Salzburg Landeshauptmann Wilfried Haslauer macht sich im News-Sommergespräch Gedanken über die Politik und die Demokratie. Dieser gehe es wie dem Delinquenten auf einer mittelalterlichen Streckbank, meint er. Zum Zustand seiner Partei, aber auch der SPÖ sagt er, sie seien durch die Macht "abgenützt".
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Im Superwahljahr 2024 sehen wir weltweit, wie das Pendel extrem nach rechts oder links schwingt. Die politische Mitte, für die Sie stehen, kommt kaum zu Zug. Was schließen Sie daraus?
Dass die Demokratie auf der Streckbank ist. Sie kennen das mittelalterliche Folterinstrument? Die Ränder dehnen sich. Die Mitte wird dünner. Was man bei den Wahlen in der EU und in Frankreich auch gesehen hat, ist, dass die Rechte ihre Umfragen nicht ins Ziel bringt. Auch wenn sie so stark ist wie noch nie.
Das starke Abschneiden liegt woran?
Die Rechten haben eine Erzählung: Es gibt Pandemie, Inflation, Krieg, enorme technische Entwicklungen, die keinen Stein auf dem anderen lassen, gesellschaftliche Umwälzungen, Gender, Wokeness – viele Dinge, die die Leute, wenn sie nicht in urbanen Zirkeln unterwegs sind, gar nicht verstehen. Also muss es wieder werden wie früher, eine total rückwärtsgewandte Sicht. Und: Wir wollen wieder wir sein können. Keine Ausländer, keine Umwälzungen, kein Zuzug. Das fällt auf fruchtbaren Boden.
Aber beides funktioniert in der Realität nicht.
Nein, beides funktioniert nicht. Die Erzählung der ganz linken Seite ist auch simpel: Der Mensch ist gleich von Geburt an und muss gleich sein. Doch die gesellschaftliche Wirklichkeit verfremdet diese Gleichheit, daher ist es die Aufgabe des Staats, zu intervenieren und die Gleichheit wiederherzustellen, indem es gleiches Gehalt, gleiche Rechte, gleiche Wohnungen und Produktionsmittel in staatlicher Hand gibt. Die kommunistischen Ideen erhalten neue Befeuerung.
In Salzburg ist die KPÖ erfolgreich.
Dieser Erfolg hat nicht so sehr mit Ideologie zu tun. Das Neue ist immer interessant. Die Leute haben ein unverbrauchtes Gesicht gesehen und gesagt: Warum nicht? Da sind Leute zur Wahl gegangen, die sonst nicht wählen, und haben Protest kundgemacht.
Was muss die ÖVP tun, damit das Pendel auch zur ihr schwingt?
Die Frage ist: Wo finden Heilsversprechen statt? Kann man statt Heilsversprechen Verlässlichkeit hineinbringen? Wählen ist immer eine Frage der Erwartungshaltung an die Zukunft, nicht eine Einschätzung der Vergangenheit. Es geht darum, Ansagen so zu platzieren, dass die Leute sagen, dieser Person vertraue ich, dass sie es richtig macht.
Die meisten Menschen halten sich für die Mitte der Gesellschaft, finden aber mittige Politiker ein bissel fad. Wenn aber eine Mitte-Partei wie die ÖVP extreme Ansagen macht, wirft man ihr vor, nach rechts zu rücken und nicht authentisch zu sein.
Das Dilemma der Mitte-Parteien ist: Sie sind abgenützt. Sie sind seit Jahrzehnten an der Macht. Es gibt den Bedarf nach etwas Neuem. Das können zum Beispiel neue Köpfe sein. Sebastian Kurz hat das sehr geschickt gemacht, dieses Neue im Bett einer Mitte-Partei zu sein. Im Moment gelingt das weder ÖVP noch SPÖ, wobei diese stark nach links driftet.
Aber ein neues Gesicht hätte.
Es geht in der Politik darum, eine neue Erzählung zu finden. Die kann meines Erachtens nur über Zuversicht, Freude an der Arbeit, Freude am Leben, Optimismus gehen und nicht über dieses nörglerische "Alles wird schlechter", das uns vorgebetet wird. Das Land ist wirklich gut durch die Krisen gesteuert. Den Leuten geht es im Großen und Ganzen gut, man kann hier gut leben und stolz darauf sein.
Dennoch sind die Leute so unzufrieden mit der Regierung wie noch nie.
Es münzt sich noch nicht in positive Emotionen um, obwohl es besser wird. Das haben wir bei der EU-Wahl gesehen. Unsere Funktionäre sind wesentlich motivierter und wollen um Platz eins kämpfen, nicht um Platz zwei.
Sie haben das Bild von der Streckbank verwendet. Die hat für den Delinquenten nie Gutes gebracht. In welchem Stadium der Überdehnung ist unsere Demokratie?
Auf der Streckbank sind zuerst die Gelenke aus den Pfannen gehüpft, dann die Muskeln gerissen. Man verliert Beweglichkeit und Spannkraft. So ungefähr kann man das übersetzen, weil wir in einer Phase der Überzeichnung, der Polarisierung, der Überdehnung sind. Ein vernünftiger Diskurs ist nur schwer möglich. Die Leute igeln sich in ihrer Blase ein, sind nicht bereit, die Argumente Andersgläubiger aufzunehmen. Die Demokratie braucht aber Diskussions- und Diskursfähigkeit, die Toleranz, andere Meinungen zuzulassen. Insgesamt läuten wir gerade den Anfang vom Ende der Aufklärung ein.
Wie kommen Sie zu diesem Befund?
Aufklärung fußt auf Rechtsstaatlichkeit – die gibt es nur noch dann, wenn es einem gerade in den Kram passt. Sie fußt auf Toleranz, auf Vernunft – Stichwort Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgläubigkeit. Rechtsstaatlichkeit, Vernunft, Toleranz sind wesentliche Errungenschaften der Aufklärung, verbunden mit dem christlichen Weltbild, das die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Diese Pfeiler haben Europa groß gemacht. Wenn du an einem Pfeiler sägst, wird es schwierig.
Wilfried Haslauer, 68
Der Sohn des früheren Salzburger Landeshauptmanns Wilfried Haslauer senior studierte Rechtswissenschaften und arbeitete als Anwalt, bevor er 2004 in die Politik wechselte. Er war zunächst Landeshauptfrau-Stellvertreter unter Gabi Burgstaller. Seit 2013 ist Haslauer selbst Landeshauptmann von Salzburg, er regierte zunächst mit einer "Dirndl"-Koalition aus ÖVP, Grünen und Neos. Nach deutlichen Verlusten bei der Landtagswahl 2023 entschied er sich für eine Zusammenarbeit mit der FPÖ.
Ist der Anfang vom Ende der Aufklärung noch zu stoppen?
Auch hier schwingt das Pendel hin und her. Die Frage ist auch, angesichts des großen Zuzugs, wie sehr das christliche Menschenbild Europa noch prägt. Wobei ich dieses Menschenbild nicht nur auf eine Religion beschränken würde. Es ist ein universeller Gedanke. Ich bin überzeugt, dass auch 95 Prozent der Muslime oder sogar mehr ebenfalls auf dem Boden dieser Werte stehen.
Das heißt, der gesellschaftliche Zusammenhalt ist noch zu retten?
Ja, den aufzugeben, wäre ganz schlecht. Sonst müsste ihn irgendwer anschaffen, den Zusammenhalt, und was das heißt, wissen wir auch.
Sie klingen sehr pessimistisch, wenn Sie sagen, dass die Fundamente der Demokratie erodieren.
Ja, sie erodieren. Sie werden nicht mehr als Errungenschaft gesehen, weil wir keine solidarische, sondern eine ichbezogene Gesellschaft haben, die nicht mehr das Gemeinsame in den Mittelpunkt stellt oder nationale Ziele, große Erzählungen. Im Moment haben wir keine positive Erzählung, die Österreich verbindet. Wir haben nur die defensive Erzählung: "Es ist uns noch nie so gut gegangen." Eine gute Erzählung muss in die Zukunft gerichtet sein, nicht rückwärtsgerichtet oder romantisierend. Sie muss tief drinnen in den Leuten das Gefühl erwecken: Ja, das ist unser Weg.
Was könnte eine Zukunftserzählung für unser Land sein?
Das ist schwer zu sagen, weil wir alles erreicht haben. Das ist unser Dilemma. Wir sollten wieder Freude entdecken. Die Freude am Gelingen, Freude am Gefühl, etwas beizutragen. Gelingen ist überhaupt kein Wert mehr. Verhindern ist momentan der Wert.
Woher kommt dieser Missmut?
Die Frustration entsteht daraus, dass man alles an den Staat überträgt. Wenn jemand ein Problem hat, sind der Staat und die Politik dafür verantwortlich. Wir haben das Gefühl verloren, dass wir uns primär selbst um unsere Angelegenheiten kümmern sollten.
Können Politiker noch Vorbilder sein, wenn ihr Ruf so ramponiert ist?
Die öffentliche Meinung hat sich darin festgezurrt, dass alles an der Politik zu kritisieren ist und nur schlecht sein kann. Es ist das Verständnis verloren gegangen, dass Politik eigentlich wir alle sind. Dass wir das System, den Staat und seine Leistungen – wie das Gesundheitssystem und das soziale Netz – gemeinsam aufgebaut haben. Stattdessen werden Einzelfälle herausgepickt, die schlecht laufen. Die gibt es natürlich. Aber du kannst als Politiker heute eigentlich gar nichts richtig machen.
Sind Politiker dadurch ängstlich geworden, trauen sich nicht mehr, unangenehme Wahrheiten zu sagen?
Die Politik tut sich schwer, Kante zu zeigen, Stellung zu beziehen, weil du dann sofort einen Shitstorm aus allen möglichen Ecken hast. Wichtige Entscheidungen sind meistens umstritten. Wenn alle dafür sind, dann stimmt etwas nicht. Ich finde aber die Entwicklung nicht gut, dass man beginnt, Volksbefragungen zu machen, um die Verantwortung wegzudelegieren.
Was ist Ihnen zuletzt als Politiker gut gelungen?
Die großen Kulturinvestitionen in Salzburg haben Akzeptanz gefunden. Wir haben 500 Millionen Euro für ein Konjunkturprogramm mit Kulturbauten bereitgestellt. Das ist sehr viel Geld, der Erkenntnis folgend, dass du in deine Stärke investieren musst. Kunst und Kultur sind nun einmal die Salzburger DNA. Sie bewegen wirtschaftlich enorm viel und machen uns weltweit sichtbar.
Wir haben zu Beginn über das Erstarken des rechten Rands gesprochen. Sie versuchen in Salzburg, die Rechte zu entschärfen, indem sie sie einbinden.
Mir ist die Tonalität ein großes Anliegen. Es ist nicht notwendig, dass man einander beflegelt und den Mitbewerbern reflexartig alles Mögliche unterstellt. Das passiert leider in der Politik, auch in Salzburg, aber in einem weitaus geringeren Ausmaß als auf Bundesebene. Die Leute wollen keinen Streit, die wollen, dass zusammengearbeitet wird. Das tun wir mit der FPÖ. Ich habe mir schwergetan, diese Koalition einzugehen. Aber das Wahlergebnis hat eigentlich nichts anderes möglich gemacht. Wir haben uns committed, dass man sich ordentlich aufführt. Und das passiert. Die Aggression in der politischen Diskussion ist deutlich zurückgegangen, wir haben eine pragmatische Zusammenarbeit mit der FPÖ. Möglicherweise wird die Nationalratswahl eine Belastungsprobe. Schauen wir, ob wir uns da anstecken lassen.
Soll die ÖVP auf Bundesebene wieder mit der FPÖ regieren? Abgesehen von ihrem Problem mit Herbert Kickl?
Jetzt sind wir endlich dort.
Die ÖVP schließt Kickl aus. Aber muss die Demokratie nicht auch die Extreme aushalten?
Es muss einen Rahmen des Begegenbaren geben, wo man miteinander kann, und an einem gewissen Punkt geht es dann halt nicht mehr. Der Bundeskanzler hat sehr klar gemacht, was er von Herrn Kickl hält, und das teile ich uneingeschränkt. Für den Rest muss man dann sehen, wie die Wahlen ausgehen.
Die ÖVP schließt auch eine Zusammenarbeit mit Leonore Gewessler aus und erhebt den Vorwurf des Amtsmissbrauchs, weil sie dem EU-Renaturierungsgesetz zugestimmt hat. Wann tut ein Politiker das Richtige? Wenn er den Usancen folgt oder dem Gewissen?
Wir haben ein System, das durch und durch verrechtlicht ist. Die Verfassung sagt, wer wofür zuständig ist und welche Grundrechte es gibt. Der Code of Conduct ist, dass man sich an diese Säulen einer Demokratie, die über die Verfassung lebt, hält und nicht an persönliche Befindlichkeiten. Daher muss die Ministerin bei Agenden, in denen die Gesetzgebung und Vollziehung bei den Ländern liegen, ihr Abstimmungsverhalten auf EU-Ebene nach diesen ausrichten. Ich vermute mal, die Grünen wollten mit dieser Aktion Stimmen bei der Wahl generieren. Das war das politische Kalkül dahinter. Im Sinne der Aufklärung trennen wir Religion und Staat. Doch wenn jemand sagt, er muss in Naturschutzfragen seinem Gewissen folgen, dann hat das ja eine fast religiöse Anmutung.
Wenn die FPÖ bei der Nationalratswahl Platz eins belegt, steht ihr gemäß der Usancen das Amt des Ersten Nationalratspräsidenten zu. Und normalerweise wird der Erste vom Bundespräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt. Muss eine Demokratie das nicht aushalten?
Man muss unterscheiden zwischen Verfassungsrecht und Usancen. Das sind Gebräuche, die sich eingebürgert haben, damit man dann einen berechenbaren Vorgang hat. Aber man ist daran im Prinzip nicht gebunden. Der Herr Bundespräsident hat deutlich durchblicken lassen, dass er Herrn Kickl nicht mit einer Regierungsbildung zu betrauen beabsichtigt. Schauen wir mal, was er macht. Es geht um mehr als Symbolik. Wenn der Bundespräsident jemanden beauftragt, eine Regierung zu bilden, gibt er dieser Person einen Vertrauensvorschuss. Wie ich ihn einschätze, hätte er ein massives persönliches Problem, dieses Signal zu setzen.
Und das Nationalratspräsidium?
Die FPÖ ist im Verfassungsbogen, auch wenn sie Positionen vertritt, die viele nicht für angemessen halten. Wenn ein bestimmter Prozentsatz der Österreicherinnen und Österreicher sie wählt, wird man das zur Kenntnis nehmen müssen. Wir haben schon so viel ausgehalten. Wir halten auch noch einmal die FPÖ in einer stärkeren Position aus.
Wenn Sie etwas an Österreichs Politik ändern könnten, was wäre das?
Ich würde die Alltagsaufgeregtheit abschaffen. Dieses reflexartige Schlechtmachen von Vorschlägen, die von anderen kommen, dieses Parteisekretäre-Deutsch, das irgendwie recht mühselig ist und den Anspruch verloren hat, ernst genommen zu werden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/2024 erschienen.