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Der 77-jährige Brite, viel gelesen und hoch dekoriert, hat auf 450 Seiten ein Wunderwerk geschaffen, das die Zeitenwende, in der wir uns befinden, kritisch und warnend beleuchtet, und gleichzeitig die Möglichkeiten der Literatur, mit sprachlicher Meisterschaft Dinge zu erfassen und Menschen zu ergreifen, auslotet. Durch eine gewagte Konstruktion ist er mitten in beiden Themen und doch scheinbar ganz distanziert: Er blickt vom Jahr 2119 auf einen einzigen Nachmittag und Abend des Jahres 2014 zurück, auf einen in einer umgebauten Scheune gefeierten Geburtstag, der ein Jahrhundert später von der Literaturwissenschaft in Anspielung an ein legendäres Dinner der Dichter John Keats, William Wordsworth und Charles Lamb im Jahr 1817 als "das zweite unsterbliche Abendessen" gehandelt wird.
Dieser Oktoberabend 2014 wurde deswegen zum Gegenstand unzähliger Spekulationen und Abhandlungen, weil der Dichter Francis Blundy als Höhepunkt des Essens einen seiner Frau Vivien zum Geburtstag gewidmeten 15-strophigen "Sonettenkranz" vorgetragen hat. Dieser war nach allgemeiner Ansicht nicht nur der Höhepunkt seines Lebenswerks, sondern fasste auch die Summe dessen in ergreifende Worte, was den prekären Zustand von Leben und Liebe, Mensch und Natur zu dieser Zeit ausmachte. Ein Opus magnum, vergleichbar mit dem Besten von William Shakespeare oder zumindest mit T.S. Eliots 434-zeiligem Langgedicht "The Waste Land". Blundys Sonette gab es jedoch nur in dem auf einer Pergamentrolle niedergeschriebenen Original. Dieses ist verschollen. Niemand außer dem Dichter selbst hat es je gelesen, niemand außer den Gästen dieses Abendessens hat es je gehört.
Als das Gerücht aufkommt, Ölkonzerne hätten die Veröffentlichung dieser angeblichen Hymne auf die Schönheit der unberührten Natur mit einer hohen Geldsumme unterbunden, wird Blundy, selbst eher ein Klimawandel-Skeptiker als ein Kämpfer für die Rettung der Natur, posthum zum Heiligen einer gescheiterten Bewegung. Wie gründlich die gescheitert ist, macht Ian McEwan in den mit kleinen historischen Rückblicken versehenen Zustandsbeschreibungen der Welt im 22. Jahrhundert deutlich. Sein Szenario lehrt einem das Gruseln, auch, weil alles bloß eine scheinbar logische Weiterschreibung all' jener Entwicklungen ist, mit denen wir heute konfrontiert sind.
Kurz gesagt: Die Menschen haben es geschafft, das Antlitz der Erde gründlich zu verändern. Flut- und Klimakatastrophen sind dabei nicht einmal das Schlimmste. Die Kriege der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden von der Künstlichen Intelligenz begonnen, die sich die Chancen für den wirksamsten Präventivschlag gegen den vermeintlichen Gegner mit unmenschlicher Konsequenz ausrechnet.
Die riesige Flutwelle, die Millionenmetropolen auslöscht und das Antlitz der Erde gründlich verändert, wird von einer irrtümlich im Ozean explodierenden Atombombe ausgelöst, und die begrenzten Atomkriege in diversen Krisenregionen haben auch etwas Gutes: Gigantische Staubwolken bremsen die Erderwärmung. Das weltweite Internet bricht zusammen, das gespeicherte Menschheitswissen bleibt nur dank riesiger Datenspeicher in Nigeria erhalten, dennoch wird die Menschheit durch topografische Veränderungen und enormen Ressourcenmangel in vielen Bereichen auf den Stand der frühen Neuzeit zurückgeworfen.
Ian McEwan hat also keine guten Nachrichten aus der Zukunft. Da mag es tröstlich sein, dass sich die Menschen weiterhin vorwiegend mit jenen Dingen beschäftigen, die sie im unmittelbaren Zusammenleben in Atem halten: Zuneigung, Liebe und Sex, Freundschaft und Loyalität, Lug und Betrug. "Was wir wissen können" widmet dieser vom Alltag und von Gefühlen bestimmten Oberfläche breiten Raum. Zwischen den Zeilen zeigt er damit, warum wir die großen Menschheitsprobleme bisher nicht gelöst haben und wohl auch nicht lösen werden: Weil wir immer etwas anderes zu tun haben. Weil wir immer abgelenkt werden. Weil wir uns zu sehr mit der Gegenwart aufhalten, als dass wir ausreichend an die Zukunft denken können.
Vor diesem Hintergrund macht es auch durchaus Spaß, den vielfältigen Beziehungsproblemen jener von McEwan erdachten Menschen zuzusehen, die allesamt das Potenzial zu etwas Großem hätten. Und sich damit zufrieden geben, ihre persönlichen Vorlieben ausleben und ihre Seitensprünge und Affären geheim halten zu können. Wie aber der scheinbar ruhige Fluss der Erzählung gegen Ende des ersten Teils doch noch richtig Fahrt aufnimmt und in einem zweiten Teil nicht nur einen neuen Ton, sondern auch eine überraschende, neue Perspektive auf die zuvor ausgebreiteten Ereignisse entwickelt, das ist nichts anderes als: große Literatur.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Ian McEwan: "Was wir wissen können", aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes, 480 Seiten, 28,80 Euro)