Der Erfinder der "Neuen Normalität"

In den letzten zwölf Monaten wurde sie zu DEM Schlagwort der Corona-Pandemie. Der Mann, der es erdachte, ist der Wiener Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits. Hier erklärt er, was er eigentlich damit meinte - und weshalb ihm der Missbrauch seiner Schöpfung Sorge bereitet.

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Pandemie - Der Erfinder der "Neuen Normalität" © Bild: Ricardo Herrgott
Paul Sailer-Wlasits Am 24. April 1964 in Wien geboren, lebt Paul Sailer-Wlasits als Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist Autor von "Verbalradikalismus"* (2012) und "Minimale Moral"* (2016). Sein jüngstes Buch, "Uneigentlichkeit"*, erschien 2020. Es befasst sich mit dem Leben und Denken im sich vollziehenden dritten Jahrtausend zwischen digitaler Beschleunigung, analogem Stillstand und dem drohenden Vertrauensverlust in Zeiten des Umbruchs.

Herr Sailer-Wlasits, Sie gelten als der Philosoph, der die Begrifflichkeit der "Neuen Normalität" einführte. Wie und in welchem Zusammenhang sind Sie denn darauf gekommen?
Ich arbeitete damals, zwischen 2017 und 2019, also noch weit vor Corona, intensiv an meinem neuen Buch. Meine Annahme war, dass unser Leben zukünftig in einem Zustand des Vagen, in einem uneigentlichen Dazwischen ablaufen wird: Unser gegenwärtiges Leben verläuft ja bereits zwischen rasender Geschwindigkeit und Stillstand, zwischen digitaler Beschleunigung und dem Bestreben, die analoge Orientierung nicht zu verlieren.

Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel: Die sogenannte vierte industrielle Revolution, die digitale Umwälzung der Welt, ist ja bereits angelaufen. In dieser Welt steuern wir auf eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Information zu. Auf autonom lernende Systeme und deren globale Vernetzung praktisch in Echtzeit. Jede elektronische Interaktion, jeder Klick, jedes Like, jedes Suchwort von Milliarden von Menschen wird seit Jahren gespeichert, verarbeitet und analysiert. Menschen machen sich damit freiwillig messbar, ihr Verhalten wird abgebildet und damit statistisch vorhersagbar. Das bedeutet, Menschen werden kontrollierbarer, steuerbarer. Und Individualisten werden als elektronische "Ausreißer" sofort sichtbar. Diese gesamte Veränderungsdynamik führt letztlich zu einer Umformung weltweiter Machtstrukturen. Und aus diesen und zahlreichen weiteren Ansätzen hat sich dann ein Nachdenken über eine neue Ordnung der Welt, eine "Neue Normalität" entwickelt. In diesem Zusammenhang habe ich das "Neue Normal" kritisch an einigen globalen Entwicklungen festgemacht. Denn eine "Neue Normalität" beinhaltet kaum Gutes, sie ist keine schöne, erbauliche, sondern eher eine dystopische Perspektive, das heißt eine Schreckensvision. Daher habe ich diese auch am gefährlichen Populismus der US-Regierung unter Donald Trump festgemacht. Diese Entwicklung drohte immer mehr zu einem weltpolitischen "New Normal" zu werden. Seither habe ich unaufhörlich die Frage gestellt: Wollen wir uns an eine solche "Neue Normalität" gewöhnen?

Was verstanden Sie zunächst selbst darunter, ehe sich der Begriff im Zusammenhang mit Corona verselbstständigte?
Zwei Punkte sind wichtig: Sobald etwas als "normal" bezeichnet wird, spielt sofort die sprachliche Gewalt eine Rolle. Denn damit wird es sehr einfach, jegliche Abweichung von dieser "Normalität" anzuprangern. Das ist bereits der erste Schritt zu ausschließendem und letztendlich zu autoritärem Denken. Der andere Punkt ist einer, den die Philosophie seit der Aufklärung, seit David Hume, eigentlich bereits gelöst hätte: Die sogenannte "Sein-Sollen-Barriere" kann nicht überwunden werden.

Was verstehen Sie darunter?
Verkürzt ausgedrückt bedeutet es, dass Sein und Sollen zwei verschiedene Welten sind. Aus einer deskriptiven, also beschreibenden Feststellung, aus einem festgestellten "Sein", wie beispielsweise der derzeitigen Corona-Krise mit allen ihren Folgewirkungen, kann niemals ein "Sollen", also die Festlegung einer Norm im Sinne von "Gewöhnt euch alle daran!" abgeleitet werden.

© Ricardo Herrgott

Wie ging es dann weiter mit Ihrer "Neuen Normalität"?
Nun, besonders das Echo aus der spanischsprachigen Welt war und ist gewaltig. Von Spanien über Chile bis Mexiko und Bolivien erreichten mich unzählige E-Mails. Dort ist der Diskurs ja ein völlig anderer als hierzulande. Politisch und ethnisch enorm aufgeladen, in Spanien zum Beispiel. Da wird aus der Sicht der Katalanen die "nueva normalidad" als etwas gesehen, das Madrid gegen deren Unabhängigkeit ins Treffen führt. Und genau mit dieser verordneten spanischen "Normalität" können und wollen viele Katalanen keinesfalls leben.

Vor fast exakt einem Jahr wurde der Terminus von der heimischen Politik übernommen, in den Politsprech eingeführt - war das eine freundliche Übernahme, oder sehen Sie in ihr eine Art Missbrauch?
Eher Letzteres, eine sprachliche Umcodierung, das heißt Umwertung. Bei meinen Publikationen zu und Warnungen vor der Hassrede, seit nunmehr 20 Jahren, war es nicht anders als jetzt mit der "Neuen Normalität". Plötzlich gab es wieder Pressekonferenzen und Stellungnahmen, in denen etliche Minister im deutschsprachigen Raum -übrigens fast alle Männer -die Phrase der "Neuen Normalität" einfach so, ohne sie kritisch zu hinterfragen, verwendeten. Weil sie als Schlagwort gut klingt, vermutlich

Das Buch "Uneigentlichkeit" finden Sie hier*

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Gibt es auch im Politsprech eine "neue Normalität"? Hat sich durch die Corona-Pandemie die Sprache unserer Politiker verändert - und wenn ja, wie?
In erster Linie hat sich durch die Präsidentschaft Trumps die Sprache in der Politik geändert. Trump stand ja für verbale Übertretungen am laufenden Band und für ins Monumentale gesteigerte, superlativische Ausdrucksweise. Und wie man sah, ging seine Amtszeit ja auch mit toxischer Sprache zu Ende. Als vierjähriges "Sprachentgleisungskontinuum", an dessen Ende der Sturm auf das Kapitol in Washington stand. Das Problem sind heute die Politiker und Politikerinnen weltweit. Sie alle hatten vier Jahre lang Zeit, zuzusehen, genau auf das Politlabor der Trump-USA zu schauen. Sie konnten beobachten, wie man Grenzbereiche der Politik brachial erweitert, national und international. Wie man die eigenen staatlichen Institutionen attackieren und diffamieren kann, ohne dabei an Zustimmung in der Bevölkerung zu verlieren. All jene Politiker, die eine kleine autoritäre Schlagseite in ihrem Charakter haben, wissen jetzt, wie unendlich weit sie die demokratischen Gefüge überdehnen können. Das ist für die politische Kultur eine Katastrophe.

Was konkret machte diese "Katastrophe" mit der politischen Kultur in Österreich?
Politische Inhalte wurden ohne Rücksicht auf Verluste noch stärker dem rhetorischen Effekt unterworfen. Dabei war nicht die Überzeugung der Menschen das Ziel, sondern deren Überredung. Und für das Gewinnen von Mehrheiten benötigt man keine Wahrheit, sondern nur das Für-wahr-Halten vonseiten der Wählerinnen und Wähler. Das geschickte Glaubenerwecken, der illusionäre Wohlgefallen reichen völlig. Deshalb tritt in der heutigen politischen Sprache immer öfter die Leerformel an die Stelle des Inhalts. Das bringt, mit Platon gesprochen, nur "Glauben ohne Wissen" hervor. Das wirklich Schockierende ist jedoch, dass quer durch das gesamte Parteienspektrum Österreichs dieser kommunikative Vulgär-Eintopf funktioniert. Die hierzulande öffentlich praktizierte Inhaltlosigkeit dürfte eigentlich gar nicht von so großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden.

© Ricardo Herrgott

Gehen also zu viele Menschen den politischen Sonntagsreden von Kurz bis Kickl auf den Leim?
Viele der österreichischen Spitzenpolitiker und Spitzenpolitikerinnen lassen immer wieder durchklingen, dass ihnen Differenziertheit nicht allzu wichtig ist. Dass ihnen eine breite gesellschaftspolitische Diskussion kein wirkliches Anliegen, sondern eher lästig ist. Und dieses politische Denken und Handeln wird in Krisen, wie derzeit, noch um eine Stufe rigider. Die Flexibilität nimmt ab und in der politischen Sprache nimmt der appellative Tonfall zu. Der Appell zählt aber zum autoritären politischen Sprachrepertoire. Das Appellative an sich zählt ja zum Kernbestand der totalitären Sprache, etwa in Diktaturen, Monarchien oder Militärregierungen. Diese verbale Grenzlinie niemals zu überschreiten, wäre wichtig. Denn das darf kein Teil unserer "Neuen Normalität" werden.

Was verlangt man von uns Bürgern, indem man uns auf eine "Neue Normalität" einschwört, und ist uns das ganz grundsätzlich zumutbar?
Zumutbar vielleicht, aber ich denke, dass in Zukunft die Limits höher werden. Damit meine ich alle Limits. Es wird härter, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Barrieren zu überspringen. Immer mehr Menschen werden die Kriterien nicht mehr erbringen können, werden keinen Access, keinen Zugang mehr bekommen. Dringliche Fragen der Ethik werden sich stellen: Es wird zu einer spürbaren vertikalen Segregation, also zu stärkeren Ungleichheiten im Wohlstandsgefälle kommen. Auch die Zugänge zur Bildung werden schwieriger. Die Arbeitswelt wird sich gleichfalls dramatisch verändern, nachdem Corona vom akuten Ausnahmezustand zu einem unangenehmen, aber beherrschbaren Dauerzustand geworden sein wird. Dann wird die globale Wirtschaft aber schon längst reagiert haben.

Inwiefern?
Indem viele der jetzt gemachten Erfahrungen wie "Homeoffice" und "Remote Work" als "Neue Normalität" künftig von Unternehmen verordnet werden. Weltweit. Das bedeutet, dass in bestimmten Sektoren der globalen Wirtschaft große Teile der Arbeitnehmerschaft, wir sprechen über Hunderte Millionen weltweit, vermutlich nie wieder in die Büros zurückkehren werden. Das kann schwerwiegende soziale Verwerfungen nach sich ziehen. Eine Zweiklassengesellschaftsamt Konkurrenzdenken zwischen jenen, die tatsächlich "Face Time", also sozialen Umgang miteinander in ihren Teams und auch mit ihren Vorgesetzten haben, und jenen, die "nur virtuell" dabei sind.

Interessant. Dabei ergibt eine aktuelle Studie des Arbeitsministeriums, wie produktiv und angenehm Homeoffice denn nicht sei.
Ja, schon, nur der Arbeitsminister ist neu im Amt, und auch Homeoffice hat einen gewissen Neuheitswert. Und solche Studien sollen natürlich auch zur guten Stimmung beitragen. Denn die Katastrophe auf dem Arbeitsmarkt kommt ja vermutlich erst, nachdem die staatlichen Hilfen weitgehendausgelaufen sein werden. Es wäre wünschenswert, wenn Österreich nur mit einem blauen Auge davonkäme. Aber die internationalen Trends und Studien, von Deutschland bis zu den Vereinigten Staaten, insbesondere auch zu Homeoffice, sehen etwas anders aus: Informationsflut, drastisch erhöhter Termin und Leistungsdruck, schleichende Verlängerungen der Arbeitszeit sind da sehr wohl Themen. Lassen Sie uns nicht vergessen, dass es das primäre Ziel von Unternehmen ist, Gewinne zu machen und nicht vorrangig die Work Life Balance ihrer Mitarbeiter zu verbessern.

Ihr Resümee?
Die digitale Exklusion, die Ausgrenzung, das digitale Ausgeschlossen werden, vollzieht sich lautlos. Gerade das macht die "Neue Normalität" ja so gefährlich. Nur wenige Menschenwerden der kommenden Entindividualisierung entgehen.

Das Interview erschien ursprünglich im News der Ausgabe 11/2021.