Georges spielt heute nicht

Je älter wir werden, desto mehr Menschen verlassen uns, lassen uns zurück mit dem Schrecken dieses Moments, der sich mit bedrohlicher Häufigkeit wiederholt

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Während des Begräbnisses von Georges, als Angehörige über sein Leben erzählten, schloss ich die Augen und sah ihn vor mir. Groß, schlank, dichtes Haar, enge, an den Beinen anliegende Hosen und ein Hemd, das farblich abgestimmt zur Hose passte. Es lag immer eine gewisse Würde in seiner Erscheinung. Er trug nie Socken nach dem Tennisspiel. Die nackten Füße in den schmalen, hellen Mokassins, ohne auch nur einen Schmutzfleck, als würde er sie jeden Morgen putzen. Wie er auch im Winter diese gesunde Bräune im Gesicht trug, war mir immer ein Rätsel. Er sah jeden Tag so aus, als käme er eben über die Treppen herunter von einem Kreuzfahrtschiff -das wochenlang durch die Karibik gefahren war -direkt in den Tennisklub.

Ich war neu in dem Klub, kam erst vor drei Jahren nach Wien zurück, spielte zu Beginn in verschiedenen Vereinen, entschloss mich jedoch, in dem zu bleiben, in dem auch Georges spielte. Die älteren Männer, die Gruppe, in der auch ich spielen wollte, kannten einander seit Jahrzehnten, kannten ihre Ehefrauen, ihre Kinder, ihre ehemaligen Berufe, ihre Verletzungen und ihre Launen. Es war zu Beginn gar nicht so einfach, Anschluss zu finden. Doch da war eben Georges, der eine besondere Begabung hatte, auch fremde und neue Spieler in den imaginären Kreis um sich herum einzuladen.

Erzähler

Er war der perfekte Erzähler. Manchmal schien es, als sei mein Zuhören gar nicht so wichtig. Ich hatte ihn erst ein paar Mal gesehen, und wir hatten erst ein paar Mal mit-und gegeneinander gespielt, als ich aus der Umkleidekabine die Stufen lang sam nach einem anstrengenden Doppel zum Ausgang stieg, kurz auf der Terrasse die wärmende Sonne im Gesicht genoss, als Georges, der alleine an einem Tisch saß, mich aufforderte, mich zu ihm zu setzen. Ich war froh über die Einladung, kannte kaum noch jemanden im Klub, und setzte mich zu ihm.

Georges stellte wenig Fragen, er war eben ein Erzähler. Er sprach über Urlaubsreisen, ein aufregendes Wochenende, eine Familienfeier, die vor ein paar Tagen stattgefunden hatte, erzählte von seinen Söhnen, von denen einer im Ausland studierte, wie er seine Ehefrau kennengelernt hatte, über seine Brüder, wo er aufwuchs, was er gearbeitet hatte, was ihm gefiel oder weniger gut gefiel.

Die meisten Menschen zeichnen imaginäre Kreise um sich herum. Es sind Grenzen, die nur mit Einladung und Bewilligung überschritten werden dürfen, die schrittweise die Fremdheit reduzieren, bis man als enger Freund oder Familienmitglied die inneren Kreise erreichen könnte. Tennispartner überschreiten üblicherweise nicht einen der äußeren Kreise. Man spricht über Belangloses, über Urlaube, Restaurants, über andere Spieler, das schlechte Essen im Klub und nicht funktionierende Duschen. Persönliches, Privates, die eigene innere Unruhe und Empfindsamkeit, Sorgen und Ängste werden durch die Mauern der äußeren Kreise geschützt und als Privates, nicht Öffentliches verteidigt.

Kreise

Georges schien dieses System der schützenden Kreise nicht zu kümmern. Er gab sich, wie man als Sprichwort zu sagen pflegt - wie ein offenes Buch, sah keinen Grund, Privates ängstlich zu schützen und nur das Oberflächliche anzubieten. Mit einer für mich ungewohnten Offenheit sprach er selbstbewusst und ehrlich über sich selbst, seine Freuden, seine Sorgen und sein familiäres Umfeld, als würde er demonstrativ die üblich schützende Verpackung herunterreißen und sich so geben, wie er eben ist.

Ein Jahr später spielte ich mit Georges im Doppel in der Meisterschaft gegen das Team eines anderen Klubs. Um den Unterschied zwischen ihm und mir im Wettkampf zu beschreiben, passt eine Anekdote: Als wir im ersten Satz bereits 0:4 im Rückstand lagen und ich mit meinem mir verinnerlichten Pessimismus sagte: "Es ist sinnlos, wir haben keine Chance, ich spiele einfach katastrophal heute", antwortete er: "Das gewinnen wir locker, du bist nicht einmal noch richtig aufgewärmt." Und er hatte recht. Ich war in den Wettkämpfen seinem positiven Verständnis des Lebens oft nicht gewachsen, fragte mich immer wieder, wie er es schaffte, Sonne und blauen Himmel zu sehen, wenn er mir grau und regnerisch vorkam.

Gesundheit

Vor einem Jahr erzählte ein Kollege im Klub, Georges sei krank, sogar sehr krank. Es sei ganz plötzlich geschehen, ohne, dass es sich angekündigt hatte. Wir waren alle entsetzt. Wie konnte das geschehen? Wie kann uns die Biologie einen so bösartigen Streich spielen, wenn ein gesunder, schlanker, fröhlicher und gut aussehender Freund plötzlich fällt, als hätte ihn jemand von hinten mit einem Prügel niedergeschlagen. Bei manchen Spielern im Klub ist der langsame körperliche Verfall offensichtlich, sie spielen seltener, dann nur mehr mit einem Trainer, der ihnen die Bälle zuwirft und manche kommen nur, um Zeitung zu lesen, Kaffee zu trinken und sich mit anderen zu unterhalten. Doch das Herausschießen aus der Reihe der aktiven und gesunden Spieler wie bei einem Kegelspiel war schwer zu ertragen. Diese mitleidlose Zufälligkeit erschreckte uns alle im Klub.

Was bedeutet dann noch Gesundheit, eine gute Verfassung und Beweglichkeit, die Fähigkeit, jedem Ball nachzulaufen? Wann bricht die Maschine trotz regelmäßiger Wartung, kommt der unerwartete Zusammenbruch, ohne Vorwarnung und Ankündigung, wie ein Erdbeben oder ein Autounfall. Sie raten uns Älteren, einfach den Augenblick zu genießen. Doch wie schafft man das, wenn man in seiner Umgebung miterlebt, wie solche Augenblicke übergangslos verschwinden, sich einfach auflösen, und uns zurücklassen in der Romantik und Heiterkeit eines Wartezimmers.