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Irmgard Griss: „Wir brauchen Institutionen wie das SOS-Kinderdorf“

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Foto von Irmgard Griss

SOS-Kinderdorf-Kommission, Lesepatenschaften: Irmgard Griss ist auch nach ihrem Rückzug aus der Politik weiter viel beschäftigt

©Bild: IMAGO images/SEPA.Media

Irmgard Griss (79) ist eigentlich schon zweimal in Pension gegangen. Viel beschäftigt ist die ehemalige Höchstrichterin und Nationalratsabgeordnete weiterhin. Auch im Urlaub in Sri Lanka, wo News mit einer Interviewanfrage dazwischenfunkt. Wir sprechen über die Causa SOS Kinderdorf, Griss' Engagement für Lesepatenschaften, ihre Zeit in der Politik und auch über Persönliches.

Frau Griss, sie waren schon an der Aufarbeitung mehrerer Skandale beteiligt. Man hat den Eindruck, wenn in Österreich wieder einmal etwas passiert, klingelt Ihr Telefon. Wie gefällt Ihnen diese Rolle als Feuerwehrfrau der Nation?

Ich mache gern etwas, wenn ich das Gefühl habe, es ist sinnvoll, und ich kann etwas dazu beitragen, dass eine schwierige Situation überwunden oder sonst bereinigt wird. Die Arbeit mit SOS Kinderdorf ist insofern besonders, als es emotional belastend ist, wenn man die Schilderungen von Menschen liest, die im Kinderdorf aufgewachsen sind und die misshandelt wurden oder Missbrauch erlebt haben. Menschen, die jetzt längst erwachsen sind, aber nach wie vor mit diesen Erfahrungen zu kämpfen haben.

Auf der anderen Seite kriegen wir auch Zuschriften von Personen, die sagen, ich verdanke dem SOS Kinderdorf viel. Wenn es nun in den Medien so schlecht gemacht wird, dann verletzt mich das.

Fühlen sich diese Menschen mit positiven Erfahrungen also in eine Opferrolle gedrängt?

In einem gewissen Sinn, ja. Viele sagen, ich habe Glück gehabt. Ich habe mich im Kinderdorf geborgen gefühlt. Meine Eltern konnten mir das nicht bieten. Es sind oft sehr schwierige Verhältnisse, aus denen solche Kinder kommen.

Vor zwei Tagen haben wir ein Mail von jemandem bekommen, der als Waisenkind ins SOS-Kinderdorf gekommen ist. Die Person hat uns geschrieben: Hätte ich nicht das Glück gehabt, dort Aufnahme zu finden und die Chance bekommen, etwas zu lernen, wo wäre ich heute? Wir hören also beides, Positives und Negatives.

Wir brauchen das SOS-Kinderdorf.

Irmgard Griss
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Trotz des Missbrauchsskandals brauche Österreich das SOS Kinderdorf, sagt Irmgard Griss

 © IMAGO/Daniel Scharinger

Höre ich da heraus, dass sie schon auch eine positive Zukunft für SOS Kinderdorf sehen, nach aktuellem Stand?

Absolut. Wir brauchen das SOS-Kinderdorf. Das ist eine Institution, die in der Vergangenheit viel Gutes geleistet hat. Jetzt schaut es so aus, als wäre alles nur schrecklich gewesen. Das stimmt so nicht. Es gibt genug Beispiele, in denen Kinder und Jugendliche gut versorgt wurden und auf ein gelungenes Leben zurückblicken können. Es gibt eben Eltern, die nicht in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen, sodass die Fremdunterbringung der einzige Weg ist.

Natürlich wäre es wünschenswert, eine Familie mit eigenen Kindern zu finden, die ein Pflegekind aufnimmt. Doch solche Familien sind rar. Man wird immer auch Institutionen brauchen, in denen Kinder versorgt werden. Im Übrigen kümmert sich das SOS Kinderdorf ja nicht nur um Kinder, die keine Eltern haben oder deren Eltern nicht in der Lage sind, sie zu versorgen. Das SOS Kinderdorf kümmert sich auch um Kinder, die sonst Schwierigkeiten haben, die vielleicht Drogenprobleme haben.

Für uns als Reformkommission ist es wichtig zu klären, was waren die Ursachen von Missständen, Misshandlungen und Missbrauch? Wie weit sind noch bestehende Strukturen dafür verantwortlich? Es wurde in der Zwischenzeit schon sehr viel geändert, aber wo muss man noch nachjustieren? Denn für mich ist klar: Wir brauchen solche Institutionen.

Die Kinder, um die es hier geht, die bleiben alle hier, das muss uns klar sein.

Irmgard Griss

Neben der SOS-Kinderdorf-Kommission engagieren Sie sich aktuell für die Lesekompetenz von Volksschulkindern mit nicht-deutscher Muttersprache. Wie kam es dazu?

Ich bin schon länger in einem Club, der zusätzlichen Deutschunterricht in einer Grazer Schule finanziert. Also eine Lehrerin oder, wenn wir mehr Geld haben, zwei Lehrerinnen, die am Nachmittag beim Deutschunterricht unterstützen. Auch Lesepatinnen und Lesepaten organisieren wir. Und die Lehrerinnen und Lehrer sagen, dass diese Lesepatenschaften eine ganz große Hilfe sind. Die Kinder haben dadurch die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, der nicht zu dem kleinen Kreis gehört, in dem sie sich sonst bewegen.

Es war die Idee meiner Freundin Carina Kerschbaumer, die auch selbst Lesepatin ist, das auf eine breitere Basis zu stellen. Denn die Kinder, um die es hier geht, die bleiben alle hier, das muss uns klar sein. Wir müssen ein großes Interesse haben, dass diese Kinder ihr Potenzial entfalten können. Dass sie nicht, so wie vor einiger Zeit ein Drittel der Kinder in einer Wiener Schule, auf die Frage "Was willst du einmal werden?" sagen: "I geh AMS".

Wir haben, unmittelbar nach der Vorstellung unserer Initiative, über 200 Mails bekommen, in denen Leute sagen, ja, das ist eine super Sache, wir wollen mittun. Am Freitag (12.12., Anm.) sind wir bei Bildungsminister Christoph Wiederkehr und bei der Wiener Bildungsstadträtin Bettina Emmerling (beide Neos, Anm.). Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache beim Lesenlernen zu unterstützen ist aber eine Aufgabe, die die Politik und die Schulen nicht allein bewältigen können. Da ist auch die Zivilgesellschaft gefordert.

Gehen Sie eigentlich auch selbst als Lesepatin in Volksschulen?

Noch nicht. Aber ich nehme mir das vor.

Meine Bewunderung und mein Respekt für Politikerinnen und Politiker und für die Tätigkeit an sich sind sehr gestiegen.

Irmgard Griss

Die Neos, über deren Liste Sie auch in den Nationalrat eingezogen sind, sind jetzt Teil der Regierung und stellen auch den Bildungsminister. Hätten Sie sich von ihnen im Bildungssektor mehr erwartet?

Es gibt gute Ansätze, die Herausforderungen sind aber gewaltig. Was mich gefreut hat, ist die Meldung, dass die Schulen in Zukunft selbst entscheiden können, wie sie den Deutschunterricht für Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache gestalten. Das halte ich für sehr wichtig. Denn die Schulen wissen ja am besten, was notwendig ist und was den größten Erfolg bringt.

Was nehmen Sie denn aus ihrer Zeit in der Politik mit? Gibt es vielleicht etwas, das Sie Politikerinnen und Politikern jetzt mehr verzeihen als vorher?

Meine Bewunderung und mein Respekt für Politikerinnen und Politiker und für die Tätigkeit an sich sind sehr gestiegen. Es sind, wie Max Weber schreibt, sehr, sehr dicke Bretter, die man als Politikerin oder Politiker bohren muss. Man kann etwas anstoßen, aber man braucht immer andere, die mitgehen. Als Justizsprecherin habe ich einige Male Anträge gestellt, die genau das wiedergegeben haben, was im Regierungsprogramm stand. Dann hat sich im Justizausschuss jemand von den Regierungsparteien gemeldet und gesagt, gute Idee, wir wollen das auch, aber wir wollen die große Lösung - und stellt einen Antrag auf Vertagung. Damit ist der Antrag vom Tisch.

Ärgert Sie es heute noch manchmal, dass Sie 2016 nicht Bundespräsidentin geworden sind?

Nein. Natürlich wäre es schön gewesen, aber es war eben nicht. Ich denke eigentlich nie, was wäre, wenn. Ich habe auch so ein erfülltes Leben.

Sie sind ja eigentlich 2019 offiziell aus der Politik ausgeschieden, weil Sie mehr Zeit zum Lesen haben wollten. Wir erreichen Sie im Urlaub in Sri Lanka. Kommen Sie zumindest dort zum Lesen?

Gerade lese ich "Ein Haus für Mr. Biswas" von V.S. Naipaul, davor "Magische Saat" vom selben Autor. Und wieder davor "Die Holländerinnen" von Dorothee Elminger. Ich lese, wann immer ich kann. Wenn ich zu Hause bin, gehe ich aber auch viel spazieren und höre oft Podcasts.

An welche Phase in Ihrem Leben denken Sie denn heute besonders gern zurück?

Als meine Kinder noch klein waren. Ich habe immer schon sehr gern gelesen. Als meine Kinder klein waren, habe ich ihnen abends immer vorgelesen. Das war auch für mich einfach schön. Die ganze Kinderliteratur sind wir durchgegangen. Auch meine Lieblingsbücher als Kind, Dr. Dolittle zum Beispiel.

Dabei habe ich nie gedacht, dass ich einmal Kinder haben werde. Ich wollte immer berufstätig sein. Kinder zu haben ist ein großes Geschenk, für das ich sehr dankbar bin.

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