusagen nichts davon. Krausz hat Ende der 1990er-Jahre in Wien begonnen, jetzt schreiben wir 2023. Es hat mehr als 20 Jahre gedauert, bis die Investition in dieses Feld am Ende zum Nobelpreis geführt hat.

Sind die Bedingungen jetzt so, dass wir uns in 20 Jahren über einen Nobelpreis freuen können?
Das ist nicht so leicht auszurechnen. Es war jetzt auch ein sehr glücklicher Zufall, dass man frühzeitig auf Themenfelder gesetzt hat, die jetzt eine Blüte erfahren.

Anton Zeilinger, der im Vorjahr mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, hat die Bürokratisierung und Verschulung des Systems kritisiert. Stimmen Sie zu?
Ich sehe mit Sorge, dass zu viel Programmförderung gemacht wird, in Österreich genau wie in Deutschland. Es werden gewisse Themen vorgegeben, in denen man dann forschen soll. Das ist wichtig, aber es muss noch stärker auch die freie Forschung geben. Es muss auch Raum für Scheitern geben. Und: Die Bürokratisierung und der Aufwand bei EU-Projekten steht in keinem Verhältnis zu dem, was Sie als Wissenschaftler in der Forschung leisten. Das hat tatsächlich Überhand genommen.

Was wollen Sie in den nächsten Jahren an der TU Wien erreichen?
Unser Hauptpriorität ist, dass wir eine verantwortungsbewusste, vertrauensvolle und weltoffene Kultur an der TU Wien schaffen wollen, die einerseits Leistung und Eigenverantwortung fördert, andererseits aber auch die Menschen. Was das Thema Exzellenz angeht, müssen wir müssen auf Forschungsfelder fokussieren, auf denen wir mittelfristig auch international Themenführerschaft übernehmen können. Ohne dabei die Offenheit zu verlieren, neue zukunftsweisende Themenfelder zu erschließen. Das ist nicht einfach. Und wir müssen mehr auf die Lebenswirklichkeit der jungen Generation eingehen. Wir wissen ganz genau, dass mindestens die Hälfte unserer Studierenden darauf angewiesen ist, zu arbeiten. Sie können also gar nicht so prüfungsaktiv sein, wie jene, die ausschließlich studieren. Geld vom Staat bekommen wir im Prinzip aber nur für die Prüfungsaktivitäten. Ich habe dafür nach einer Woche im Amt kein Patentrezept, aber das würde ich sehr gerne mit der Politik diskutieren.

ZUR PERSON

Jens Schneider (*1969) studierte Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt. Nach seiner Promotion 2001 war er in Ingenieursbüros tätig, bevor er an diversen Hochschulen in Deutschland lehrte. 2009 wurde Schneider Professor an der TU Darmstadt, 2020 Vizerektor. Mit 1. Oktober 2023 folgte er Sabine Seidler als Rektor der TU Wien nach. Zum fünfköpfigen Rektoratsteam gehören neben ihm Jasmin Gründling-Riener, Peter Ertl, Wolfgang Kastner und Ute Koch.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 42/2023.