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Erstaunlich ist der ganze Roman, der immer wieder Überraschungen bereithält. Seine jugendliche Ich-Erzählerin berichtet darin von einer ungewöhnlich innigen Vater-Tochter-Beziehung, doch der Alleinerzieher liegt schon auf den ersten Seiten tot im Bett, und nicht einmal der Geruch von Druckerschwärze kann den passionierten Zeitungsleser wieder zum Leben erwecken. Eine noch intensivere Leidenschaft hat ihn allerdings mit einem Naturphänomen verbunden.
Stavarič, 1972 in Brno geboren und seit 1979 in Wien lebend, hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Kindersachbücher zu naturwissenschaftlichen Themen veröffentlicht. Nach der Meeresfauna und der Umweltzerstörung wendet er sich nun dem Himmel zu: Stellas Vater war von totalen Sonnenfinsternissen angezogen und ist ihnen in seinem Leben an die fünfzehnmal in die exotischsten Weltgegenden nachgereist. Sein erworbenes Wissen darüber hat er in vielen Gesprächen seiner Tochter weitergegeben, seine Reiseerfahrungen in Kisten gesammelt, die nun neben dem kleinen Haus am Hügel zum größten Schatz seines Nachlasses seiner Alleinerbin werden. Warum der Vater seine Reisen jedoch stets allein unternahm und sich nie von der Tochter begleiten lassen wollte, wurmt Stella nach wie vor.
Zu Beginn des Buches ist Stella 15 Jahre alt und in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Mädchen. Vom Vater unterrichtet und vom Schulbesuch befreit, ist sie den Erwachsenen des Dorfes - etwa dem Nachbarspaar, dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Totengräber - näher als den Gleichaltrigen, und ihr Ausnahme-Status wird bald offiziell festgeschrieben. Die junge Frau, deren Mutter in einer psychiatrischen Anstalt betreut wird, darf in dem Haus alleine leben, sie bekommt sogar eine Ausnahmegenehmigung, damit sie mit dem Auto selbstständig zum Einkaufen fahren kann.
"Die Schattenfängerin" ist eine märchenhafte Coming-of-Age-Geschichte mit einem überraschenden Finale, und schon Stellas Berufswahl ist ungewöhnlich: Sie wird Gehilfin des Totengräbers, und weil dieser sich schon bald, nachdem er das Mädchen angelernt hat, umbringt, um dem langen Leiden einer Krebserkrankung zu entgehen, ist sie schon bald in Amt und Würden. Doch die hinterlassenen Kisten des Vaters haben eine große Anziehungskraft, und so plant Stella in den Fußstapfen ihres Vaters ihre erste eigene Reise zu einer Sonnenfinsternis. Diese wird sie vom Dach des Hilton Kinshasa verfolgen, und der so versonnene wie versponnene Roman wird im Herzen Afrikas plötzlich zu einer dunklen Abenteuergeschichte.
Anders als der Lauf der Planeten scheint in "Die Schattenfängerin" wenig vorausberechenbar. Neben der großen Innigkeit, mit der Stavarič über die Verbundenheit von Vater und Tochter schreibt, und der Begeisterung für Astronomie, die er gut zu vermitteln versteht, sind es diese erzählerischen Volten, die die Faszination des Buches ausmachen. In der Literatur ist alles möglich, und jede neue Wendung ist ein Beweis für die Kraft der Fantasie. Dass in diesem Roman das Zentrum nicht leicht auszumachen ist, und man beim Versuch, Dinge zu fokussieren, sich immer wieder vor gleißenden Effekten schützen muss, hat er mit seinem Sujet gemeinsam. Immerhin: Für "Die Schattenfängerin" braucht es keine Spezial-Schutzbrille. Eine Lesebrille tut es auch.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Michael Stavarič: "Die Schattenfängerin", Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, 24,70 Euro; Lesung am 29.9. in der Alten Schmiede in Wien)
MÜNCHEN - DEUTSCHLAND: FOTO: APA/APA / Luchterhand