Aschenputtel und Schneewittchen, Dornröschen und Gretel, Rapunzel und Rotkäppchen - sie haben alle Geschichte geschrieben, doch ihre Geschichten wurden durch die männlich dominierte Überlieferung radikal verfälscht.
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Kein Märchenton, auch wenn Märchenfiguren sprechen
Wenn sich "die Ajattaras", wie Autorin Minna Rytisalo ihren kommentierenden Chor in Anlehnung an finnische Waldgeister und Göttinnen zusammenfasst, in dem Roman "Zwischen zwei Leben" zu Wort melden, dann geschieht das durchaus nicht im Märchenton.
Zwei Leben einer Frau und der Bruch dazwischen
"Zwischen zwei Leben" ist kein Märchenbuch, und die beiden Leben, die Protagonistin Jenny Hill führt, haben nichts Märchenhaftes. Das erste Leben ist eines der Anpassung und der Ein- und Unterordnung als Ehefrau und Mutter. Das zweite Leben ist der Versuch, alleine einen Neuanfang als selbstbestimmte und selbstbewusste Frau zu schaffen.
Dazwischen liegt ein Entschluss, mit dem das 2023 im finnischen Original und nun auf Deutsch erschienene Buch beginnt: Die 48-Jährige verlässt ihren Mann Jussi und bezieht eine eigene Wohnung. Sie hat genug vom Betrogen- und Ignoriert-Werden.
Typisch und doch ungewöhnlich dank der Erzählweise
Die Geschichte, die Minna Rytisalo, deren erfolgreicher Debütroman "Lempi, das heißt Liebe" 2018 in deutscher Übertragung erschienen ist, in ihrem neuen Buch erzählt, ist eine ganz typische und auch in den Details wenig originelle. Außergewöhnlich wird sie durch die Erzählweise. Die Gedanken und Gefühle der Hauptfigur, die eigentlich Jenni Mäki heißt, werden in regelmäßigen Abständen von bekannten weiblichen Märchenfiguren kommentiert und gespiegelt. Aus dem einzelnen Frauenschicksal wird so eine für die Geschlechterdifferenz in der westlichen Gesellschaft exemplarische Erfahrung.
Zwischen Schwestern, Self-Empowerment und Social Media
Aber es gibt nicht nur Aschenputtel, Rotkäppchen und Kolleginnen, die neben Jenny in Erscheinung treten. Jennys Schwester Johanna ist eine erfolgreiche Influencerin und Lebensberaterin, die weibliches Empowerment zum Geschäftsmodell erhoben hat. Die Gespräche oder Wochenenden der ungleichen Mäki-Schwestern, die zumindest ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen gemeinsam haben, zählen zu den intensivsten Passagen des Buches. Doch auch Brigitte Macron spielt eine gewichtige Rolle.
Briefe an Brigitte: eine fiktive Freundin fürs Leben
Jennys Therapeutin rät dazu, Probleme und Überlegungen schriftlich festzuhalten und sich dafür ein Gegenüber auszudenken. Jenny wählt dafür die Frau des französischen Staatspräsidenten, und die Briefe an "Mme Brigitte Macron, Palais de l'Elysée" sind komisch und tragisch zugleich.
Je mehr sie nämlich ihren Zweck erfüllen, wechselt der Ton, und der Umstand, dass die um viele Jahre ältere ehemalige Lehrerin sich nicht nur in eine Affäre mit ihrem Schüler eingelassen, sondern für ihn auch ihre Familie verlassen hat, um sich einen persönlichen Lebenstraum zu erfüllen, der stark von Macht und Öffentlichkeit bestimmt wird, sorgt für manchen kritischen Kommentar - den Mme Macron freilich nie zu Gesicht bekommen wird. Therapeutische Briefe sind für die Schublade, nicht für den Briefkasten.
Resonanz
Im Posteingang von Minna Rytisalo dagegen haben sich laut einem Verlagsinterview nach dem Erscheinen ihres Romans zahlreiche Nachrichten von Leserinnen gefunden, "die mir erzählt haben, dass ihnen das Buch etwas über sie verraten hat, übers Frausein, über die Regeln und Forderungen, nach denen wir alle gelernt haben, uns zu richten". Gut möglich, dass sie demnächst auch Post aus dem deutschen Sprachraum bekommen wird.

Zwischen zwei Leben: Roman
Wolfgang Huber-Lang/APA
(Foto: Hanser Verlag)
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