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Wobei es schlimmer hätte sein können. Denn noch kurz vor Beginn des Gratis-Festivals, das sich als grundsätzlich undergroundig geprägter Schaulauf der heimischen Musikszene versteht und traditionell an bzw. in diversen Locations rund um den Karlsplatz stattfindet, schüttete es wie aus Schaffeln. Aber Christina Stürmer und der Wettergott sind offenbar Besties. Kurz vor ihrem - etwas verspäteten, weil die Bühne noch halbwegs trocken gewischt werden musste - Auftritt war dann plötzlich Schluss mit Niederschlag. Vorerst.
Dass die inzwischen 43-jährige Oberösterreicherin, die sich Anfang der 2000er-Jahre von der ORF-Castingshow "Starmania" aus aufmachte, Österreichs größter weiblicher Popstar zu werden, den Opener beim Popfest machen würde, mag auf den ersten Blick wie ein eigenwilliger Scherz des heurigen Kuratorenduos Verifiziert und Paul Buschnegg (Pauls Jets) angemutet haben. "Ich bin sehr froh, Euch zu überraschen", meinte Stürmer dann auch folgerichtig und betonte nicht nur einmal, dass sie sich sehr über die Anfrage gefreut habe. Denn eigentlich ist das Line-up der Karlsplatz-Sause traditionell auf Alternative bis Nische gebürstet. Die Macher wollten dieses Jahr allerdings "Genre- und Bubblekonventionen aufbrechen", wie sie im Vorfeld formulieren.
Keine Scheu also vor der Tuchfühlung mit dem sogenannten Mainstream. Wobei sich die Kuratoren, beide Mitte der 1990er geboren und "Fans, seit wir Kinder sind", zugleich vor einer - ja, durchaus - Ikone des weiblichen Pops made in Austria verneigten. Christina Stürmer hat sich längst von ihren "Starmania"-Wurzeln emanzipiert, ist mit dem von ihr gegründeten Label "Ich lebe Records" ihre eigene Chefin und schaffte es im Sommer 2023 als erste Künstlerin im deutschsprachigen Raum, für ein "MTV Unplugged"-Konzert eingeladen zu werden.
Ein komprimiertes Akustikset bot sie dann auch dem zumindest vor der Bühne rappelvollen Karlsplatz. Mit dabei: Das zur Zeit der großen Flüchtlingsbewegung 2015 entstandene "Seite an Seite", "Ich kriege nie genug vom Leben" im Salsa-Sound, der frühe Liebeskummer-Hadern "Scherbenmeer", der allererste Hit "Ich lebe" und die Zugabe "Engel fliegen einsam" - dargeboten im Duett mit Newcomerin Oska, die am Sonntag am letzten Popfest-Tag in der Karlskirche auftritt. "Ich glaube, wir haben das schlechte Wetter vertrieben", so die gut gelaunte Sängerin am Ende ihres generationenverbindenden Auftritts. Sprach's, ging ab - und der Regen kam eine Minute später mit gießkannenartiger Heftigkeit zurück.
Wettermäßig war also für Sodl alles andere als angerichtet. Aber die aus dem Salzkammergut stammende Musikerin hielt das Publikum mit ihrer druckvollen Folk-Grunge-Punk-Mischung bei gleichzeitig waldfeenhafter Erscheinung - Haare bis zum Popsch, mit Plastikpflanzen behübschte Mikroständer, Kerzen am Boden - bei der Stange. Schon im Vorjahr spielte Anja Sodnikar, wie die Senkrechtstarterin eigentlich heißt, beim Popfest - allerdings noch in einer sehr begrenzten Wien-Museum-Venue. Seither hat die Oberösterreicherin ihr gefeiertes Debütalbum "Sheepman" veröffentlicht und sich heuer gleich beim Amadeus den FM4 Award gesichert. Grund genug für eine Wiederkehr mit ihrer Band auf der großen Bühne. Sodl sang, jauchzte und schrie zu geschmeidigem Geigenklang oder krachenden Gitarren ihre Songs wie "Mary, the Anarchist" oder "I Am A Woman", dass es eine Freude war.
Ebenfalls zum zweiten Mal hintereinander beehrte danach Lino Camilo die Crowd. Die Massen hatten sich zwar deutlich gelichtet, aber ein immer noch beeindruckender Kern trotzte der Nässe. Zu sehen und hören gab es einen Act, der sich zumindest auf der Bühne einer klaren Geschlechterzuschreibung verweigert, und sich in einem ganz eigenen Klanguniversum bewegt. Wobei die grundsätzlich sehr disparaten, mit Klangschnipseln, Melodiefragmenten und allerlei Verzerrungen durchsetzten Kompositionen in der Live-Fassung deutlich zugänglicher gerieten und mehr Band als Studioexperiment waren. Lino Camilo musste jedenfalls weniger mit dem Regen, der gegen Ende des Sets tatsächlich nachhaltig aufhörte, kämpfen als mit der Bühnentechnik.
Zum Schluss des Open-Air-Teils an Tag 1 hieß es dann Gummistiefel gegen Tanzschuhe tauschen. Mietze Conte, eines der vielen Alter Egos des umtriebigen Produzenten Matthias Oldofredi aka Filou, ist immer für eine Überraschung gut. "Wir wussten nicht, was wir kriegen: ein DJ-Set oder ein ganzes Orchester", hieß es in der Anmoderation. Geworden ist es eine mehrköpfige Band samt Querflötistin, die fein verspielte Clubtracks in die Nacht ballerte. In feucht gewordenem Gewand ein bisschen Angrooven gegen die fast herbstliche Kühle war zu dieser Zeit sowieso das Gebot der Stunde. Insgesamt zählte man am ersten Abend 15.000 Besucherinnen und Besucher.
Das Popfest lädt noch bis Sonntag auf und rund um den Karlsplatz zur Erkundung der österreichischen Musiklandschaft ein. Neben der Seebühne, auf der etwa noch Lovehead feministischen Indie-Rock spielen, die schwarzhumorigen Grantscherben von Kreisky ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum begehen und Crack Ignaz und LGoony ein gemeinsames Rap-Set performen werden, sind das Wien Museum, die TU, der Club U und am Sonntag traditionsgemäß die Karlskirche erneut Austragungsorte des Gratis-Festivals. Der Reigen in den kleinen Venues reicht von Karl Stirners Zitterklängen bis zu Singer-Songwriter-Pop von Oska, die den Support für die Coldplay-Shows im Happel-Stadion machte. Filmabende, Panel-Diskussionen und "Popkultouren" mit dem Pop-Lokalhistoriker Geri Hollerer ergänzen das bunte Programm.
(Von Thomas Rieder/APA)
(S E R V I C E - www.popfest.at)