Die Endstation für jedes Leben

Was unsere Smartphones mit dem "Eingang zur Hölle" in Afrika zu tun haben

Der giftigsten Ort der Welt ist die Müllhalde Agbogbloshie in Ghana. Warum Menschen dort leben, warum Europa (mit)schuld ist wie es ist, als Weiße dort mit Kameras aufzutauchen, erzählen die Filmemacher Florian Weigensamer und Christian Krönes im News.at-Interview zu ihrer schockierenden wie berührenden Doku "Welcome to Sodom".

von Welcome to Sodom © Bild: Stadtkino Filmverleih

Es ist der giftigste Ort der Welt: „Sodom“ wird die Deponie von Agbogbloshie in Accra, der Hauptstadt von Ghana, genannt. Sie ist die Endstation für Computer, Monitore und anderen illegal eingeführten Elektroschrott aus Europa. Tausende Menschen wühlen dort täglich im Müll und verbrennen alte Kabel, um an Rohstoffe wie Kupfer oder Eisen zu gelangen. Unser Lifestyle-Trend nach immer neuen Elektrogeräten wird für die Menschen in Sodom zum giftigen Alltag. Die österreichischen Filmemacher Florian Weigensamer und Christian Krönes porträtieren in „Welcome to Sodom“ diese Verlierer der digitalen Revolution und zeigen das Leben an diesem „Eingang zur Hölle“.

News.at: Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?
Florian Weigensamer: Wir haben uns schon immer für das Leben an derartigen „Un-Orten“ interessiert, für Menschen, die am untersten Ende unserer sogenannten Wertschöpfungskette leben. Man hätte dieselbe Geschichte auch über andere Produkte, an einem anderen Ort erzählen können - Kleider, unsere Nahrung, jedes unserer täglichen Konsumgüter - sowohl deren Herstellung als auch deren Entsorgung folgen immer demselben Prinzip, dem Prinzip der Ausbeutung. Sicherlich aber sind elektronische Geräte in den vergangenen Jahrzehnten zu dem Lifestyle Produkt schlechthin geworden. Deshalb lag es für uns nahe, diesen Ort, diese Geschichte zu wählen, weil sie eben ganz besonders unseren Zeitgeist trifft.

Welcome to Sodom
© Stadtkino Filmverleih Die Regisseure Christian Krönes (links) und Florian Weigensamer (rechts): "Es hat einige Wochen gedauert, bis die Menschen langsam Vertrauen zu uns fassten."

Wie haben die Menschen dort auf euch – als Weiße mit Kameras – reagiert?
Christian Krönes: Man kann sich natürlich als weißer Europäer, noch dazu mit Kameraequipment, schwer unauffällig unter die Menschen mischen. Die Leute in Sodom sind zwar Journalisten gewöhnt. Doch die meisten bleiben nur wenige Stunden oder Tage. Es ist sehr einfach, an diesem apokalyptischen Ort schnell ein paar sensationsheischende, effektvolle Bilder zu machen. Die Menschen dort finden dann ihre Bilder irgendwo im Internet und fühlen sich benutzt und ausgebeutet. Zurecht. Deshalb ist man auch uns anfangs mit großer Skepsis begegnet. Als die Leute dort aber gesehen haben, dass wir Tag für Tag, jeden Morgen wiederkommen, haben sie sich nach einiger Zeit wohl gefragt: Was wollen diese verrückten Weißen hier eigentlich? Es hat aber einige Wochen gebraucht, bis die Skepsis langsam einer gewissen Neugier gewichen ist, und die Menschen langsam Vertrauen fassten. Dann sind sie sogar von selbst zu uns gekommen und haben uns ihre Geschichten erzählt.

»Man fühlt sich tatsächlich wie am Ende der Welt, wie am Eingang zur Hölle.«

Wie kann man sich das Leben in Agbogbloshie vorstellen?
Florian Weigensamer: Wenn man als Europäer zum ersten Mal nach Agbogbloshie kommt, dann ist man rundum erschlagen - vom Lärm, vom Dreck, vom Rauch, von dem scheinbaren Chaos, das dort herrscht. Es ist ein Ort, der nicht nur Endstation für unsere Elektrogeräte ist, sondern Endstation für jedes Leben. Die Erde ist schwarz und verbrannt, der Fluss ist tot, man kann hier kaum noch von Wasser sprechen, über der ganzen Halde liegen schwere Rauchschwaden und man fühlt sich tatsächlich wie am Ende der Welt, wie am Eingang zur Hölle.

Welcome to Sodom
© Stadtkino Filmverleih

Doch nach einiger Zeit erkennt man, dass das nur unsere Perspektive auf diesen Ort ist, die diesen Eindruck entstehen lässt. Für die Menschen, die dort arbeiten und leben ist es ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Chancen bietet. Und das scheinbare Chaos der Müllhalde entpuppt sich als wohl organisierter Mikrokosmos, in dem jeder seine Aufgabe hat, in dem eine überraschende Ordnung herrscht.

Eigentlich ist der Export dieses Elektroschrotts verboten. Wie gelangt er trotzdem nach Accra?
Christian Krönes: Der Export von Elektroschrott aus Europa ist nach der Baseler Konvention strikt verboten. Die fachgerechte Entsorgung von elektronischen Geräten ist aber sehr teuer. Also werden die Computer, Monitore, Fernseher und Kühlschränke beim Zoll nicht als Schrott, sondern ganz einfach als Gebrauchtgeräte deklariert.

Warum landet der Müll genau dort, wie ist diese Deponie entstanden?
Florian Weigensamer: Der ganze illegale Handel geht absurder Weise auf ein Entwicklungshilfe-Projekt zurück. Anfang der 2000er-Jahre hat man im Zuge eines Hilfsprojekts gebrauchte Computer nach Ghana gebracht, die für Schulen gedacht waren.
Findige Geschäftemacher haben damals erkannt, dass man so ja auch den Müll loswerden könnte, wenn man ihn eben als Gebrauchtgeräte deklariert. Inzwischen ist das zu einem Milliardengeschäft gewachsen, hinter dem natürlich längst mafiöse Strukturen stecken.

»Schätzungen zufolge wird bei uns nicht einmal die Hälfte der ausrangierten Elektrogeräte ordnungsgemäß entsorgt.«

Landet auch österreichischer Schrott dort?
Florian Weigensamer: Man findet dort Schrott aus der gesamten Welt, natürlich auch aus Österreich. Schätzungen zufolge wird bei uns nicht einmal die Hälfte der ausrangierten Elektrogeräte ordnungsgemäß entsorgt. Der ganze Rest landet über diese dunklen Bahnen in Afrika. Dabei ließe sich das ganz einfach vermeiden, sowohl als Konsument, indem man die Geräte ordnungsgemäß entsorgt - was bei uns im Übrigen sogar gratis ist. Auch wäre der Handel eigentlich verpflichtet, alte Geräte kostenfrei zurückzunehmen. Doch das wird den Kunden nur allzu oft so schwierig und aufwändig wie möglich gemacht.

Welcome to Sodom
© Stadtkino Filmverleih Auch österreichische Monitore und Computer landen auf der Müllhalde in Ghana

Etwa 6.000 Menschen wühlen hier täglich im Müll. Was sind die wertvollsten Dinge, die es dort zu finden gibt?
Christian Krönes: Den größten Wert haben natürlich in der Regel Metalle, wie Kupfer, Aluminium oder Eisen. Die müssen aber erst mühsam aus den Geräten herausgelöst werden. Manchmal ergibt sich für den einen oder anderen aber auch ein glückliches Geschäft, wenn etwa ein Monitor dabei ist, der gar noch funktioniert, oder sich vielleicht noch reparieren lässt. Und was das Reparieren von Dingen betrifft, da sind die Menschen von Sodom unschlagbar. Manchmal gelingt es, aus mehreren kaputten Computern einen funktionierenden - eine Art Frankenstein-Computer zusammenbauen. Das ist dann ein Glücksfall.

Welcome to Sodom
© Stadtkino Filmverleih Aus dem Elektroschrott werden Metalle wiedergewonnen - die wieder in Europa und Asien landen.

Was wird dann mit dem Kupfer gemacht? Wird es vielleicht sogar wieder nach Europa zurück verkauft?
Florian Weigensamer: Um die Metalle aus den Geräten und Kabeln zu lösen, werden riesige Feuer entzündet, in denen das Plastik weggebrannt wird, bis nur mehr die Metalle übrig bleiben. Die werden dann getrennt und wiederverkauft. Jeden Morgen wird der Tagespreis für Kupfer, etc. ausgerufen, der richtet sich nach den Rohstoffpreisen an den internationalen Börsen, und zu diesem fixen Preis wird dann an diesem Tag gehandelt. Die Rohstoffe werden dann über Zwischenhändler weiterverkauft und landen natürlich wieder in Europa, in Asien, wo sie in neuen Geräten verarbeitet werden. Alles gewonnene Metall findet so seinen Weg zurück in den Wirtschaftskreislauf - bis es eines Tages wohl erneut in Agbogbloshie landet.

»Agbogbloshie ist einer der giftigsten Orte der Welt.«

Wie giftig und verseucht ist dieser Ort? Wissen die Menschen von dieser Gefahr und versuchen sie sich irgendwie zu schützen?
Christian Krönes: Agbogbloshie ist einer der giftigsten Orte der Welt. Den Menschen von Sodom ist sehr wohl klar, dass sie an einem verseuchten Ort leben und arbeiten - das Ausmaß ist ihnen aber nicht bewusst. Es gibt auch keinerlei Schutz. Der Rauch der Feuer, in denen das Plastik verbrennt, liegt aber nicht nur über der Müllhalde, sondern über der gesamten Stadt. Man darf ja nicht vergessen, dass die Müllhalde nicht irgendwo außerhalb, sondern mitten in Accra, einer Millionenstadt liegt. Der Fluss, der die Halde begrenzt und wenige hundert Meter weiter ins Meer mündet, führt eigentlich gar kein Wasser mehr. Er besteht aus einer zähen, schwarzen Flüssigkeit, in der man mit freiem Auge die unheimlichsten chemische Reaktionen beobachten kann. Also der Rauch und das Wasser verteilen die toxischen Stoffe, weiter, über das ganze Land, über die ganze Küste. Die Verseuchung betrifft in weiterer Folge Millionen von Menschen.

»Für die meisten ist Sodom die Endstation. «

Sehen die Menschen diesen Ort als „vorübergehende Arbeitsstätte" an oder ist das für viele sogar ein Zuhause?
Christian Krönes: Die meisten Menschen dort kommen aus dem Norden des Landes oder aus umliegenden Ländern, wie Elfenbeinküste oder Togo nach Accra auf der Suche nach Arbeit - klassische Landflucht. Arbeit finden sie aber nur in Agbogbloshie. Das ist tatsächlich noch ein Ort, an dem die Leute Hoffnung schöpfen und sich Tag für Tag durchschlagen können. Der Plan ist natürlich, Geld zu verdienen und dann in die Heimat zurückzukehren. Doch das gelingt nur ganz wenigen. Für die meisten ist Sodom die Endstation.

Herrscht auf der Halde großes Chaos oder ist die Arbeit irgendwie organisiert?
Florian Weigensamer: Die Gesellschaft auf der Müllhalde ist ganz streng in hierarchische Strukturen gegliedert. Frauen etwa dürfen nur Wasser und Essen verkaufen. Auch die verschiedenen Tätigkeitsbereiche, Geschäftsbereiche sind ganz klar aufgeteilt. Diese Bereiche werden verteidigt - im Zweifelsfall auch mit Gewalt. Man muss sich also als Neuling langsam durch die Strukturen hocharbeiten, um an einen einträglichen Job zu kommen.
Jeder einzelne Arbeitsbereich wählt unter sich einen „Chief“. Diese Chiefs bilden dann eine Art Rat, der wieder einen „Chief der Chiefs“ wählt. Es gibt also auch ganz klare Verwaltungsstrukturen, die beim genauen Hinsehen unseren sehr ähnlich sind.

»Offizielle Behörden oder auch Polizei haben dort nichts zu sagen und würden es auch nicht wagen, den Ort zu betreten. «

Wie steht die Regierung Ghanas zu der Müllhalde?
Christian Krönes: Der Regierung ist dieser Ort nur deshalb ein Dorn im Auge, weil es immer öfter Kritik von NGOs und aus dem Westen gibt. Aber Agbogbloshie ist ein Ort, der sich selbst verwaltet, offizielle Behörden oder auch Polizei haben dort nichts zu sagen und würden es auch nicht wagen, den Ort zu betreten. Natürlich ist das ganze Areal theoretisch wertvolles Bauland. Es gab in der Vergangenheit ein paar Versuche der Stadtverwaltung, die Halde zu räumen, um das Land an Investoren verkaufen zu können. Doch diese Versuche sind kläglich gescheitert. Als die Bulldozer kamen, sogar in Begleitung von Militär, haben sich die Menschen dort zur Wehr gesetzt, mit Hämmern, Schaufeln, mit allem was sie finden konnten. Bisher sind alle Räumungsversuche gescheitert.

»Uns allen muss klar werden, wie eng unser Leben mit dem der Menschen von Sodom verknüpft ist. Dass, wenn wir ein billiges Smartphone kaufen, jemand anderer den Preis dafür zahlt.«

Was kann getan werden, um den Menschen vor Ort zu helfen?
Florian Weigensamer: Das Problem ist ja nicht dieser spezifische Ort. Den zu schließen löst ja das Problem nicht. Wir haben diesen Ort ja erschaffen, es gibt ihn nur, weil wir in einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft leben - und umgekehrt existiert unser Wohlstand nur, weil es diesen Ort gibt. Agbogbloshie ist nicht tausende Kilometer entfernt - Europa und dieser Ort liegen in Wahrheit ganz eng beisammen, halten einander am Leben. Auch wenn das „Leben“, der Wohlstand in dieser Symbiose sehr ungerecht verteilt ist. Und daher kann es dafür auch nur eine globale Lösung geben. Uns allen muss klar werden, wie eng unser Leben mit dem der Menschen von Sodom verknüpft ist. Dass, wenn wir ein billiges Smartphone kaufen, jemand anderer den Preis dafür zahlt.

»Die Fischer haben den Quallen die Mägen aufgeschnitten und die halbverdauten kleinen Fische herausgeholt. Das war der Fang des Tages. «

Was hat Sie bei Ihrer Arbeit dort am meisten erschreckt?
Florian Weigensamer: Erschreckt hat uns das Ausmaß der ganzen Sache. Nicht nur auf die Menschen, die dort leben, sondern auf die gesamte Bevölkerung. Wir waren in einem kleinen Fischerort in der Nähe von Accra. Da legen die Fischer jeden Morgen ein riesiges Netz an der Küste aus und holen es dann langsam ein - das dauert viele Stunden. Als das Netz dann an Land gezogen war, befand sich kein einziger Fisch darin. Nur riesige Quallen. Die Fischer haben den Quallen die Mägen aufgeschnitten und die halbverdauten kleinen Fische herausgeholt. Das war der Fang des Tages. Die Fischbestände der gesamten Küste sind zerstört. Das heißt, dass die Menschen vom Fischen nicht länger leben können - und nach Accra gehen, um Arbeit zu finden und auf der Halde von Agbogbloshie landen. Da hat sich ein tödlicher Kreislauf eröffnet, den wir mit unserem Müll, unserem Konsum befeuern.

»Es gibt für die Menschen immer ein „morgen“.«

Gab es etwas, das Sie beeindruckt hat?
Christian Krönes: Beeindruckt waren wir von der Lebensfreude, der Hoffnung, die dort trotz dieser Umstände herrschen. Die Menschen setzen dem Wahnsinn dieses Ortes ein unglaubliches Maß an Kultur entgegen. Es wird getanzt, es wird Musik gemacht. Und es gibt für die Menschen immer ein „morgen“. Auch wenn eine Dusche fast soviel kostet, wie eine Mahlzeit - am Morgen beginnen alle frisch gebadet, in sauberer Kleidung ihre Arbeit. Das ist ganz wichtig denke ich. Diese Kultur ist die letzte Barriere der Menschlichkeit, wenn man die aufgibt, dann gibt man sich selbst auf.

Was erhoffen Sie sich mit Ihrem Film? Werden Sie auch versuchen, ihn relevanten Stellen vorzuführen?
Florian Weigensamer: Wir wollen mit unserem Film niemanden belehren und niemandem mit erhobenem Zeigefinger sagen, was er zu tun hat. Wir wollen nicht bewerten oder kommentieren. Alles was wir wollten, ist diesen Ort und seine Menschen zu zeigen. Aus ihrer Perspektive. Was man mit diesem Bild anfängt, ist selbstverständlich jedem selbst überlassen.

»Wir würden uns sehr wünschen, dass einige der Verantwortlichen, vor allem unsere Regierung, selbst einmal die Gelegenheit hätten, selbst ein paar Tage in Sodom zu verbringen.«

Aber es gibt eine Sache, die uns ganz besonders beschäftigt. Es wird bei uns seit einiger Zeit sehr abfällig von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen gesprochen. Als wären das alles Betrüger, man spricht sogar von „Touristen“. Die Menschen von Sodom, das sind die Wirtschaftsflüchtlinge, von denen man so herablassend spricht - und ich glaube, wenn man gesehen hat, wie sie leben und sich überlegt hat warum, dann nimmt man die Situation hoffentlich ein wenig anders wahr. Wir würden uns sehr wünschen, dass einige der Verantwortlichen, vor allem unsere Regierung, nicht nur den Film sehen könnten, sondern vielleicht selbst einmal die Gelegenheit hätten, selbst ein paar Tage in Sodom zu verbringen - dann wüssten sie wenigsten wovon sie reden und würden vielleicht sogar anders denken.

"Welcome to Sodom" ist ab 23. November in den österreichischen Kinos zu sehen.

Welcome to Sodom
© Stadtkino Filmverleih