Die Denunziationsgesellschaft nimmt uns in Geiselhaft

Als wäre die schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht Herausforderung genug, befindet sich die österreichische Innenpolitik, im Besonderen die einst staatstragende ÖVP, in Abwicklung. Corona ist soweit bezwungen, die Jahresbilanz dennoch dunkel gefärbt.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Zum dritten Mal komme ich, der Ressort-Autist, zur Ehre des Jahresschlussworts (eingestandenermaßen wie der Pontius ins Credo, der SPÖ-Abgeordnete Krainer möge mir die religiöse Metaphorik nachsehen). Und was für ein Jahr das war! Dunkel vor Ängsten, die sogar in den Erinnerungen der Zeitzeugen schon halb verblasst waren, so lang schienen sie ausgestanden. Im Dezember 2021 dachten wir noch, die Pandemie werde nie enden, und Schlimmeres als sie könne uns nicht mehr begegnen. Jetzt ist sie -einzige gute Nachricht zwischen Serienhiobsbotschaften -auf dem Weg zur Endemie, wie die ÖVP nach Kurz: Ganz los werden wir sie nicht mehr, aber sie ist nach explosiver Verbreitung jetzt soweit unter Kontrolle.

Wenn im Fall der ÖVP die Kontrolle nur nicht ins Unkontrollierbare ausartet, möchte ich da gegen die Mehrheitsmeinung anmerken. Denn zweifellos ist es amüsant, feisten, machtgemästeten Dorfbonzen und Provinzwoiwoden beim Platzen zuzusehen. Aber denkt eigentlich jemand an die Folgen, wenn die ÖVP auch in den Ländern derart abgewickelt wird wie im Bund? Wenn sie, wie die italienischen Konservativen, überhaupt aus dem politischen Leben verschwindet?

Ich möchte das nicht. Ich werde Erwin Pröll mein Leben lang dafür bewundern, dass er Niederösterreich zur blühenden, in allen Farben schillernden Kulturlandschaft aufgeforstet hat. Johanna Mikl-Leitner macht keine Anstalten, hier barbarische Rückwilderungen vorzunehmen. Die sind hingegen alles andere als auszuschließen, wenn bildungsferne Elemente an Einfluss zulegen. Wen ich damit meine? Nicht notwendig die SPÖ, so bescheiden mir ihre einschlägige Ausstattung zumindest in Niederösterreich auch erscheint. Aber sicher die FPÖ und mit nicht geringerer Sorge die Grünen. Auch bundespolitisch.

Denn an die Welten, die zwischen beiden liegen, glaube ich nicht. Beide misstrauen ihrem Wesen nach der Kunst, der Wissenschaft, dem Fortschritt, kurz: der Zivilisation, weil beide in teils dubiosen Naturideologien wurzeln. Und mögen wir immer den Blut-und-Boden-Kretinismus verachten und die Sorge um die Zukunft der Erde für rechtens befinden: Eine vom walisischen Halbnazi Roger Hallam befehligte Bande vandalisiert mittlerweile in Museen und Konzertsälen. Die Grenzen zwischen den Radaubrüdern mit den Judensternen und den ihnen hinterherwankenden Wollstrumpfstrickern schienen mir schon anno Corona unscharf. Und jetzt? Statt das Wort für die ihm anvertraute Kunst zu ergreifen, war der ressortzuständige Vizekanzler Kogler damit ausgelastet, sich über einen blauen Hinterbänkler zu ereifern, der die Suppenschütter gekränkt hatte.

Das sind nun zugegeben nebensächliche Seitenaspekte aus der beengten Wahrnehmung des Ressort-Autisten. Aber denken wir doch weiter, wohin die konsequente, nicht endende Demontage der ÖVP führt. Demnächst werden sich die Machtverhältnisse innerhalb der Justiz wieder wenden, wenn die Korruptionsstaatsanwaltschaft des Schutzes der grünen Ministerin verlustig geht: Einen Beamtenapparat kann man selbst bei größter Entschlossenheit nicht einfach umfärben, wenn vorher ein Jahrzehnt lang die ÖVP das Kommando geführt hat. Irgendwann wird zudem die ÖVP von Delinquenten entvölkert sein.

Also wird, unter freudiger Mitwirkung der gesamten politischen Konkurrenz, als Nächste die SPÖ ins Visier der Strafbehörden und der parlamentarischen Ausschüsse genommen werden. Dass da nichts zu entdecken wäre, was den schwarzen Verfehlungen ebenbürtig ist, wird selbst der Naivste nicht vermuten. Überwiegend handelt es sich ja um Grauzonendelikte wie parteipolitisch motivierte Postenbesetzungen, umwegrentabel platzierte Inseratenkontigente oder kreativ budgetierte Wahlkampfkosten, die über Jahrzehnte fraktionenübergreifende Folklore waren.

Und schon jetzt sieht man, wohin es steuert: Es geht vorrangig nicht um Wahrheitsfindung, sondern um möglichste Schwächung des politischen Mitbewerbers. Die Staatsanwaltschaft spielt da eine nicht weniger beunruhigende Rolle als der Untersuchungsausschuss: Es muss nicht einmal der Anfangsverdacht einer ungesetzlichen Handlung vorliegen, eine anonyme Anzeige genügt, und unter dem Druck einer unqualifizierten Öffentlichkeit werden Existenzen vernichtet. Können Sie noch mitzählen, wie viele Ermittlungen gegen Gernot Blümel schon eingestellt wurden? Selbst Strache, über dessen Abhandenkommen man nur erleichtert sein konnte, hat wohl nichts Strafwürdigeres begangen, als sich in illuminiertem Zustand vor einer fußpflegedefizitären Oligarchennichtendarstellerin gegen die Brust zu trommeln.

Um beide ist mir, wohlgemerkt, so wenig leid wie um Sebastian Kurz (der uns übrigens zunächst nicht übel durch die Pandemie gebracht hat). Aber schon geht es gegen untadelige, fähige, professionelle und zu Recht populäre politische Gestalten, denen ich die Zukunft des Landes gern anvertrauen würde. Soeben wurde bekannt, dass sich die anonymen Anschuldigungen gegen den Vorarlberger Landeshauptmann Wallner in Luft aufgelöst haben. Er hat es klug gemacht und sich aus der Wahrnehmung gezogen, bis seine Schuldlosigkeit erwiesen war. Und hätte Michael Ludwig, ein Beispiel unbeirrbarer politischer Vernunft, warten sollen, bis seinen zwei Millionen Schutzbefohlenen das Licht ausgeht?

Fahren die beiden einst staatstragenden Parteien darin fort, einander bis zur Auslöschung zu beschädigen, so drohen Verhältnisse, die wir gerade in Italien studieren können: Waffenscheinpflichtige politische Desperados, die in Krisenzeiten zudem mehrheitlich sehr weit rechts daheim sind, werden die Macht übernehmen. Oder können Sie den 30 Prozent Zustimmung für Herbert Kickl in den Umfragen mit Gleichmut begegnen?

Wenn die von mir präferierte Große Koalition keine Regierungsmehrheit mehr zusammenbringt, wird es gefährlich. Die Bierpartei wäre da noch die glimpflichste Beschaffungsinstanz. Denn auch vor den prinzipiell zivilisierten NEOS bewahre uns die Vorsehung: Mit ihren Festlegungen gegen die Neutralität, für den NATO-Beitritt und für die Atomkraft logieren sie nach meinem laienhaften Verständnis nahe einer neoliberalen Weltuntergangssekte.

Deshalb erneuere ich die unpopuläre Forderung, die Persönlichkeitsrechte unter strengsten medienrechtlichen Schutz zu stellen und die einschlägige Gesetzgebung auch auf die so genannten sozialen Medien anzuwenden. Wer Details aus Strafverfahren sickern lässt, ist auszuforschen und wegen Amtsmissbrauchs zu belangen. Wer sie, wo auch immer, veröffentlicht, wer Beschimpfungen, Drohungen und Verdächtigungen verbreitet, ist der Strenge des Gesetzes zu unterwerfen.

Mindestens so dringlich wie die Reform der Transparenzgesetzgebung ist somit die des Persönlichkeitsschutzes. Ich sehe keinerlei Legitimation dafür, nicht verfahrensrelevante Details aus der Privatkorrespondenz von Politikern und Journalisten öffentlich zu machen. Es interessiert mich nicht im Geringsten, ob jemand vor Jahren "Riesenoasch" oder "Gsindl" in sein Telefon getippt hat. Ich halte es auch für eine Schande, dass ein direkter Mitbewerber Details aus dem Mail-Verkehr des höchstqualifizierten "Presse"-Chefredakteurs Rainer Nowak publiziert hat. Wem wurde damit geholfen, was aufgedeckt? Sollte Nowak tatsächlich in Nebensätzen Unterstützung für seine Kandidatur als Generaldirektor des ORF erbeten haben, so wäre das maximal den Styria-Verlag angegangen. Dem "Steuerzahler", diesem unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen aller Pauschalisierer und Kampagnisierer, ist jedenfalls kein Schaden erwachsen, die "Presse" hat für ein konservatives Medium bemerkenswert Distanz zur türkisen Macht gehalten, und ob Nowak nicht ein erstklassiger ORF-Generaldirektor geworden wäre, frage ich mich von Woche zu Woche dringlicher. Was endlich den Nachrichtenverkehr des Medienunternehmers Fellner betrifft, so datieren die letzten Kontakte meinerseits vor der Jahrtausendwende, und mein Bedürfnis nach Wiederaufnahme strebt gegen Null. Dass aber der Korruptionsstaatsanwaltschaft erlaubt wird, die gespeicherten Daten uneingeschränkt einzusehen, halte ich für eine indiskutable Aushöhlung des Redaktionsgeheimnisses und den Triumph der Denunziationsgesellschaft über die Grundrechte.

Diese Denunziationsgesellschaft ist aus meiner subjektiven Wahrnehmung der größte Feind überhaupt. Sie ermächtigt das Mittelmaß, sich gegen das Außerordentliche zu erheben, zensiert Kunstwerke, die sie nicht versteht, bespitzelt russische Künstler, belohnt Illoyalität und setzt Qualitätskriterien gegen Wohlverhalten und Anpasslertum ins Hintertreffen. Lernen wir, die Denunzianten wieder zu verachten, wie es früher in jeder Schulklasse selbstverständlich war.