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Manfred Ronge: „Wir ‚füttern‘ jeden Tag 2,5 Millionen Österreicher“

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19 min

Manfred Ronge

©Philipp Tikowsky

Im exklusiven Interview mit News.at spricht Manfred Ronge, Präsident der GV-Austria, über die Rolle der Gemeinschaftsverpflegung als gesellschaftlicher Taktgeber, den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung, digitale Effizienz in Großküchen – und warum auch Trends wie In-vitro-Fleisch oder Plant-Based längst mit am Tisch sitzen. Ein Blick hinter die Kulissen einer Branche, die täglich Millionen versorgt – präzise, nachhaltig und mit viel Verantwortung.

Die Gemeinschaftsverpflegung spielt eine zentrale Rolle in der Essensversorgung Österreichs: Täglich erhält fast ein Viertel der Österreicher:innen ihr Essen von Gemeinschaftspflegern. Diese längst mehr als die Betreiber großer Küchen. Mit steigenden Anforderungen auf Konsument:innen-Seite und täglich rund 2,5 Millionen frisch zubereiteten Mahlzeiten wird moderne Ernährungspolitik auf den Teller gebracht. 

News.at hat bei Manfred Ronge, Präsident des Dachverbandes der österreichischen Gemeinschaftsverpfleger (GV-Austria), nachgefragt, wie das in der täglichen Praxis aussieht.

Herr Ronge, wie verändert sich das Verständnis von Gemeinschaftsverpflegung im Kontext aktueller gesellschaftlicher Trends wie Urbanisierung, Individualisierung und demografischer Wandel?

Wir sind in jeder Gesellschaftsgruppe, jeder Altersgruppe und jeder sozialen Schicht tätig. In einer Zeit, in der Menschen älter, Städte dichter und Lebensstile individueller werden, übernimmt unsere Branche eine umfassende Rolle für eine gesunde, leistbare und nachhaltige Essensversorgung. Die Gemeinschaftsverpflegung ist daher ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen und Pionier bei der Umsetzung von Trends und gesetzlichen Rahmenbedingungen. Deshalb gewinnen wir stetig massiv an Bedeutung.

Wir bieten aber nicht nur Mahlzeiten, sondern sind auch für die Versorgungssicherheit verantwortlich – gerade für jene Personengruppen, die täglich auf eine verlässliche Speisenversorgung angewiesen sind wie Kinder, Patient:innen, ältere Menschen, Arbeitnehmer:innen – von der Industrie bis zur Verwaltung – und viele mehr. Unser Anspruch ist es, individuelle Bedürfnisse am Puls der Zeit mit den zur Verfügung stehenden Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen. Das gelingt jedenfalls bei unseren Mitgliedsbetrieben perfekt.

Welche Rolle spielt die Gemeinschaftsverpflegung im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung – und wie gelingt es, täglich Millionen Portionen punktgenau zu kalkulieren?

Die Abfallvermeidung ist ein gutes Beispiel, wie wir unsere Vorreiterrolle wahrnehmen. Die Gemeinschaftsverpfleger:innen sind die einzigen, die sich als ganze Branche der Herausforderung gestellt haben, gezielt Daten zu erheben, um vermeidbare Abfälle zu evaluieren. Wir entwickeln daraus konkrete Handlungsempfehlungen und Maßnahmenkataloge. Hier sind wir der Gastronomie und der Hotellerie um Längen voraus. Was uns stolz macht ist, dass wir die vermeidbaren Lebensmittelabfälle dadurch in den letzten fünf Jahren um mehr als 40 Prozent senken konnten. Dieser Trend hält auch weiter an.

Die Kalkulation der Mengen erfolgt zum Glück nicht für alle zweieinhalb Millionen Menschen in derselben Küche, obwohl auch das möglich wäre. Unsere Branche kocht in insgesamt über 5.000 voneinander unabhängigen Küchen, die unterschiedlich groß sind und zwischen 50 und 5.000 Speisen pro Tag kochen. In einigen wenigen, besonders großen Küchen werden aber auch 25.000 Portionen und mehr pro Tag hergestellt. Das Wichtigste dabei ist eine punktgenaue Planung. Der Zufall hat in den Küchen unserer Branche nichts verloren. Wir kalkulieren digital, zielgenau und qualitätsbewusst. Für die Berechnung der voraussichtlichen Gästeanzahl und deren wahrscheinliche Menüwahl nutzen unsere Mitgliedsbetriebe KI-gesteuerte Kassen- und Warenwirtschaftssysteme. Auf diese Weise berechnen wir den Bedarf und die Mengen sehr genau und haben dadurch in letzten Jahren massiv Food Waste und Kosten vermieden.

Auch im Einkauf überlassen wir nichts dem Zufall. Wir kennen unsere Lieferant:innen und die Rohwaren sehr genau. Das geht bis hin zu Ernteverträgen, die unsere Mitglieder für bestimmte Warengruppen abschließen, was insbesondere für Bio- und Saisonwaren erforderlich ist. Nur so schaffen wir es, die Kosten im Griff und die Preise für unsere Gäste vergleichsweise günstig zu halten. Die Qualität bleibt dabei auf sehr hohem Niveau. Viele andere Marktsegmente geben die Kosten einfach über die Verkaufspreise weiter und ändern nichts an ihrer Organisation.

Wie offen ist die Branche gegenüber alternativen Proteinquellen wie In-vitro-Fleisch, pflanzenbasierter Küche oder Insektenprotein? Sind Pilotprojekte bereits in Planung oder Umsetzung?

Am 7. und 8. Mai fand in Baden die 16. Branchentagung der Österreichischen Gemeinschaftsverpfleger:innen statt. Ein ganzer Themenblock war genau diesen Bereichen gewidmet. Wir beschäftigen uns also sehr intensiv mit diesen Trends.

Alternative Proteinquellen stehen in unseren Menüplänen bereits seit Jahren zur Auswahl und werden von Jahr zu Jahr mehr gewählt. Unsere Mitgliedsbetriebe setzen sich laufend sehr intensiv damit auseinander, welche Produkte einsetzbar und nachhaltig zu beschaffen sind und wie diese im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung optimal angeboten werden können. Gemeinschaftsverpfleger:innen überlassen so ein wichtiges Thema nicht dem Zufall – wir entwickeln, testen, analysieren und bringen die Ergebnisse schmackhaft auf den Teller. Wir unterscheiden aber zwischen den unterschiedlichen Personengruppen, die zu bewirten sind, und leben grundsätzlich das Prinzip der Wahlfreiheit unserer Gäste.

Je näher wir zum Gast kommen, desto weniger sinnvoll ist der Einsatz von digitalen Tools

Manfred Ronge

Digitalisierung und Automatisierung halten zunehmend Einzug in Großküchen. Wo sehen Sie hier Chancen, wo aber auch Grenzen im Hinblick auf Qualität und Menschlichkeit im Alltag?

Digitalisierung ist die Basis, um unsere Prozesse effizienter und transparenter zu gestalten – etwa bei der Warenwirtschaft, Qualitätssicherung oder Allergen- und Herkunftskennzeichnung. Auch Automatisierung hat in unserer Branche längst Einzug gehalten und kann Mitarbeiter:innen beispielsweise bei monotonen Tätigkeiten entlasten. Ihren Einsatz findet sie etwa in der Spülküche und bei einigen Arbeitsprozessen in der Vorbereitung.

Allerdings: Je näher wir zum Gast kommen, desto weniger sinnvoll ist der Einsatz von digitalen Tools. Denn entscheidend ist: Essen ist ein zutiefst emotionaler Akt. Der persönliche Kontakt, das Wissen um Bedürfnisse, die Feinabstimmung in der Küche – all das braucht Erfahrung und Empathie. Die Technik unterstützt, ersetzt aber nicht den Menschen. Deshalb setzen wir auf eine sinnvolle Kombination aus Innovation und menschlicher sowie fachlicher Kompetenz.

Wie weit ist Österreich in der Umsetzung von nachhaltigen Verpackungslösungen im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung – und wo hakt es noch?

Unsere Mitgliedsbetriebe arbeiten bereits mit Mehrwegsystemen und recycelbaren Materialien. Mit Blick auf das immer beliebter werdende Take-Away-Geschäft sind Mehrweglösungen auch in unserer Branche Standard geworden – etwa bei Essen auf Rädern oder externen Ausgabestellen. Die Herausforderung dabei liegt aber oft in der Logistik. Denn die Mehrwegsysteme sind auch für unsere Kund:innen mit Mehraufwand verbunden. Es braucht daher praktikable, hygienische und ökonomisch tragbare Lösungen. Die GV-Austria ist daher in engem Austausch mit Hersteller:innen, der Politik und der Forschung und agiert als Schnittstelle und Kooperationspartner. Unsere Mitglieder nutzen diesen Vorteil im Sinne der Nachhaltigkeit und setzen praktikable Outputs in der Praxis um.

Wie gehen Ihre Mitgliedsbetriebe mit dem zunehmenden Kostendruck durch Inflation, steigende Energiepreise und Fachkräftemangel um, ohne bei Qualität und Regionalität Kompromisse einzugehen?

Unsere Branche steht beinahe in allen Marktsegmenten bereits seit jeher vor der Aufgabe, zu sozial verträglichen Preisen anzubieten. Vor dieser Herausforderung stehen wir also nicht erst seit Beginn der Teuerungswelle im Herbst 2021. Wir evaluieren immer zuerst unsere eigenen Prozesse, bevor wir eine Preiserhöhung leichtfertig an unsere Gäste weitergeben. Das bereits angesprochene Beispiel zur strikten Vermeidung von Abfällen ist nur ein Weg, wie wir Preissteigerungen vermeiden. Auch die Digitalisierung hilft uns massiv – unter anderem bei der nachhaltigen und kostengünstigen Beschaffung. Bei Großküchen mit planbaren Abnahmemengen liegt viel Potenzial im strategischen Einkauf. So konnten die Gemeinschaftsverpfleger:innen die Teuerungswelle im Wesentlichen gut abfangen und mussten ihre Preise im Gegensatz zu anderen Branchen nur moderat anheben. Kein einziges unserer Mitglieder musste dabei im qualitativen Bereich Abstriche machen, worauf wir sehr stolz sind.

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Was die Regionalität betrifft, sind nur die Gemeinschaftsverpfleger:innen seit 2023 gesetzlich verpflichtet, die Herkunft der wesentlichen Bestandteile ihrer Speisen nachzuweisen und öffentlich bekannt zu geben. Dabei hat sich gezeigt, dass ein enorm hoher Anteil an österreichischen Produkten verarbeitet wird. Die meisten unserer Mitgliedsbetriebe erreichen bei Fleisch, Eiern und Milchprodukten sogar einen Anteil von 100 Prozent – nachweislich und behördlich kontrolliert. Auch hier sind wir Pioniere und zeigen, wie es geht.

Der Fachkräftemangel ist auch bei uns angekommen. Nachdem unsere Branche aber sehr gute Arbeitsbedingungen und tolle Aufstiegschancen bietet, konnten wir auch dieses Thema etwas besser abfedern als andere Branchen. Außerdem bieten wir gezielte Ausbildungsmöglichkeiten für Fach- und Führungskräfte – unter anderem den Lehrgang zur diplomierten Großküchenleiter:in – sowie konkrete Weiterbildungsmaßnahmen für Hilfskräfte und nicht zuletzt hochprofessionelle Lehrlingsausbildungen.

Gibt es bereits Kooperationen mit Bildungs- und Forschungseinrichtungen, um Innovationen im Bereich Ernährung, Sensorik oder Food Waste voranzutreiben?

Kooperationen bestehen in allen Bereichen. Unter anderem ist eines unserer Mitglieder, die Ronge & Partner Group, Teil eines europaweit angelegten Forschungsprojektes (FoodMAPP) zur Reduktion der Lieferketten und des Footprints von Lebensmitteln. Das Projekt dauert vier Jahre und wird von insgesamt fünf Universitäten und zwei Wirtschaftspartner:innen begleitet.

Die Versorgung unterschiedlicher Zielgruppen wie Kinder, Arbeitnehmer:innen, Menschen mit Erkrankungen und Senior:innen erfordert ein enormes Wissen über die Zubereitung und Zusammenstellung von gesunden Speisen in speziellen Lebenslagen. Ernährungspsychologie, Diätologie und Sensorik sind daher fester Bestandteil unseres Alltags. Ein:e Gemeinschaftsverpfleger:in – insbesondere als Mitglied der GV-Austria – ist dazu verpflichtet, die Ernährungsstandards kontinuierlich weiterzuentwickeln. Deshalb forschen wir laufend dazu, entwickeln ständig neue, innovative Rezepte und setzen diese in der Praxis um.

Gerade im Bereich Klinikversorgung fungieren wir außerdem als Kooperationspartner von diversen Forschungsinstituten, weil in unseren Küchen sozusagen die Feldarbeit stattfindet. Aus diesem Grund haben Gemeinschaftsverpfleger:innen oft einen Wissensvorsprung hinsichtlich Trends, Innovationen, Sensorik und Ernährung und beschäftigen einen Großteil der Diätolog:innen und Ernährungswissenschaftler:innen.

Essen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme – es ist Teil der Bildung und Sozialisation

Manfred Ronge

Inwiefern kann die Gemeinschaftsverpflegung als „Ernährungspädagoge“ wirken – vor allem bei jungen Menschen in Schulen oder Kindergärten? Gibt es Programme zur Ernährungsbildung über das Tellergericht hinaus?

Essen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme – es ist Teil der Bildung und Sozialisation. Und hier beginnt Ernährungskompetenz. Als Gemeinschaftsverpfleger:innen haben wir eine große Verantwortung, die wir gerne wahrnehmen. Die Aufklärung der Konsument:innen zum Thema gesundes Essen durch Informationstafeln, Apps und Screens, Nudging – also die gesündere Wahl zur einfacheren machen – sowie Informationsveranstaltungen und Fortbildungskurse sind in den meisten Einrichtungen etabliert, bei unseren Mitgliedern jedenfalls zur Gänze.

Gerade bei Kindern und Jugendlichen leisten Gemeinschaftsverpfleger:innen einen wesentlichen Beitrag zur Ernährungserziehung. Viele Einrichtungen setzen bereits auf begleitende Bildungsmaßnahmen wie etwa Küchentage, Informationsmaterialien oder Kooperationen mit Pädagog:innen.

Wie stark ist der Einfluss internationaler Ernährungstrends auf die österreichische Gemeinschaftsverpflegung – und wie gelingt der Spagat zwischen globaler Inspiration und lokaler Verwurzelung?

Trends wie „Plant-Based“ oder „Functional Food“ fließen zunehmend in die Menügestaltung ein. Wir lassen uns inspirieren, bleiben dabei aber regional verankert. Der Zugang ist pragmatisch: Was schmeckt? Was ist umsetzbar? Und was bringt einen echten Mehrwert für unsere Gäste? Unsere Küchen müssen sich nach den Zielgruppen richten, nicht nach dem Mainstream.

So wird zum Beispiel im modernen Betriebsrestaurant ein breites Angebot an internationalen, trendigen und auch regionalen Speisen angeboten. Das steht nicht im Widerspruch zueinander. Die Hausmannskost – vielleicht etwas moderner interpretiert – darf einfach nicht fehlen. Und der kleine Snack vom reichhaltigen Salatbuffet ist Standard.

In Kindergärten und Schulen werden moderne und trendige Gerichte immer wieder eingebaut und viele davon halten sich nachhaltig. Somit verändert sich das Angebot laufend. Im Bereich der Senior:innenverpflegung steht neben der hohen Bedeutung der altersgerechten Essensversorgung die Tradition im Vordergrund. Natürlich werden auch hier Trends angenommen, oft aber erst mit leichter Verzögerung. In den nächsten Jahren wird sich das Angebot rasant an die nächste Generation anpassen. Die Entwicklungen sind schon voll im Gange.

Was wünschen Sie sich von der Politik, um die Rahmenbedingungen für Ihre Branche nachhaltig zu verbessern – Stichwort Vergaberecht, Förderungen oder bürokratische Hürden?

Unser Dachverband ist dankenswerter Weise in viele Überlegungen der Politik eingebunden und sitzt bei der Erstellung von Richtlinien und Gesetzen am Verhandlungstisch. Insofern finden unsere Mitglieder ernst genommenes Gehör in sehr vielen Bereichen. Die Rahmenbedingungen in Österreich sind im internationalen Vergleich sehr gut. Dennoch wäre es uns ein Anliegen, die Regionalität auch im europäischen Vergaberecht so zu verankern, dass diese auch im nationalen Recht klareren Niederschlag findet. Stichwort „Farm to Fork“-Strategy.

Zudem wünschen wir uns einen Ausbau der Betreuungsplätze in Kindergärten und Schulen. Das ist nicht zuletzt auch eine enorme Chance für die Ernährungserziehung unserer Kinder und hilft bei guter Umsetzung, Essstörungen zu verhindern bzw. zumindest zu verringern und Kindern einen gesunden Zugang zu Essen zu vermitteln. Diese Chance sollten wir nicht verpassen. Es müssen jedoch die nötigen Ressourcen für die professionelle Essensgestaltung durch eine:n Gemeinschaftsverpfleger:in berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang würden wir uns auch Workshops für Kinder und Pädagog:innen wünschen, um das Wissen zu festigen und mit vielen Mythen aufzuräumen. Die GV-Austria bietet sich als Drehscheibe gerne an.

Was bürokratische Auflagen betrifft, so sind diese für leitende Funktionen in einer Gemeinschaftsverpflegungsküche in vielen Bereichen durchaus verständlich und dienen der persönlichen- und Lebensmittelsicherheit. Dennoch sind sie sehr hoch und oft viel zu weitreichend. Von Hygienedokumentation, Arbeitssicherheit und Lebensmittelrückverfolgung über Personalwesen bis hin zur statistischen Auswertung sind täglich unzählige Berichtspflichten zu erfüllen. Zur Bewältigung dieser Aufgaben werden beträchtliche Personalressourcen verschlungen, obwohl der Nutzen oft kaum nachvollziehbar ist.

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