Ivona Dadic: Zwischen
Traum und Trauma

Siebenkämpferin Ivona Dadic ist Österreichs größte Olympia-Hoffnung. Die Kraft für ihre Erfolge zieht sie aber nicht nur aus Talent und Können - sondern auch aus dem Schmerz ihrer Familiengeschichte

von Ivona Dadic © Bild: Heinz Stephan Tesarek

An der Innenseite des rechten Unterarms, direkt über der Handfläche, hat sich Ivona Dadic ein kleines Tattoo stechen lassen: ein schlichtes Kreuz, darin in geschwungenen Buchstaben der Name Ivan. Ivan war ihr großer Bruder. "Und er war genau so, wie man sich einen großen Bruder vorstellt - er hat mich unterstützt, wenn ich nicht weiter wusste, er hat mich beschützt, wenn es brenzlig wurde, er war" - er war 18 Jahre alt und Ivona 14, als er sich wie unzählige Male zuvor auf sein Motorrad setzte und aus einer Nebenstraße kommend in die Durchzugsroute einbog. Der Wagen, dessen Fahrer ihn übersah. Der wuchtige Aufprall. Ivan hatte keine Chance. "Seither", sagt Ivona, "trage ich bei jedem Wettkampf ein Bildchen von ihm bei mir. Er ist mein Schutzengel, der mir Kraft gibt."

Ivona Dadic
© Heinz Stephan Tesarek Das Gedenken. Ein kleines Tattoo an der Innenseite des Unterarms erinnert an den großen Bruder

Mit ihren 27 Jahren zählt die Leichtathletin Ivona Dadic, das Kind kroatischer Kriegsflüchtlinge, zu Österreichs größten Medaillenhoffnungen für die Anfang August beginnenden Olympischen Sommerspiele in Tokio. Sie startet im Siebenkampf der Frauen, einem Bewerb, der sich aus unterschiedlichsten Disziplinen vom Kugelstoßen über Speerwurf bis zu Weitsprung und Hürdenlauf zusammensetzt und über zwei Tage erstreckt. Im vergangenen Jahr erzielte Dadic die Jahresweltbestleistung in diesem Bewerb. 2016 erreichte sie bei den Europameisterschaften in Amsterdam Bronze, im Jahr darauf bei den Halleneuropameisterschaften in Belgrad Silber, 2018 bei den Hallenweltmeisterschaften erneut Silber.

Die Mama als Role Model

Und heuer in Japan, da sind sich die Experten, die sie im Vorjahr zu Österreichs "Sportlerin des Jahres" kürten, einig, ist sie reif für eine Olympiamedaille. "Natürlich ist das mein Ziel", sagt sie. Aber in erster Linie gehe es ihr darum, vor der Weltöffentlichkeit einen guten Wettkampf abzuliefern. Für sich. Für Ivan. Für ihre Mama. Für ihren Papa. Für ihren langjährigen Freund Dario. Für Kroatien. Für Österreich. Dafür, das alles, was sie bisher mit eiserner Disziplin in ihren Sport investierte, vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte endgültig Sinn ergibt.

»Meine Mama lehrte mich, dass man mit Durchhaltevermögen und Fleiß alles erreichen kann, was man sich vornimmt«

"Meine Eltern, vor allem meine Mama, haben mich gelehrt, dass man durch Fleiß und Durchhaltevermögen alles erreichen kann, was man sich vornimmt", sagt Ivona. Und auch wenn das für manche womöglich ein wenig abgeschmackt und klischeehaft klingt: "Ich bin fest davon überzeugt: Es ist diese Gewissheit, die mich stärker als so manch andere Athletin macht." Klar, Ivona Dadic bezieht die Kraft für ihre Erfolge auch aus ihrem Talent und dem Können, das auf dessen Basis entstand. Aber auch aus dem Schmerz der eigenen Familiengeschichte.

Ivona Dadic
© Heinz Stephan Tesarek Die engsten Vertrauten. Dadic mit ihrer Mutter Darica und Langzeitfreund Dario - beide stammen aus derselben Region, lernten einander aber erst im österreichischen "Exil" kennen

Kurz vor Ivonas Geburt sind ihre Eltern mit Ivan, damals gerade einmal vier, aus dem Balkankrieg nach Österreich geflüchtet. Den Krieg - jenen der Panzer und der Granaten und der einstigen Nachbarn, die über Nacht zu Feinden geworden waren - hatten sie überstürzt hinter sich gelassen. Und auch den allgegenwärtigen Albtraum, serbische Paramilitärs könnten das Wasserkraftwerk samt Stausee hinter ihrer kleinen Heimatstadt im Hinterland der dalmatinischen Küste sprengen - und so die gesamte Region fluten. Doch nun begann der ökonomische Überlebenskampf. Nichts hätten sie gehabt, erzählt Mutter Darica, als sie damals in Wels strandeten, die verbliebenen Habseligkeiten der Familie hätten samt und sonders in einer einzigen Sporttasche Platz gefunden, kein Wort Deutsch hätten sie und ihr Mann gesprochen. Mittlerweile haben es die Wahloberösterreicher zu bescheidenem Wohlstand gebracht und sind fest integriert. "Und wer weiß, vielleicht hätte ich ohne die Vorbildwirkung meiner Eltern meine Sportkarriere schon längst resigniert aufgegeben", sagt Ivona Dadic.

Das vernichtendes Urteil

Es war im Jahr 2013, ein Jahr, nachdem sie erstmals bei Olympischen Spielen an den Start gegangen war und von den heimischen Medien als neuer Teeniestar der Leichtathletik abgefeiert wurde, als sie sich einen schweren Knieschaden zuzog - der rechte Innenmeniskus riss, und das gleich zweimal. Operationen, drei Monate Rehab, sechs Wochen Schiene ohne jegliche Belastung, sanfter Muskelaufbau, jede Menge Rückschläge und ein Jahr lang kein einziger Wettkampf. Aus, vorbei, Pech gehabt?" Das war zumindest das Urteil mehrerer Ärzte, aber auch derselben Community, die mich im Jahr zuvor noch in den Himmel gehoben hatte", erinnert sich Dadic. Und sie erinnert sich auch daran, wer ihr damals die Kraft gab, trotz allem weiterzumachen. "Ivan, dessen Nähe ich trotz seines Todes immer irgendwie fühlte, meine Mama, die rund um die Uhr arbeitete, um unsere Familie in den ersten Jahren in Österreich durchzubringen - und mein Freund Dario."

Ivona Dadic
© Heinz Stephan Tesarek Eiserne Disziplin. Durchhaltevermögen und Kraft sind gewissermaßen vererbt

Nimmt man Instagram und Facebook zusammen, so hat Ivona Dadic mittlerweile an die 300.000 Follower, und Fußballikonen wie etwa der Franzose Patrice Evra oder der Belgier Marouane Fellaini machen ihr über Social Media überschwängliche Komplimente für ihr Aussehen. Doch ihren ohne gezieltes Zutun erlangten Status als Sexsymbol wischt sie fast brüsk beiseite, textilarme, ärodynamische Tops, sagt sie, sind nun einmal ihr Arbeitsgewand und nichts, womit sie bewusst kokettiert oder die eigene Marke befeuert. "Ein Dessous-Shooting käme für mich nicht in Frage, da bin ich so gar nicht der Typ dafür."

Ein bürgerliches Glück

Seit neun Jahren, als sie 18 war und er Anfang 20, ist sie nun schon mit ihrem Dario zusammen. "Er war der erste Mann, den ich meinen Eltern vorstellte", erzählt sie. Wie ihre Familie stammt auch die seine aus Dalmatien, gerade einmal 40 Kilometer liegen zwischen den einstigen Wohnorten, doch erst hier in Österreich lernte man einander kennen: Dario, dessen Familie über den Umweg Schweden nach Österreich ausgewandert war, und Ivona trafen einander zufällig beim Weggehen in Linz. Auch er war damals noch Sportler, kickte in Oberösterreich in der dritten Liga und ist heute nebenberuflich so was wie ihr Manager. "Aber das greift viel zu kurz", sagt Ivona Dadic. "Er ist mein engster Vertrauter, mein bester Freund - und meine ganz große Liebe."

Ivona Dadic
© Heinz Stephan Tesarek Siegespose. Dadic definiert persönlichen Erfolg nicht ausschließlich über Medaillen

Jeden Sonntag besuchen sie gemeinsam den Gottesdienst, irgendwann, wenn sie in die Dreißiger kommt und ihre aktive Karriere beendet, wollen sie heiraten und eine Familie gründen. Natürlich, bemerkt Ivona Dadic beiläufig, wäre es schön, wenn dann auch eine Olympiamedaille in der Glasvitrine hängen würde. Aber entscheidend sei das am Ende ganz sicher nicht. Entscheidend sei, dass sie irgendwann mit dem Gefühl auf ihre Laufbahn zurückblicken könne, alles gegeben und redlich gekämpft zu haben. Irgendwann hat Ivona Dadic für sich beschlossen, dass ihr Kampf niemals zum Krieg werden darf.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Ausgabe 27/2021 erschienen.