Carmen Possnig: "Ich wünsche
mich in die Antarktis zurück"

Die österreichische Medizinerin Carmen Possnig hat ein Jahr in der Antarktis verbracht. Sie erzählt über die Schönheit von minus 80 Grad und ewiger Finsternis. Und über einen bedrohten Kontinent.

von Eiskalte Erfahrung - Carmen Possnig: "Ich wünsche
mich in die Antarktis zurück" © Bild: Matt Observe

Wir haben die ersten Hitzewellen hinter uns. Manche haben sich wohl auf den Südpol gewünscht. Zu Recht?
Dort ist es gerade Midwinter, es hat um die minus 80 Grad, und es ist tiefste Polarnacht.

»Es ist ein bisserl wie auf einem fremden Planeten«

Wie überlebt man da?
Es ist ein bissel wie auf einem fremden Planeten. Man braucht eine Viertelstunde, bis man angezogen ist, um die Station zu verlassen. Es gibt spezielle Anzüge, dann braucht man zwei Hauben, eine Skibrille. Beim Ausgang hängt ein Spiegel, wo man schauen kann, dass kein Stückchen Haut rausschaut, denn die würde sofort erfrieren. Mit Wind hat es manchmal minus hundert Grad.

Wie oft gab es Erfrierungen?
Täglich. Bei einem hat die Maske nicht gut gepasst, der hatte den ganzen Winter leichte Erfrierungen im Gesicht. Auch die Finger: Pianistin werde ich keine mehr. Die Sensibilität in den Fingern ist nicht mehr so toll.

Was hat Sie in die Antarktis verschlagen?
Ich wollte dort hin, seit ich als Jugendliche das Tagebuch von Robert Falcon Scott gelesen habe. Mich hat fasziniert, dass sie als letzte Wildnis der Erde gepriesen wird, als letzter weißer Fleck auf der Landkarte. Dazu kommt, dass es bei diesem Einsatz für die ESA um Weltraummedizin gegangen ist und um Forschung für zukünftige Weltraummissionen.

Wie schafft man es auf die Teilnehmerliste?
Ein paar Monate vor Ende meiner Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin habe ich die Stellenausschreibung gefunden und mir gedacht, das probiere ich. Die besten vier sind dann zu einem Interview nach Paris geholt worden. Dort gab es umfangreiche Gesundenuntersuchungen und sehr viele psychologische Tests, weil das der wichtigste Teil ist: dass man geeignet ist für so eine Umgebung, weil sonst sehr viel sehr schnell schief gehen kann.

Ihr Auftrag war?
Ich habe für verschiedene Unis medizinische Tests durchgeführt: Blutabnahmen, Haarproben, Stuhlproben, Urin, Speichel. Einmal im Monat von jedem und von mir. Meine Kollegen haben einmal im Monat in einer Sojus-Kapsel trainiert, es gab kognitive Tests und Feinmotoriktests. Ich habe geschaut, wie sich während der Isolation Kompetenzen verändern. Einfach, um zu sehen, ob Astronauten, wenn sie monatelang zum Mars fliegen, das Raumschiff überhaupt sicher landen können, wie oft sie trainieren müssen, damit das klappt. Es war spannend, wie die Kompetenzen über den Winter gesunken sind.

»Schwierig waren Phasen, wo es in der Gruppe Spannungen und Konflikte gab.«

Ein Jahr in Eis und Finsternis macht uns ungeschickter, auch dümmer?
Doch, man wird auch dümmer. Es gibt das Winter-over Syndrome: Schlaflosigkeit, manche werden aggressiv, depressiv, reizbar, Stimmungsschwankungen. Und es geht auch die Gedächtnisleistung runter, das Erinnerungsvermögen, das schnelle Denken. Das ist interessant, zu beobachten, auch an sich selbst. Das sind die Auswirkungen der sensorischen Deprivation. Man hat immer die gleiche Landschaft, es riecht nichts, es schmeckt alles ähnlich. In der Station Concordia gibt es noch das Problem, dass sie etwa 3.300 Meter hoch liegt, weil die Atmosphäre dünner ist, wirkt es wie 4.000 Meter bei uns. Man hat nur 60 Prozent Sauerstoffgehalt, niedrigen Luftdruck und extrem trockene Luft. Das ist für Psyche und Körper belastend.

Was war am Schlimmsten?
Die Schlaflosigkeit. Ich war zwar eine von denen, die damit besser umgehen konnten, und hab acht Stunden Schlaf geschafft, aber man fühlt sich nie ausgeschlafen, weil die Tiefschlafphasen verkürzt oder gar nicht vorhanden sind. Es ist kein erholsamer Schlaf. Wenn man über ein Jahr Schlafmangel ansammelt, ist das ziemlich anstrengend. Aber man merkt das erst, wenn man wieder zurück ist und den ganzen Tag schlafen könnte. Und auch, wenn es insgesamt toll war: Schwierig waren Phasen, wo es in der Gruppe Spannungen und Konflikte gab.

Wie ist das, wenn 13 Menschen isoliert sind?
Es ist nicht jeder gleich gut geeignet für die Situation. Trotz aller Tests kann man nicht voraussagen, wie die Leute reagieren, wenn sie dort sind. Und wenn man einmal dort ist, kann man ja nicht mehr weg.

Die Station ist in Notfällen unerreichbar?
Von Anfang Februar, wenn das letzte Flugzeug abfliegt, bis November gibt es keine Möglichkeit. Weil es zu hoch, zu kalt, zu dunkel, zu windig ist, um zu landen.

Wer krank wird, hat Pech?
Wir hatten einen Notarzt da, ich war ja mehr für die Forschung zuständig -aber Herzinfarkt oder Blinddarmdurchbruch, da hätten wir gemeinsam etwas getan. Es gibt in Concordia einen gut ausgestatteten Krankenflügel mit OP und Zahnarztstuhl.

Ist der gebraucht worden?
Wenn es Notfälle gab, dann Zahngeschichten. War interessant, das einmal auszuprobieren, aber da würde ich nicht der Patient sein wollen.

Was war das Faszinierendste dieser 13 Monate?
Sicher die lange Dunkelheit. Ich hab das extrem schön gefunden. Von Anfang Mai bis Mitte August kommt die Sonne gar nicht über den Horizont. Am Anfang gibt es noch interessante Lichtverhältnisse, ein Flammenmeer am Horizont, pink und violett, fast kitschig und jeden Tag anders. Aber ab Ende Mai ist es zu Mittag stockfinster. Weil die Atmosphäre so dünn ist und die Luft so trocken, sieht man extrem viele Sterne, die Milchstraße riesig am Himmel, ständig Sternschnuppen, eine Aurora im Hintergrund, Galaxien und Nebel mit bloßem Auge. Wenn man da draußen spaziert, ist das ein tolles Gefühl.

Man spaziert bei minus 80 Grad?
Freiwillig spaziert man eh nicht sehr lang. Manche Kollegen mussten täglich zu Außenlabors, eines war vielleicht einen Kilometer entfernt. Da braucht man 20 Minuten, weil es doch sehr anstrengend ist, und das reicht dann auch.

Was lernt man da über sich?
Sehr viel, mehr als man wollte. Man lernt die eigenen Stärken kennen, aber auch die Schwächen, an denen man arbeiten kann. Und man lernt sehr viel über Konfliktbewältigung und -vermeidung. Wenn man ein Problem mit jemandem hat, muss man es sofort lösen. Man kann den Leuten ja nicht aus den Weg gehen. Man ist zwar isoliert, aber nie allein.

Wie vergeht die Zeit in Isolation: langsam, schnell?
Für mich ist sie schnell vergangen. Andere haben sich beklagt, dass die lange Dunkelheit extrem langsam vergeht. Besonders schwierig ist es zu Midwinter, weil die Leute merken, dass erst die Hälfte vorbei ist, es dauert noch so lange, und alle sind schon müde.

Man muss sich mit sich selbst beschäftigen können?
Man muss ein gescheites Hobby mitbringen, sich mit sich selbst beschäftigen können und trotzdem sozial kompatibel sein. Und man braucht Frustrationstoleranz, weil Erfolgserlebnisse oft ausbleiben.

»Flirtet man nicht, heißt es, man sei kalt. Flirtet man, ist man die Bitch.«

Welches Hobby bringt man in die Antarktis mit?
Ich hab ein elektrisches Piano mitgehabt. Außerdem hatten wir ein Fitnesscenter, da waren wir oft, was auch nötig ist, weil man sich sonst wenig bewegt. Und wir hatte ein Gemeinschaftsprojekt: eine Kletterwand, für die wir die Griffe mitgenommen haben und die wir gebaut haben. Außerdem hat jeden Samstag einer von uns gekocht, damit der Koch frei hat, das waren Themenabende mit Verkleidung und wochenlangen Vorbereitungen.

Elf Männer, zwei Frauen, 13 Monate isoliert. Finden sich da Paare, gibt es Eifersucht?
Auf jeden Fall. Das beginnt in den Sommermonaten, wenn 80 Leute da sind und sieben Frauen. Antarktisstationen sind bekannt dafür, dass sich die Leute sehr schnell sehr nahe kommen. Frauen sind rar und extrem begehrt. Das kann zu Machtspielchen führen. Eifersüchteleien gibt es sowieso, weil man als Frau ständig unter Beobachtung steht. Redet man mit dem mehr oder mit dem, bringt dir jemand Kaffee, wird das beäugt. Das war schon anstrengend. Flirtet man nicht, heißt es, man sei kalt. Flirtet man, ist man die Bitch.

Eine Antarktisstation ist kein Ort für eine Metoo-Debatte?
Nein. Man darf sich halt nichts gefallen lassen, auch wenn es Menschen gibt, die in der Wildnis das Gefühl haben, das sei eine gesetzlose Zone, wo man machen kann, was man will.

Zurück zur Aufgabe: Vorbereitung auf eine Marsmission oder auch für längere Aufenthalte im All?
Es geht eher um Langzeitflüge, zum Mars zum Beispiel, aber auch um Stationen auf dem Mars oder Mond. Dafür ist Concordia das beste Analogon: reale Isolation, eine kleine Crew, ähnliche Lichtverhältnisse. Wir haben geforscht, wie sich das auf das Immunsystem auswirkt. Die Umgebung ist relativ steril, was tun die Immunzellen, wenn sie keinen Impuls haben? Wenn sie nicht gefordert werden, fährt das System runter. Das sieht man auch daran, dass, wenn im November neue Leute kommen, die Wintercrew krank wird, weil das Immunsystem völlig überreagiert auf Viren, die sonst gar nichts machen würden.

Es gibt die Idee, dass Menschen ins All ausweichen, wenn das Klima gekippt ist. Wäre das überhaupt schaffbar?
Wenn normale Menschen einmal ausweichen müssten, hätten sie ohnehin keine Wahl mehr, weil wir die Erde erfolgreich zerstört hätten. Aber ich würde das sonst nur gut ausgewählten Personen zutrauen. Man sieht ja schon in einer kleinen Gruppe: Wenn nur einer dabei ist, der das nicht gut aushält, kann die ganze Gruppe kippen. Und es ist meistens mehr als einer dabei, der so ist.

»Tourismus ist keine gute Idee, weil eine unkontaminierte Wildnis schwer zu erhalten ist.«

Die Pole sind unser Klimakühlschrank. Ist der intakt?
Wo ich war, im Landesinneren, merkt man noch nicht viel vom Klimawandel. Aber es gab in Concordia EPICA-Eiskernbohrungen, um die Klimageschichte zu rekonstruieren. Aus den Bohrkernen bis in 3.000 Meter Tiefe kann man schließen, wie das Klima in den letzten 800.000 Jahren war, und da sieht man eindrucksvoll, wie die Belastung in den letzten 70, 80 Jahren nach oben geht. In einem neuen Bohrprojekt will man sogar 1,5 Millionen Jahre in die Vergangenheit schauen.

Ist die Antarktis in Gefahr?
Sie schmilzt ja schon. Eisberge auf der westantarktischen Halbinsel brechen weg, dadurch reicht das Packeis weiter hinaus, Pinguine kommen nicht mehr zu ihren Nahrungsquellen. Jungtiere sterben. Eine Gefahr für die Antarktis ist zudem, dass Länder aus dem antarktischen Vertrag aussteigen wollen, der sagt, dass hier Niemandsland ist, das man nicht ausbeutet. Nun will Russland nach Bodenschätzen suchen, weil die Küsten länger eisfrei sind.

Es kommen Touristen zum Südpol. Ist das eine Gefahr?
Manche Forscher sagen, dass diese Touristen an Schuhen und Gewand Mikroben mitbringen, die die Flora dort zerstören. Insofern ist Tourismus keine gute Idee, weil eine unkontaminierte Wildnis schwer zu erhalten ist.

Würden Sie gerne zurück in die Antarktis?
Ich wünsche mich zurück. Man muss dort nicht an so viele Dinge denken, kann sich voll auf das konzentrieren, was man zu tun hat, wird nicht durch Anrufe oder SMS unterbrochen. Es braucht sehr lang, bis man sich wieder an die Zivilisation gewöhnt. Ich vermisse es und beneide die, die jetzt dort sind.

ZUR PERSON: Carmen Possnig 1988 in Klagenfurt geboren, Medizinstudium an der MedUni Graz, Turnus (Ausbildung zum Allgemeinmediziner) in Wien beim KAV. Von November 2017 bis Dezember 2018 Forschungsaufenthalt für die Europäische Weltraumorganisation ESA in der französische-italienischen Forschungsstation Condordia in der Antarktis. Blog: www.durchdieantarktischenacht.com.