Ein Fälscher, der Tausenden das Leben rettete

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Vor ein paar Tagen starb Adolfo Kaminsky, geboren 1925 in Buenos Aires, Argentinien, dessen perfekte Fälschungen viele jüdische Kinder vor dem Tod in den Konzentrationslagern bewahrte. Seine Eltern, Salomon und Anna, russische Juden, heirateten 1916 in Paris. Salomon arbeitete für eine jüdisch-marxistische Zeitung. Anna flüchtete vor den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung in Russland nach Paris. Zwei Jahre später, nach der Oktoberrevolution, wurden Sympathisanten der Bolschewiken aus Frankreich ausgewiesen. Die Kaminskys zogen weiter nach Argentinien. Anfang der Dreißigerjahre normalisierten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion, die Familie, inzwischen mit zwei Söhnen, zog zurück nach Frankreich, nach Vire in der Normandie.

Tintenflecken

Adolfo Kaminsky verließ die Schule mit 13 Jahren, half eine Zeitlang seinem Onkel mit einem Obst-und Gemüsestand, bis es ihn langweilte und er eine Stelle in einer Fabrik für Flugzeuginstrumente annahm. 1940 besetzten die deutschen Truppen Frankreich. Jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter wurden entlassen. Adolfo hatte Glück und fand Arbeit in einer chemischen Reinigung, in der auch alte Uniformen, viele noch aus dem Ersten Weltkrieg, für den zivilen Gebrauch gereinigt und geändert wurden. Der Besitzer, ein Chemiker, der ebenfalls seine Stelle verloren hatte, lehrte Adolfo die Geheimnisse des Färbens von Kleidung und der Entfernung der hartnäckigsten Schmutzflecken. Adolfo verbrachte seine Tage mit der Reinigung von Kleidungsstücken, dem Bleichen von Tintenund Öl-und Speiseflecken. Die chemischen Prozesse faszinierten ihn, und er nahm eine zweite Stelle als Assistent eines Chemikers in einer Molkerei an, wo er mit Methylenblau und Milchsäure arbeite, die den Fettgehalt der Butter anzeigen.

Doch die Zeiten wurden nicht einfacher. 1941 verhaftete die SS seine Familie und brachte sie nach Drancy, ein Sammellager in der Nähe von Paris, von wo aus Häftlinge auf verschiedene Konzentrationslager verteilt wurden. Mit ihren argentinischen Pässen konnten die Kaminskys das Lager nach drei Monaten verlassen. Aus Angst, dass die Familie trotz der Pässe wieder verhaftet werden könnte, beschloss Adolfo, Geburtsurkunden und Personalausweise zu fälschen. Mit der in der Reinigung erlernten Technik der Tinten-und Fleckentfernung gelang es ihm, Namen, Orte und Daten in Identitätskarten und Dokumenten zu löschen und zu verändern.

Widerstand

Ein paar Monate später kam Adolfo auf die Idee, dass, wenn Milchsäure den Farbton des Methylenblau neutralisiert wie bei der Herstellung von Butter, auch das "Waterman-Blau" der Tinte gebleicht werden könnte, das für Dokumente und Identitäts-Ausweise verwendet wurde. Kaum 18 Jahre alt, begann er, mit Ausweisen, Lebensmittelmarken, Geburtsurkunden und anderen Dokumenten seiner jüdischen Bekannten zu experimentieren. Typisch jüdische Namen wie Abraham oder Isaac änderte er zu unverdächtigen Vornamen, ebenso die Religion in Geburtsurkunden. Er besorge Taufscheine von bereits Verstorbenen und änderte Daten und Namen.

Während sich Adolfo zu Beginn des Kriegs auf Einzelaktionen konzentrierte, wann immer er um Hilfe gebeten wurde, änderte sich sein Engagement, als seine Mutter im Zug von Paris, wo sie ihren Bruder vor der Verhaftung gewarnt hatte, zurück nach Vire von Soldaten der Wehrmacht ermordet wurde. Er beschloss, sich dem Widerstand anzuschließen.

Zu Beginn versuchte er es mit Sabotage und benutzte Chemikalien, um Stromund Telefonleitungen zu zerstören, bis sein Ruf als Fälscher die Résistance erreichte, die ihn aufforderte, sich ihnen anzuschließen. Unter dem Pseudonym Julien Keller arbeitete er in der "Formation der Sechsten"(La sixième), einer kleinen jüdischen Gruppe, die ein geheimes, unterirdisches Labor in Paris betrieb. Er perfektionierte sein Talent mit der Herstellung von Buchstaben, die er in verschiedene Schreibmaschinen einsetzte, und bearbeitete Papier mit Chemikalien und speziellen Pressen, damit sie älteren, abgegriffenen Dokumenten glichen. Er fotografierte Briefmarken, alte Stempel und Briefköpfe und kopierte sie. Selbst die Wasserzeichen in wichtigen Papieren konnte er reproduzieren.

Résistance

Als Informanten der Résistance erfuhren, dass Bewohner und Bewohnerinnen mehrerer jüdischer Kinderheime in der Normandie im Zuge einer überraschenden Aktion deportiert werden sollten, musste Adolfo in nur drei Tagen 900 Ausweise, Taufscheine, Lebensmittelkarten und Geburtsurkunden fälschen. Die Résistance plante, Wehrmacht und SS mit Störungen und Sabotage so lange abzulenken, bis die Kinder aus den Heimen in Sicherheit waren. Sie wurden in kleinen Gruppen aus den Häusern geschmuggelt, auf Bauernhöfe verteilt, manche über die Grenze in die Schweiz gebracht.

In den drei Tagen schlief Adolfo nur stundenweise und erzählte nach dem Krieg in einem Interview: "In einer Stunde schaffte ich 30 Dokumente, hätte ich eine Stunde länger geschlafen, hätten 30 Kinder sterben müssen -so hielt ich mich wach."

Das Fälscherlabor in Paris wurde eine der wichtigsten Institutionen des Widerstands. Adolfo schulte mehrere Kollegen und Kolleginnen ein, und gemeinsam produzierten sie in manchen Wochen bis zu 500 gefälschte Dokumente. Über das Netzwerk der Partisanen-und Widerstandsgruppen in den verschiedenen Ländern kamen Anfragen nach Paris für Ausweise und Dokumente in den verschiedensten Sprachen. "Wir haben mehr als zehntausend Menschen das Leben gerettet, die meisten von ihnen waren Kinder", sagte er in einem Interview.

Vietnam-Krieg

In seiner Biografie beschrieb Adolfo die Jahre im Widerstand als eine der traurigsten Epoche seines Lebens - trotz der Hilfe, die er geleistet hatte. Dutzende Freunde und Freundinnen, die mit ihm gearbeitet hatten, wurden von der SS verhaftet und ermordet. Die gefährlichste Arbeit sei nicht das Fälschen gewesen, sondern die Zustellung der gefälschten Dokumente. Er selbst sei mehrere Male auf der Straße und in der Metro kontrolliert worden, und es sei reiner Zufall, dass er überlebte. Der Mangel an Schlaf und das Arbeiten bei schlechter Beleuchtung in den Kellergewölben zerstörten seine Augen. Als der Krieg zu Ende ging, konnte er nur mehr auf einem Auge sehen.

Nach der Befreiung von Paris arbeitete Adolfo für die französische Regierung, stellte gefälschte Pässe, Identitätskarten und Dokumente für Agenten und Spione her, die hinter der Front in Deutschland den Alliierten-Armeen Informationen lieferten und durch Sabotage den militärischen Widerstand der Wehrmacht schwächten. In den Jahren nach Ende des Krieges arbeitete er weiter an der Herstellung falscher Papiere und half Flüchtlingen aus den verschiedensten Ländern. Während des Vietnam-Kriegs wandten sich junge Amerikaner an ihn, um der Einberufung zum Militär zu entkommen.

Fotografien

In einem Interview mit der "New York Times" sagte er: "Ich versuchte, Menschenleben zu retten, um einen sinnlosen Tod zu verhindern. Für mich sind alle Menschen gleich, egal, woher sie kommen, woran sie glauben und welche Farbe ihre Haut hat. Überlegenheit oder Minderwertigkeit sind für mich nicht akzeptabel." Die Dokumentation "The Forger" über sein Leben bekam einen Emmy-Award.

In den 70er-Jahren hörte Adolfo mit der Arbeit als Fälscher auf. Er konzentrierte sich auf die Fotografie und wurde mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern des Pariser Alltags bekannt. Seinen Kindern gegenüber verschwieg er lange seine Vergangenheit. 2010 brachte seine Tochter Sarah einen Brief von der Schule nach Hause mit einer Mitteilung über ihre schlechten Noten. Er sollte von den Eltern unterschrieben zurückgebracht werden. Sarah fälschte die Unterschrift ihres Vaters, die Lehrerin erkannte es und lud die Eltern vor. Zurück von der Besprechung mit den Lehrern erklärte Adolfo seiner Tochter, diese Fälschung sei einfach ein Schande, die Buchstaben wären zu klein und der Schriftzug falsch, und er zeigte ihr, wie man eine Unterschrift nachmacht, ohne dass sie erkannt werde.