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Die IPC (Integrated Food Security Phase Classification) ist eine Initiative von 21 Hilfsgruppen und UN-Organisationen, die unter anderem von der EU finanziert wird. Für die Einstufung als Hungersnot müssen mindestens 20 Prozent der Menschen unter extremer Nahrungsmittelknappheit leiden, jedes dritte Kind akut unterernährt sein und täglich zwei von 10.000 Menschen an Hunger oder den Folgen sterben. Bis Ende September werde die Zahl der hungernden Menschen im Gazastreifen voraussichtlich auf 641.000 ansteigen, warnt die IPC.
UN-Generalsekretär António Guterres sieht die Verantwortung für die Hungersnot in Teilen des Gazastreifens bei Israel. "Als Besatzungsmacht hat Israel eindeutige Verpflichtungen nach internationalem Recht - einschließlich der Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten sicherzustellen", sagte Guterres. Was nun passiere, sei der "vorsätzliche Zusammenbruch der Systeme, die für das menschliche Überleben notwendig sind".
Es handle sich um eine von Menschen verursachte Katastrophe, moralischen Bankrott und ein "Versagen der Menschheit selbst", so Guterres weiter. Man dürfte nicht zulassen, dass die Situation in Gaza ungestraft weitergehe. "Keine Ausreden mehr. Die Zeit zum Handeln ist nicht morgen - sie ist jetzt. Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand, die sofortige Freilassung aller Geiseln und uneingeschränkten, ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe."
Auch UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk machte die israelische Regierung für die Hungersnot im nördlichen Gazastreifen verantwortlich. Dies sei das "direkte Ergebnis der von der israelischen Regierung ergriffenen Maßnahmen", erklärte Türk. Der Einsatz von Hunger als Waffe sei ein Kriegsverbrechen. Die israelische Militärbehörde Cogat warf den Vereinten Nationen im Gegenzug vor, unbewiesene Behauptungen zu verbreiten. Cogat verwies auf die Hamas, der sie eine Lügenkampagne über Hungersnot vorwirft.
Alexander Bodmann, Vize-Präsident der Caritas Österreich, erklärte in einer Aussendung: "Wenn eine Hungersnot ausgerufen wird, ist die Lage in einem Land bereits katastrophal: 20 Prozent der Haushalte haben nicht ausreichend Lebensmittel, 30 Prozent der Kinder sind akut mangelernährt. Täglich sterben Erwachsene und Kinder an Hunger und Krankheit." Die österreichische Bundesregierung müsse sich öffentlich und unmissverständlich für einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten humanitären Zugang einsetzen.
Der israelische Regierungschef Benjamin Netanyahu nannte den Bericht eine "glatte Lüge". Israel verfolge keine Politik des Aushungerns, sondern der Hungerprävention, schrieb Netanyahu auf der Plattform X. Israel habe seit Beginn des Krieges die Lieferung von zwei Millionen Tonnen Hilfsgütern in den Gazastreifen ermöglicht. Viele Lastwagen seien allerdings geplündert worden, ehe sie die Warenhäuser für Hilfsgüterverteilung erreicht hätten.
Zuvor hatte bereits das israelische Außenministerium auf X geschrieben, es gebe keine Hungersnot in Gaza. Die Einschätzung der zuständigen IPC-Initiative basierten auf falschen Angaben der Hamas. In den vergangenen Wochen hätten Hilfslieferungen "den Gazastreifen mit Grundnahrungsmitteln überschwemmt". Die IPC-Initiative hatte zuvor erklärt, die für eine Hungersnot notwendigen Kriterien seien im Regierungsbezirk Gaza, in dem auch die Stadt Gaza liegt, erfüllt.
Die palästinensische Autonomiebehörde wiederum rief die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf. Alle Länder und vor allem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen müssten nun den Druck auf Israel erhöhen, so die Forderung der Autonomiebehörde laut einer Meldung der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa. Das sei der einzige Weg, um der Hungersnot zu begegnen und ihre Ausbreitung zu verhindern.
Unterdessen wurden laut Verteidigungsminister Israel Katz die Pläne zum Einsatz der Armee gegen die Hamas in Gaza Stadt genehmigt. Dies beinhalte die Umquartierung der Bewohner der größten Stadt des Gazastreifens. "Die Tore der Hölle werden sich bald über den Mördern und Vergewaltigern der Hamas in Gaza öffnen – bis sie Israels Bedingungen zur Beendigung des Krieges zustimmen", drohte Katz. Andernfalls werde die Stadt Gaza aussehen wie Rafah und Beit Hanun. Beide Orte wurden durch israelische Bombardierungen großflächig zerstört. In der Stadt Gaza halten sich Schätzungen zufolge derzeit noch rund eine Million Menschen auf. Die ohnehin katastrophale Lage der Zivilbevölkerung könnte sich durch die Offensive noch weiter verschlimmern.
Israelische Medien hatten zuvor berichtet, dass Katz sowie Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Militärs am Donnerstag zu einer Sicherheitsberatung zusammenkommen wollten, um die Einsatzpläne zur Einnahme der Stadt Gaza billigen. Netanyahu hatte am Donnerstag auch weitere Verhandlungen über die Freilassung der aus Israel entführten Geiseln in Aussicht gestellt. In Israel wurde auch spekuliert, Israels Ankündigung einer Ausweitung des Kriegs könne eine Verhandlungstaktik sein, um die Hamas unter Druck zu setzen.
Das Leben von 132.000 Kindern unter fünf Jahren in dem Regierungsbezirk Gaza, in dem auch die Stadt Gaza liegt, sei wegen Unterernährung bedroht, teilte die IPC-Initiative mit. 41.000 davon würden als besonders bedrohliche Fälle betrachtet, doppelt so viele wie bei der vorherigen Einschätzung im Mai. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es das erste Mal, dass in einem Land des Nahen Ostens eine Hungersnot ausgerufen wird.
"Ein sofortiger Waffenstillstand und die Beendigung des Konflikts sind von entscheidender Bedeutung, um eine ungehinderte, großangelegte humanitäre Hilfe zur Rettung von Menschenleben zu ermöglichen", teilte IPC (Integrated Food Security Phase Classification) mit. Das israelische Außenministerium teilte nach der IPC-Veröffentlichung dagegen mit: "Es gibt keine Hungersnot in Gaza." Seit Kriegsbeginn seien mehr als 100.000 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangt, teilt das Außenministerium mit.
Ehe eine Hungersnot erklärt wird, müssen drei Kriterien erfüllt sein: Mindestens 20 Prozent der Haushalte sind von einem extremen Lebensmittelmangel betroffen, mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung und täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit. Alle drei treffen zu, wie Jean-Martin Bauer vom Welternährungsprogramm (WFP) in einem Briefing für Journalisten in Genf sagte.
Die IPC-Initiative wurde 2004 gegründet. Sie ist für die Einschätzung von Hungerlagen in aller Welt zuständig. In der IPC-Skala gibt es fünf Stufen der Ernährungslage in einem Land oder einer Region. Die allerhöchste - und schlimmste - ist Stufe fünf: "Katastrophe/Hungersnot". Darunter spricht man von Hungerkrisen. Bisher galt für den gesamten Gazastreifen die Stufe vier ("Emergency/Notfall").
In den vergangenen 15 Jahren wurden nach IPC-Angaben vier Hungersnöte bestätigt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 im Südsudan und zuletzt 2024 im Sudan. UNO-Nothilfekoordinator Tom Fletcher kritisierte, dass sich Lebensmittel an den Grenzen stauten und appellierte an den israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu. "Lassen Sie uns Lebensmittel und andere Hilfsgüter ungehindert und in großem Umfang hineinbringen. Beenden Sie die Vergeltung."
Die Außenminister mehrerer europäischer Länder sowie Australiens und Großbritanniens verurteilten unterdessen die israelischen Pläne zum Bau einer Siedlung östlich von Jerusalem im besetzten Westjordanland. Die Entscheidung der israelischen Planungskommission für das sogenannte E1-Gebiet sei inakzeptabel und ein Verstoß gegen internationales Recht, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.