"Die Germanen
werden alt ausschauen"

Sein Vater wurde von den Nazis ermordet, jetzt muss Arik Brauer wieder Judenhass von mehreren Seiten sehen: von germanischer wie von islamistischer. Als Zeitzeuge entfesselt er Debatten. In dieser Situation erzählt er für ein selbst illustriertes Buch das Alte Testament neu

von Zeitzeuge - "Die Germanen
werden alt ausschauen" © Bild: News/Matt Observe

Herr Brauer, haben Sie im Alten Testament eine Lieblingsgestalt?
Nein. Da kommen ja nur Verbrecher vor! Einerseits sind das Wortlawinen von grandioser literarischer Qualität: ein Jahrtausendkunstwerk, auf dem in hohem Maße unsere Zivilisation beruht, übertragen dann durch das Neue Testament. Aber was da drinnensteht, wissen nicht einmal diejenigen, die es in Israel in der Schule lernen. Denn das Große am Alten Testament ist, dass es ohne Rücksicht auf das eigene Image schildert, wer wir sind: nämlich gut und böse, hell und dunkel. Was nach dem Leben sein wird, erfährt man im Alten Testament nicht. Was vor dem Urknall war, auch nicht. Aber wer wir Menschen sind, das steht alles drin, und darum liest es keiner gern.

Inwiefern kommen da nur Verbrecher vor?
Es gibt dort keinen reinen Menschen, nicht einmal Moses ist sündenfrei. Er darf nicht ins Heilige Land hinein, weil er beladen ist. König David darf nicht den Tempel bauen, weil er Blut auf den Händen hat.

Das darf aber Salomon. Ist der eine Lichtgestalt?
Nein, ein Schlitzohr, ein Schwerverbrecher. David beauftragt ihn vor seinem Tod mit einer Liste, wer aller umzubringen ist, weil er selbst es aus ethischen Gründen nicht wollte. Salomon hat da keine Bedenken, und weil er schon dabei ist, bringt er auch gleich seinen Bruder um, der als Älterer eigentlich König sein sollte.

Sind Sie selbst gläubig?
Nein. Ich wurde zwar gläubig erzogen, aber seit ich bewusst denken kann, bin ich ein begeisterter Agnostiker. Ich bin Mitglied der jüdischen Gemeinde, aber aus Folklore.

© News/Matt Observe Adolf Hitler als Trommel (Skulptur Mitte): dem Bösen eins drübergeben

Hatten Sie nie den Eindruck, dass die helle Seite gegen die dunkle auf längere Sicht keine Chance hat?
Es muss wohl eine Balance geben, sonst würde das Ganze nicht mehr existieren. Aber dass die dunkle die vitalere ist, das bedarf keines Beweises.

Jetzt scheint sie wieder Konjunktur zu haben. Hätten Sie vermutet, dass es noch mitten in unserer Gesellschaft junge Nazis gibt, die davon singen, dass man statt sechs lieber sieben Millionen hätte umbringen sollen? Hätte man nicht gedacht, ein Nazi heute wäre ein vermoderter Waffen-SSler?
Ich glaube, das ist auch so. Die anderen sind eine Minderheit, deren Gedankengut sich zwar erstaunlich zäh weitervererbt, die aber keine Vitalität hat. Ich habe den geistigen Sturm des Nazi-Faschismus erlebt. Wer nicht dabei war, kann sich gar nicht vorstellen, was eine Massenekstase ausmacht. Das kommt nicht wieder. Und was die "siebte Million" betrifft: Als Österreicher sage ich, dass das abstoßend und schädlich ist - für den Fremdenverkehr, für das Image, für alles, und dass diese Reime sehr holprig sind, wie ja die Rechtsradikalen schon immer ein Problem mit der deutschen Sprache hatten. Aber als Jude ist mir das ziemlich wurscht.

»Unter den sechs Millionen war mein Vater, und die siebente, das bin ich«

Warum?
Die Strophe mit der siebenten Million beinhaltet ja immerhin das Einbekenntnis, dass vorher sechs Millionen vergast wurden, was ja von diesen Leuten immer bestritten wurde. Und, ja, unter den sechs Millionen war mein Vater, und die siebente Million, das bin ich mit meinen Nachkommen. Aber da werden die alten Germanen alt ausschauen. Seife werden die Herren aus uns nicht mehr machen. Es gibt ja einen jüdischen Staat, zugegeben: mit allen Problemen. Alle meine Nachkommen haben in der israelischen Armee gedient - sicher nicht gern. Aber so hilflos, wie mein Vater nackt ins Gas gegangen ist, wird es uns nicht mehr passieren. Ja, und ich weiß schon, es gibt eine Viertelmilliarde Araber, die uns auf dem Grund vom Mittelmeer sehen wollen.

Nicht wenige von ihnen sind jetzt auch in Europa. Als Sie das in der ORF-Sendung "Im Zentrum" thematisiert haben, war die Aufregung beträchtlich.
Ja, die Einwanderung von fast ausschließlich Moslems ist ein Problem. Das ist eine starke Religion, die nichts vergessen hat.

Und was tun? Die Leute aussperren?
Selbst wenn man weiß, dass man sich damit schadet, muss man helfen, wem zu helfen ist. Aber man muss Menschen, die in Gefahr sind, von den Wirtschaftsflüchtlingen auseinanderhalten. Was helfen wir denn den afrikanischen und arabischen Völkern, wenn die jungen, gesunden Leute davonrennen und hier Probleme schaffen - oder auch nicht -, und daheim bleiben alte Frauen und Kinder ohne Eltern?

Wie haben Sie denn im März 1938 den Einmarschtag erlebt?
Es wurde lang vergessen, dass es vorher eine breite Demonstrationsbewegung gegen die Nazis gab. Ich war zehn Jahre alt, in der vierten Klasse Volksschule, und wir Schulbuben wurden von katholischen Organisationen zur Demonstration abgeholt. Es wurden auch die Parolen auf die Straßen geschrieben, die dann später von den Juden weggeputzt werden mussten, auch von mir. Wir haben täglich vor Unterrichtsbeginn ein Dollfuß-Lied gesungen. Aber einen Tag nach dem Einmarsch haben wir die Nazi-Lieder gesungen. Es war unheimlich: Alles war von den Illegalen perfekt vorbereitet, jedes Kind hatte die Nazi-Uniform mit den weißen Strümpfen, überall waren die Fahnen, die vorher verboten waren.

Sie mussten diese Lieder auch singen?
Nein, ich musste mit dem Gesicht zur Wand stehen. Wir hatten einen illegalen Nazi als Lehrer, und ich war sein Lieblingsschüler, weil ich so gut im Sport und im Volksliedersingen war. Dann hat sich herausgestellt, dass ich ein "Jud" war, und das hat er mir nicht verziehen, das war gegen sein Weltbild. Das Erste, was passiert ist, hat mich noch furchtbar getroffen. Ich hatte einen Wettlauf rund um den Märzpark im 15. Bezirk gewonnen, und ich wurde nachträglich disqualifiziert.

Wie war das möglich?
Es ging gar nicht anders, denn der erste Preis war ein Führer-Bild im Rahmen. Ich war wegen jüdischer Unfairness ausgeschlossen worden, und das hat mich sehr getroffen, weil mich meine Eltern in eine Welt der Gerechtigkeit erzogen hatten. Später habe ich mich darauf eingerichtet, dass ich ein Verfolgter bin und den Stern tragen muss. Dass ich nicht jüdisch ausgesehen habe und wie ein Ottakringer Gassenbub geredet habe, hat mich mehrmals gerettet.

© News/Matt Observe Der Villa an der Wiener Peripherie ist ein Museum mit Werken des bedeutenden Malers angeschlossen

Wie haben Sie überlebt?
Wir sind schon auf den Koffern gesessen, aber alle Versuche, nach Amerika oder Argentinien auszureisen, sind gescheitert, die paar Ersparnisse waren ja konfisziert. Der Einzige, der es geschafft hat, war mein Vater, der aus Riga zugewandert war und dann dorthin zurückgeflüchtet ist. Dort haben ihn die Nazis ins Lager verschleppt und 1944 umgebracht. Wir in Wien hingegen sind im Vergleich zu anderen Juden auf die Butterseite gefallen.

Wie konnte Ihre Familie in Wien überleben?
Wir waren eine Mischlingsfamilie und daher etwas geschützt. Ich selbst habe in der Kultusgemeinde als Tischler gearbeitet - wir haben dort grandiose Zimmereinrichtungen für die SS-Bonzen gemacht. Man muss wissen, dass die Nazis bis zum Schluss fast alle jüdischen Einrichtungen aufrechterhalten haben, auch als fast keine Juden mehr da waren. Denn sonst hätte den Herrschaften vom Judenreferat womöglich die Front gedroht. Das wollten sie verhindern, und dazu haben sie uns gebraucht. Erst ganz zum Schluss war ich ausgehoben, wie man das nannte. Das heißt, ich war zum Abtransport bestimmt. Da habe ich mich bei einem nichtjüdischen Verwandten im Schrebergarten versteckt.

Und dann, als es vorbei war?
Bin ich sofort, mit 16, an die Akademie gegangen. Obwohl ich keine Matura hatte, wurde ich aufgenommen, ebenso Ernst Fuchs.

»Ich habe gelernt, dass man jeden Menschen als ganze Welt sehen muss«

Der gleitende Übergang hat Sie nicht zurückgestoßen?
Ich habe in meinem Leben gelernt, dass man jeden Menschen als eine ganze Welt in sich betrachten muss, so, wie es im Alten Testament steht. Mich haben Nichtjuden gerettet, und ich hätte nicht mit mir selbst im Frieden leben können, wenn ich solche Pakete geschnürt hätte: die Deutschen, die Juden, die Araber ... Klischeebilder vereinfachen das Leben, aber ich kann mit ihnen nichts anfangen.

Sie haben ein Haus in Israel. Resignieren Sie nicht angesichts der Situation?
Die Übersiedlung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem wird noch mehr Probleme bringen. Aber ich sehe sie nicht so dramatisch, weil es, solange ich lebe, für das Problem ohnehin keine Lösung geben wird. Die Zweistaatenlösung war immer eine Illusion.

Was soll man da also tun?
Wenn ich ein Araber wäre, würde ich auch nicht anders reagieren als die anderen. Sie wollen dieses Land einfach nicht sehen. Ich habe gehört, wie auf dem Heldenplatz 100.000 Österreicher "Juda verrecke" geschrien haben. Das hören Sie heute, nur auf Arabisch, an jeder Ecke, nicht nur im Gazastreifen, auch in Ägypten, wo ein israelischer Botschafter sitzt. Trotzdem habe ich Hoffnung für spätere Generationen, so, wie sich Europa irgendwann aus dem Mittelalter herausgekämpft hat. Nur wird vorher noch einiges passieren. Das Gute ist, dass ich es nicht mehr erleben werde.

Nun werden Sie bald neunzig, so wie schon Hugo Portisch, Lotte Tobisch, Gustav Peichl. Woran liegt es, dass sich diese Generation solche Kraft bis ins Alter bewahrt hat? Etwa daran, dass sie keine Gelegenheit hatte, im Nazi-Reich schuldig zu werden?
Genau das ist der Punkt. Die Generation, die Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat, ist gerade diejenige, die noch nicht beim Militär war. Die zwar bewusst alles erlebt hat, aber noch nicht daran zerbrochen ist. Fast alle bedeutenden Maler dieser Zeit sind innerhalb von zwei Jahren geboren worden, nicht nur die Wiener Schule des Phantastischen Realismus. Auch Rainer, Mikl, Prachensky, Hundertwasser. Wir waren zu gleicher Zeit Studenten, dann Professoren, und die meisten sind auch zur gleichen Zeit gestorben.

Wir sollten noch das Jahr 1968 streifen.
Damals war ich gerade in Paris. Ich habe dort sieben Jahre gelebt und war gut eingewurzelt.

Die Rebellion ist aber glorios gescheitert, nicht? Die Linke ist ja in keinem berauschenden Zustand.
Das ist nichts Neues. Alle Revolutionen gehen zuerst einmal in die Hose. Es beginnt mit Idealisten, und dann setzen sich die Stalins durch. Das war schon bei der Französischen Revolution so. Und die Linke jetzt? Die Achtundsechzigerrevolution hat doch Enormes bewirkt, denken wir an die Strafrechtsreform unter Kreisky, den Umgang mit der Homosexualität, der Sexualität überhaupt in einem Land, in dem Ehestörung noch in den Sechzigerjahren ein Straftatbestand war. Man stelle sich vor: Du bumst deine Nachbarin und gehst in den Häfen!

Das, was hier verspätet als Achtundsechzigerjahr stattgefunden hat, haben Sie mit Ihren Liedern doch bedeutend mitgestaltet. Waren das aus Ihrer Sicht politische Lieder?
Ja, natürlich. Ich habe die Texte schon vor 1968 in Frankreich geschrieben, und es ging um das Weiterwirken des Nazi-Faschismus. Damals gab es schon den wenig bekannten Bob Dylan, und H. C. Artmann hat mich ermutigt, sie auch zu vertonen. So habe ich, ohne es zu wissen, sozusagen den Austropop erfunden.

»Ich habe entschieden, dass ich gegen den Mainstream leben werde«

Dann kommen wir endlich auf die Kunst. Eine Zeit lang waren Sie und Ihre Kollegen als Gegenständliche quasi geächtet, nicht?
Ja, und ich habe es auch verstanden. In Österreich hatte es die siebenjährige Kulturpause gegeben, und dann kam endlich die Moderne, die Abstraktion, und wir mit unserer altmeisterlichen Technik wurden als bremsend empfunden. Aber ich habe entschieden, dass ich gegen den Mainstream leben werde, und habe auch bald erkannt, dass das andere an seine Grenzen stößt und dass es für meine Art Malerei immer ein Publikum geben wird. Es sind nach wie vor genug Leute beim Anblick meiner Bilder fasziniert genug, dass sie in den Sack greifen und ziemlich hohe Summen auslegen. Diese Villa hier habe ich ja nicht geerbt. Die habe ich ermalt.

Ist die Kunst also auf einem Irrweg?
Ein Begabter kann mit allem Kunst machen, der muss nicht unbedingt malen. Das Problem der sogenannten Moderne ist allerdings, dass es um das Konzept geht, um das Besetzen von Positionen. Es geht also um Gedankengänge, eine geistige Leistung, kein Endresultat. Ich würde mich freuen, wenn sich diese geistigen Leistungen dort abspielten, wo sie hingehören: nämlich in der Wissenschaft, statt sich im Windschatten der bildenden Kunst zu verstecken. Denn dass das auch eine Armee von Witzbolden anlocken muss, ist klar: Du hast ein Konzept und wirst auf die Biennale geschickt. Dort legst du Krauthappeln auf und desavouierst damit diejenigen, die wirklich ein Konzept haben.

© Amalthea

Das Buch
Voller Witz und doch an die letzten - bzw. die ersten - Dinge rührend: "Das Alte Testament, erzählt von Arik Brauer", mit 60 Bleistiftzeichnungen. Amalthea, € 25

Arik Brauer

Geboren am 4. Jänner 1929 als Sohn eines zugewanderten jüdischen Flickschusters in Wien-Ottakring. Den Vater ermordeten die Nazis, die "Mischlingsfamilie" überlebte. Mitbegründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, ab den Sechzigerjahren auch ein legendärer Liedermacher ("Hinter meiner, vurder meiner"). Brauer lebt mit seiner Frau in Wien. Drei Töchter: Timna ist Sängerin, Ruth Schauspielerin, Talja ergriff keinen Künstlerberuf.

Dieses Interview ist der Printausgabe von News Nr. 11/2018 erschienen.