Abschluss der sommerlichen Gesprächsreihe mit den Länderchefs: Christopher Drexler ist seit zwei Jahren Landeshauptmann der Steiermark. Im Interview spricht er über das Niveau der Debattenkultur in Österreich, die intellektuelle Kraft der ÖVP und vernünftige Positionen in der heiß umstrittenen Migrationsfrage
Die ÖVP Steiermark galt früher als intellektuelles Kraftzentrum der ÖVP. Haben Sie diesen Anspruch immer noch?
Auf jeden Fall. Mir war es daher auch wichtig, etwa das "Modell Steiermark" als Policy Think Tank der Steirischen Volkspartei wiederzubeleben. Da werden wir in den nächsten Wochen und Monaten bereits erste Ergebnisse sehen. Und ja, es ist mir wichtig, dass wir Politik nicht nur als ein Von-Tag-zu-Tag-Weiterhanteln verstehen, sondern uns in offenen Runden und Foren damit beschäftigen, wohin sich die Welt insgesamt entwickelt. Heruntergebrochen dann natürlich auch auf die konkreten Lebensverhältnisse in der Steiermark.
Können Sie mir ein Beispiel nennen, einen Gedanken, einen Zugang, der sich vom Tagespolitischen abhebt und Ihnen wichtig ist?
Eine der großen Fragestellungen ist, wie sich die Demokratie weiterentwickeln wird. Wie können wir sicherstellen, dass unsere westlichen, freiheitlichen Demokratien weiterhin funktionieren, auch im Wettbewerb mit anderen Teilen der Welt? Das beschäftigt mich auch persönlich sehr. Eines der besorgniserregendsten Phänomene unserer Zeit ist eines, das ich "Digitalisierung im Kopf" nenne. Es gibt nur mehr Ja oder Nein, Null oder Eins, Weiß oder Schwarz. Nicht zuletzt durch diese von Social Media vorgegebene Videoclip-Taktung der öffentlichen Debatte graben sich immer mehr Menschen in ihre Position ein. Es gibt keine Bereitschaft mehr, aufeinander zuzugehen. Und ich glaube, es wird die entscheidende Frage sein, wie es gelingt, die Kultur des Aufeinanderzugehens wieder zu etablieren und einen tragfähigen Kompromiss als Tugend zu sehen und nicht als das Gegenteil.
All das hat auch viel mit der modernen, international organisierten Medienlandschaft zu tun. Welche Möglichkeiten hat man im kleinen Österreich überhaupt, dagegen vorzugehen?
Der wesentlichste Punkt ist, dass man über Debattenkultur nicht nur klagen darf, sondern auch selbst positive Beiträge liefern muss. Das gehört auch zur Eigenverantwortung der Politikerinnen und Politiker.
Sie kritisieren den Stil der politischen Auseinandersetzungen in diesem Land?
Das ist aber keine bloße stilistische Frage. Ja, der Stil ist zum Teil erbärmlich, insofern muss man auch die Stilsicherheit wieder gewinnen. Aber es geht um mehr als um den Stil. Es geht einfach um das, was ich vorher mit aufeinander zugehen beschrieben habe: Respekt voreinander, auf Argumente eingehen, versuchen, in einem Wettstreit der Argumente zu einer möglichst guten Lösung zu kommen. Das ist eigentlich schon eine inhaltliche Frage.
Christopher Drexler, 53
Der gebürtige Grazer und studierte Jurist ist seit Juli 2022 Landeshauptmann der Steiermark, er folgte auf Hermann Schützenhöfer, der ihn jahrelang als "Kronprinzen" aufgebaut hatte. Drexler gilt als Intellektueller, der früher mit unkonventionellen Ideen für Aufmerksamkeit sorgte. Sein Weg an die Spitze verlief klassisch: Landtagsabgeordneter, Klubobmann des Landtagsklubs, Landesobmann des Steirischen ÖABB; zwischen 2014 und 2022 war Drexler als Landesrat für diverse Ressorts verantwortlich
Die ÖVP Steiermark ist früher immer wieder mit unkonventionellen Vorschlägen aufgefallen und hat versucht, die parteiinterne Debatte zu befeuern. Das hört man jetzt nicht mehr. Leidet der intellektuelle Diskurs in einer Gesellschaft, wenn nicht mehr offen Ideen ausgetauscht werden?
Ich bekenne mich immer zu einem offenen Austausch von Ideen. Aber die innerparteiliche Provokation darf kein Selbstzweck sein. Ich führe gerne jede Debatte, das aber auch gerne intern. Es braucht nicht immer das große Forum, um Kritik zu üben oder abweichende Vorschläge zu machen.
Wenn alle immer nur intern diskutieren, wird zwar ein Bild von Einheitlichkeit vermittelt, aber nicht von produktivem Streit und Meinungsvielfalt.
Ich mache mir um die Lebendigkeit unserer Debatte wenig Sorgen. Es ist aber auch so, dass wir im Moment das Glück haben, in der ÖVP bei einigen grundlegenden Fragen große Einigkeit zu haben. Wenn ich mich zur Leistung, Eigenverantwortung und Sicherheit bekenne, dann überrascht Sie wahrscheinlich wenig, dass ich da keinen Dissens zum Bundeskanzler habe. Im Gegenteil. Es geht einfach darum, diese Werte auch in der allgemeinen Debatte wieder zu kultivieren und zu etablieren. Leistung muss sich wieder auszahlen. Sozialhilfe darf kein Lebensmodell werden. Es kann nicht für alles immer der Staat zuständig sein. Eltern sind für die Erziehung ihrer Kinder zumindest mitverantwortlich. Das sind alles Dinge, die man plötzlich benennen muss. Möglicherweise war das vor zwanzig Jahren noch eine Selbstverständlichkeit.
Vor dem Hintergrund dieser Selbstverständlichkeit konnte man besser über Detailfragen streiten, jetzt muss man schon die Grundsätze gemeinsam verteidigen?
Absolut.
Sie selbst haben auch immer wieder Vorschläge gemacht, die von der Parteilinie abwichen. Sie haben zum Beispiel einst die Neutralität in Frage gestellt. Eine Position, die heute niemand mehr zu formulieren wagt. Würden Sie zustimmen, dass Politik mittlerweile zu sehr von Vorsicht und Ängsten getrieben ist?
Ich hoffe nicht, dass die Politik von Ängsten getrieben ist. Und Vorsicht ist von vornherein nicht unbedingt etwas Schlechtes. Aber natürlich ist es wichtig, dass man klare Positionen bezieht, dass man sich Debatten aussetzt und nicht angstvoll irgendwo versteckt. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass diese Gefahr sich schon realisiert hätte.
Die Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr verändert. Ein falscher Halbsatz im falschen Kontext und die ganze Lawine bricht über dich herein. Sorgt das dafür, dass man vorsichtiger, vielleicht weniger spontan formuliert?
Diese Angst kenne ich nicht, ehrlich gesagt. Ich bin jederzeit bereit zu spontanen Formulierungen. Aber natürlich ist es ein Unterschied, ob ich irgendwo ein junger Abgeordneter oder Bundeskanzler oder Landeshauptmann bin. Verantwortungsbewusstsein ist schon auch eine wesentliche Kategorie. Und insofern muss man natürlich Positionen und Worte gut abwägen. Aber das sollte nicht so sehr abgeschliffen sein, dass dann alles nur mehr aerodynamischer Mainstream ist.
Viele Leute können mit dem, was sie als typischen Politikersprech erleben, wenig anfangen. Sie haben das Gefühl, es kommen immer dieselben Floskeln und Phrasen, und wenden sich bis zu einem gewissen Grad auch von der Politik ab.
Deswegen muss man klare Antworten geben.
Passiert das genug?
Ich bemühe mich sehr darum.
Wird zu wenig Inhalt transportiert?
Das glaube ich nicht. Die Frage ist, ob der kommunizierte Inhalt auch ankommt. Wir haben in der Steiermark in den letzten zwei Jahren gerade bei jenen Themen, die das Alltagsleben der Menschen sehr intensiv betreffen, ganz große Würfe hingelegt. Wir haben eine große steirische Wohnraumoffensive gestartet. Darauf weise ich deswegen bewusst hin, weil, wenn die KPÖ irgendwo drei Zehntelprozentpunkte mehr Wahlergebnis macht, es wieder Kommentare gibt, die etablierten Parteien hätten das Thema Wohnen nicht im Fokus gehabt. Wir haben es im Fokus, mehr als mancher Mitbewerber. Ein zweiter Bereich: Kinderbildung und Kinderbetreuung. Da haben wir in den letzten zwei Jahren massiv an der Qualität und an der Quantität geschraubt.
Auch für die ÖVP-Grünen-Bundesregierung gilt, dass sie inhaltlich gar nicht wenig weitergebracht hat, das bei den Leuten aber trotzdem nicht richtig anzukommen scheint. Warum ist das so?
Weil auch die beste Regierungsarbeit überlagert wird. Einerseits von dem Empfinden, dass wir in den letzten Jahren Krisen durchlebt haben, was ja objektiv auch stimmt. Zweitens, weil es eine generelle Sorge gibt, die viele auch mit dem Migrationsthema verbunden sehen. Eine Sorge um kulturelle Identität. Eine Sorge über den grundsätzlichen Lauf der Welt. Und diese Sorgen muss man ansprechen.
Die FPÖ liegt in allen Umfragen zur Nationalratswahl und auch in manchen zur Steiermark-Wahl vorne. Hat man diese Sorgen bisher zu wenig ernst genommen?
Die Opposition hat natürlich immer ein leichteres Spiel als die Regierung. Sie kann sehr leicht die Rolle übernehmen, Sorgen, Ängste, Befürchtungen aufzunehmen. Eine Regierung trägt Verantwortung und ist damit in einer komplexeren Aufgabenstellung. Ich glaube schon, dass die Regierungen - meine Landesregierung mit Sicherheit, ich glaube, auch Teile der Bundesregierung -Sensibilität für diese Themen haben und diese Sorgen ernst nehmen. Und auch, dass es gelingen kann, diese Sensibilität zu vermitteln. Ob in ausreichendem Maße, zeigen die Wahlergebnisse. Aber derzeit haben wir nur Umfragen und noch keine Wahlergebnisse.
Nützt es nicht letztlich der FPÖ, wenn Sie das Thema Migration im Wahlkampf sehr betonen, weil die FPÖ bei diesem Thema immer entfesselter und hemmungsloser auftreten kann?
Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall. Bei einem Thema, bei dem 85 bis 90 Prozent der Menschen Sorgen in diesem Land haben, ist es mir wichtig, vernünftige Positionen zu benennen. In diesem Fall sind vernünftige Positionen oft restriktive Positionen. Zwei Beispiele: strengeres Staatsbürgerschaftsrecht auf der einen, kein Familiennachzug auf der anderen Seite. Damit nicht als einziges Ventil die Freiheitlichen bleiben, wo man dann nebenbei auch noch mit Putin knutschen und diverse Verschwörungserzählungen mit in Kauf nehmen muss. Ich glaube, dass es einen Markt für Vernunft in diesem Land gibt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 37/2024 erschienen.