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56 Betroffene mit ärztlich bestätigter ME/CFS- oder Post-Covid-Diagnose haben dem Rechercheteam insgesamt Unterlagen von 71 Anträgen bzw. Verfahren zur Einsicht zur Verfügung gestellt (zum Teil mehrere Verfahren pro Person, Anm.). Eingereicht wurden diese bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) in den Jahren 2021 bis 2024.
Die Analyse untermauert Berichte, wonach Betroffene beim Bezug von Versicherungs- bzw. Sozialleistungen mit sehr großen Hürden zu kämpfen haben. So hat etwa die Volksanwaltschaft in ihrem Jahresbericht Verbesserungen eingefordert, u.a. bessere Schulungen für Gutachterinnen und Gutachter der PVA. Von groben Problemen in diesem Bereich berichtete in der Vergangenheit auch wiederholt die Patientenorganisation Österreichische Gesellschaft für ME/CFS, die am kommenden Montag am Wiener Heldenplatz mit einer Protestveranstaltung (Info: https://go.apa.at/8LmmwNuU) auf die Unterversorgung von Betroffenen aufmerksam machen wird.
Insgesamt wurden 79 Prozent der übermittelten Anträge abgelehnt (oder bereits gewährte Leistungen entzogen). Damit erhielten diese Betroffenen weder eine Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension noch die befristete Form einer solchen Leistung ("Rehageld"), ebenso kein Pflegegeld. Im Detail wurden 36 von 46 Ansuchen auf krankheitsbedingte Pension bzw. Rehageld abgewiesen. Zehn von 14 Pflegegeldanträgen wurden nicht bewilligt und zehn von elf kombinierten Anträgen wurden abschlägig beschieden.
In Summe konnte das Recherche-Team auch 124 PVA-Gutachten einsehen, die im Zuge der genannten 71 Verfahren erstellt wurden (ein Verfahren kann mehrere Gutachten umfassen, Anm.). 110 davon betrafen das Begehr auf Berufsunfähigkeitspension. Im überwiegenden Maße (83 Prozent) sahen die von der PVA beauftragten Sachverständigen trotz von den Betroffenen teils drastisch beschriebener Einschränkungen Arbeitsfähigkeit. Anträge auf Pflegebedarf wurden in 31 Gutachten behandelt, aber nur viermal zugestanden.
In nur knapp 23 Prozent der PVA-Gutachten wurde die Diagnose ME/CFS oder Post Covid als Hauptdiagnose übernommen. Im überwiegenden Teil der Gutachten (56 Prozent) fanden diese Diagnosen gar keine Berücksichtigung, beim Rest etwa nur als Nebendiagnosen. Auch die Diagnosekriterien für ME/CFS (kanadische Konsenskriterien oder andere) kamen in den Gutachten nicht vor.
Das Kardinalsymptom von ME/CFS, die schwere Belastungs-Erholungsstörung PEM (Post-Exertional Malaise) wird in den APA, ORF und Dossier vorliegenden Gutachten so gut wie nicht berücksichtigt. In nur drei Prozent davon fand es Niederschlag - und wird teils gänzlich missverstanden: "Während der Untersuchung kein POTS oder PEM", schreibt etwa ein Gutachter. Derartige Feststellungen sind kein Einzelfall: So ist von "weitschweifigen" Schilderungen von Beschwerden die Rede, die Symptomschilderung sei "dramatisch" und lasse sich nicht objektivieren, heißt es in weiteren Gutachten.
Während die Kreislaufstörung POTS grundsätzlich in relativ kurzer Zeit messbar ist, kann PEM nicht in einer kurzen Untersuchung festgestellt werden, wie Fachleute betonen. Anstrengungen können zu einer (starken) Verschlechterung führen - das aber oft erst zeitverzögert (nach zwölf bis 48 Stunden, manchmal auch erst nach 72 Stunden). Liegt PEM vor, wirkt körperliche und kognitive Aktivierung - anders als bei vielen anderen Erkrankungen - nicht unterstützend, sondern hat einen negativen Effekt.
Dass PEM in den Gutachten kaum Beachtung findet, sorgt für Kritik von Spezialisten: "Naturgemäß kann man die Diagnose ME/CFS nicht stellen ohne dieses Hauptmerkmal", sagte der Tiroler Internist und Experte für postakute Infektionssyndrome (PAIS) Christoph Bammer auf Anfrage des Recherche-Kollektivs. Der Salzburger Psychiater und gutachterliche Sachverständige Moritz Mühlbacher warnt davor, PEM zu negieren. Denn aus Gutachten würden sich oft Behandlungsrichtlinien oder Empfehlungen ableiten, wie etwa oftmalige Empfehlungen zu aktivierender Rehabilitation, die aber für PEM-Betroffene mitunter schwerwiegende Auswirkungen haben kann.
Bei 50 von 124 Gutachten (40 Prozent) wurde die Ursprungsdiagnose ME/CFS oder Post Covid durch die der PVA-Gutachter oder Gutachterinnen in eine psychische oder psychosomatische Diagnose abgeändert, darunter vor allem die Diagnosen Neurasthenie, Anpassungsstörung und Somatisierungsstörung. Auch das kann für die Betroffenen (neben der Nicht-Anerkennung der sozialrechtlichen Ansprüche) mitunter zur Aufforderung zu Rehabilitationsmaßnahmen führen, die für ME/CFS- oder Post-Covid-Betroffene gänzlich ungeeignet oder sogar schädlich sind.
Auch das sehen die befragten Spezialisten kritisch: Vor dem Stellen einer psychischen Diagnose müssten körperliche Erkrankungen ausgeschlossen werden. Und ME/CFS falle klar unter "körperliche Erkrankungen", betonte auch der Linzer klinische Psychologe und Sachverständige für Berufskunde Markus Gole. Das unterstrich auch der Leiter des psychosozialen Dienstes Wien, Georg Psota: ME/CFS und Post- oder Long-Covid seien als Krankheiten mit körperlichen Ursachen ganz klar von psychischen Erkrankungen unterscheidbar, betonte er.
In einem guten Teil der vorliegenden Gutachten (rund 34 Prozent) wurde den Antragsstellern "Aggravation" (Übertreibung) der Symptome, "Verdeutlichung" oder gar Simulation attestiert. Ein Problem stellen hier oft psychodiagnostische Tests dar, bei denen etwa nach Symptomen abgefragt wird: Werden seitens der Patienten viele Symptome angegeben, wird das oftmals als "Aggravation" und damit als unglaubwürdig gewertet. Einige der in diesen Tests abgefragten "Pseudobeschwerden" können bei ME/CFS tatsächlich auftreten. In einem der Gutachten zur Psychodiagnostik heißt es beispielsweise: "Aufgrund der Anzahl der bejahten Pseudobeschwerden" sei eine "deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit von bedeutsamen Antwortverzerrungen gegeben". Andernorts heißt es, die "zunehmende" und "ausgeprägte" Symptomatik sei "organisch kaum erklärbar". Beschwerden wie kein Glas halten zu können oder kaum lesen zu können werden als "aggravierend" beurteilt.
Mühlbacher betonte, psychologische Tests könnten stets nur als Versuch dienen, eine Antwortverzerrung nachzuweisen. "Das ist niemals ein absoluter Beweis". Und: Der Vorwurf der Aggravation dürfe nicht einfach gestellt werden, er müsse schlüssig argumentiert werden. Gole verwies darauf, dass ME/CFS-Betroffene schlicht eine hohe Anzahl an Symptomen aufweisen. Diese dürften bei der Begutachtung aber nicht als Pseudobeschwerden eingestuft werden. Damit es nicht dazu kommt, müsse der oder die Gutachterin das Krankheitsbild aber kennen.
Die Beschwerden seien außerdem objektivierbar, insbesondere das Kardinalmerkmal PEM, betonte etwa Bammer. Er verwies auf spezielle Fragebögen zu ME/CFS oder die Möglichkeit, die zeitversetzt einsetzende Zustandsverschlechterung mittels wiederholter Begutachtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu messen. Möglich seien etwa auch zwei Handkraftmessungen mit zeitlichem Abstand sowie - sofern es der Zustand ohne Verschlechterungsgefahr zulässt - die Durchführung zweier Spiroergometrien im Abstand von 24 Stunden.
Die PVA ging auf Anfrage auf die vorgelegten Daten nicht näher ein, erklärte aber schriftlich, Long bzw. Post Covid sei "keine für eine nach der 'internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme' (ICD-10) klassifizierte Diagnose". "In Folge scheint 'Long/Post-Covid' auch nicht in Statistiken der PV auf." Weiters hieß es, laut den gesetzlichen Vorgaben seien für die Zuerkennung von Leistungen wie Pflegegeld oder Berufsunfähigkeit/Invalidität nicht das Vorhandensein einer bestimmten Diagnose entscheidend, sondern die vorliegenden objektivierbaren Funktionseinschränkungen sowie Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Alle für die PV tätigen Gutachter seien "stets auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand und wenden dies bei den Begutachtungen an" und würden "gemäß der gesetzlichen Vorgaben" handeln. Auch verwies die PVA darauf, dass alle für sie tätigen Gutachter und Gutachterinnen von der ÖBAK (Österreichische Akademie für ärztliche und pflegerische Begutachtung) zertifiziert sind, diese Zertifizierungen würden stets auf dem "neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse gehalten".
Im Sozialministerium hielt man sich in einer ersten Reaktion äußerst bedeckt. Zu den recherchierten Daten äußerte man sich nicht und verwies auf die Selbstverwaltung der PVA. Die zugrundeliegenden Gesetze würden "für an ME/CFS erkrankte Versicherte in gleichem Maße wie für Versicherte, bei denen andere psychische oder physische Erkrankungen vorliegen" gelten, hieß es.
In den vorliegenden Gutachten wurden freilich teils veraltete Diagnosen gestellt, etwa "Neurasthenie" oder "benigne (gutartige, Anm.) myalgische Enzephalomyelitis" - bei letzterer Diagnose wurde die Bezeichnung "benigne" schon lange kritisiert und im Jahr 2019 aus der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO (ICD-10) gestrichen.
Ähnlich verhält es sich bei "Neurasthenie", diese sei seit den 50er-Jahren in Europa "eigentlich nicht mehr wirklich üblich", so Mühlbacher; er selbst habe diese Diagnose nie gesehen oder gestellt. Auch Psychiater Psota sagte dazu, der Begriff werde von Psychiatern kaum mehr verwendet "und das ist auch gut so". "Mittlerweile ist die Medizin weiter." In der neuen, Anfang 2022 in Kraft getretenen WHO-Klassifikation (ICD-11) wurde die Diagnose gänzlich gestrichen.
Eine Schwierigkeit stellt auch die sehr seltene Gewährung von Hausbesuchen bei Begutachtungen dar. Kritik daran übten nicht nur wiederholt Patientenvertreter, sondern im vergangenen Dezember auch Ex-Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), der von "Schikane" sprach. Zuvor hatte Rauch auch die Notwendigkeit weiterer Aus- und Fortbildungen der gutachterlich tätigen Ärzte und Ärztinnen betont. Dem Vernehmen nach hat die PVA aktuell mit einem Gutachtermangel zu kämpfen. Auch im Nationalen Aktionsplan zu diesen Erkrankungen ist von der Notwendigkeit einer Attraktivierung der Gutachtertätigkeit die Rede.
Dass Betroffene in den überwiegenden Fällen abschlägige Bescheide bezüglich Anträge auf Berufsunfähigkeit/Invaliditätspension bzw. Rehageld erhalten, bestätigt man auf Anfrage auch seitens der ÖG ME/CFS. "Diese Ergebnisse decken sich mit unseren Erfahrungen als Patientenorganisation. Es gibt nur vereinzelt Gutachterinnen und Gutachter mit der Bereitschaft, sich in ME/CFS einzuarbeiten. Absicherung wird für ME/CFS-Betroffene so von einer Leistung, die ihnen aufgrund von schwerer Krankheit zur Existenzsicherung zusteht, zur Lotterie, bei der sie in der Regel verlieren", hieß es auf Anfrage aus der Organisation. Übrig bleibt den Betroffenen bei negativen PVA-Bescheiden nur der Klagsweg. Freilich garantiert auch das nicht den Erfolg, wie der APA vorliegende Urteile von Betroffenen bezeugen. Die Probleme mit den dort eingeholten Gutachten sind im Grunde ähnlich mit jenen bei der PVA, bestätigte die ÖG ME/CFS. Seitens der We&Me-Stiftung der Familie Ströck, die sich der Erforschung von ME/CFS verschrieben hat, hieß es auf Anfrage, notwendig sei eine Schulung der Gutachter und Gutachterinnen entlang des aktuellen Forschungsstandes.
Von der Krankheit ME/CFS sind in Österreich laut Schätzungen der MedUni Wien rund 70.000 bis 80.000 Personen betroffen (abgeleitet aus internationalen Daten), ca. 20 Prozent davon sind schwer oder sehr schwer betroffen. Dabei sind freilich nur jene gemeint, die unter die Kategorie ME/CFS fallen (und damit das Kardinalsymptom PEM aufweisen). Andere von Post-Covid- oder PAIS-Betroffene, die nicht die ME/CFS- Kriterien mit PEM erfüllen, fallen nicht in diese Zählung hinein.
Zum Vergleich: Von den deutlich bekannteren Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Parkinson sind laut deren Patientenorganisationen in Österreich ca. 13.500 bzw. mindestens 25.000 Personen betroffen.
Factbox, Betroffene in Österreich, Schwere der Erkrankung, Quelle: Med-Uni Wien;.Die Auslieferung der APA-Grafiken als Embed-Code ist ausschließlich Kunden mit einer gültigen Vereinbarung für Grafik-Pauschalierung vorbehalten. Dabei inkludiert sind automatisierte Schrift- und Farbanpassungen an die jeweilige CI. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an unser Grafik-Team unter grafik@apa.at. GRAFIK 0674-25, 88 x 100 mm