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Das Buch beginnt mit der Wiederaufnahme dieser Beziehung nach zehn Jahren. So lange haben die beiden nicht mehr miteinander gesprochen. Ein Anruf des Vaters ändert alles: Er hat furchtbare Schmerzen, die Tochter soll die Rettung rufen. Drei Jahrzehnte Leben in Wien haben ihn nicht ausreichend Deutsch lernen lassen, dass er mit der Notsituation selber fertig werden kann. Die Tochter übernimmt. Wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hat.
Didi kennt solche Situationen zur Genüge - und weiß, dass ihr Schicksal kein Einzelfall ist. "Dass ich funktionierte, war eine Voraussetzung für das Funktionieren der gesamten Familie", analysiert die in der Slowakei Geborene. "Der Erfolg der 'Eldest Immigrant Daughter' wird nicht nur an ihrem eigenen Erfolg gemessen, sondern daran, wie gut sie alle anderen zu erfolgreichen Karrieren und schließlich ins Glück führen kann." Die neue Lage, in der es um Leben und Tod geht, führt zur Reflexion.
"Heute" und "Damals" heißen die Kapitel, zwischen denen die Geschichte springt, in der alles zu stecken scheint, was Migration ausmacht: Hoffnung auf ein besseres Leben und Mut zum Risiko, Bereitschaft, alles dafür zu geben, und Einsicht, dass das nicht genügen muss, Anpassung nach außen und Spannung nach innen. Selten zuvor hat man die familiären Konflikte und die Kräfte, die auf die unterschiedlichen Generationen migrantischer Familien wirken, so sensibel und glaubwürdig beschrieben gefunden.
"Ostblockherz" schildert, wie vielfältig die Aufgaben sind, die die älteste Tochter in der Migration zu übernehmen hat: In der Schule soll sie sich für jenes bessere Leben qualifizieren, das die Eltern zu dem großen Schritt bewogen hat, gleichzeitig durch das rasche Erlernen der neuen Sprache als Dolmetscherin fungieren. Schon als Volksschülerin überholt Didi mit ihren Deutschkenntnissen ihren Vater.
Als sie bei Vorstellungsgesprächen erleben muss, wie rasch sich die Situation wandelt, als klar wird, dass ihr Vater, ein hoch qualifizierter Maschinenbauingenieur, nicht ausreichend Deutsch spricht und seine kleine Tochter für ihn übersetzen muss, kommt das dem Sturz eines Königs vom Thron gleich. Der starke Vater ist doch nicht allmächtig. Dumm nur, dass er mit der neuen Lage nicht umgehen kann.
"Ostblockherz" ist nicht nur ein wahrhaftig wirkendes Buch über Neuanfang und Anpassung, sondern auch eines über Männer- und Frauenrollen. Der Vater zerbricht daran, dass er seine traditionelle Aufgabe als Beschützer und Ernährer nicht mehr erfüllen kann, die Tochter, dass sie nicht nur eine Vorzugsschülerin, sondern auch eine Haushaltshilfe sein muss, während die Mutter in der Arbeit ist, und zudem für den kleinen Bruder eine zweite Mutter sein soll. Vom Vater erfährt sie dafür nicht Liebe und Dankbarkeit, sondern Druck und Vorwürfe. Das kann nicht gut gehen.
Dass unter den Bedingungen einer lebensbedrohlichen gesundheitlichen Situation eine zaghafte Annäherung von Tochter und Vater passiert (die freilich wieder nur sehr einseitig vorangetrieben wird), sorgt dafür, dass sich das "Ostblockherz" eher weitet als verhärtet. Der Infarkt bleibt vorläufig aus. Und wie nebenher erzählt die 1988 in Bratislava geborene Autorin, die heute in Österreichs führender Forschungseinrichtung auf dem Gebiet des Visual Computing für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, wie unterschiedlich im heimischen Gesundheitssystem Menschen behandelt werden, die sich auszudrücken wissen oder auch sprachlich auf Hilfe angewiesen sind. Auch das "goldene" Wienerherz kann sich manchmal wie Blei anfühlen.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Didi Drobna: "Ostblockherz", Piper Verlag, 176 Seiten, 22,70 Euro, https://www.dididrobna.com )
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA / Barbara Wirl/Barbara Wirl