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Möllring heißt der mit Abstand größte Arbeitgeber in einer Kleinstadt im norddeutschen Emsland. An ihm kommt niemand vorbei. Der Besitzer ist ein gläubiger Christ, der seine Angestellten per Mail mit morgendlichen Bibelsprüchen traktiert, aber nichts dabei findet, dass in seinem Werk täglich 650.000 Hühner geschlachtet und maschinell verarbeitet werden und die Arbeitsbedingungen unmenschlich sind. Denn noch erledigen nicht alles die Maschinen. Am Fließband stehen Frauen, die im Eiltempo prüfen müssen, ob die an ihnen vorbeisausenden Hühnerbrüste eine krankhafte Verholzung des Fleisches haben und als "Wooden Breasts" (im internen Jargon "Woodies" genannt) aussortiert werden müssen. Wer es schafft, auch diesen Arbeitsschritt zu automatisieren und die Kosten weiter zu drücken, macht sich in der Branche unsterblich.
Zunächst ist man verwundert über Sujet und Schauplatz des neuen Romans der in Graz lebenden Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2021, die bei ihrer Klagenfurter Rede zur Eröffnung des diesjährigen Wettlesens voller Empathie über Menschen gesprochen hat, deren Tod und Leiden ihr beim Schreiben in den Sinn kamen. Doch allmählich versteht man, was dahintersteckt: Ebrahimi hat sich sechs Personen mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen einfallen lassen, die alle miteinander zu tun haben und auf verschlungenen Wegen zueinandergeführt werden. Die Hühnerfabrik bildet das Zentrum für Menschen, die aus der Nähe alle ziemlich zerrupft ausschauen. Alle haben in ihrem bisherigen Leben ordentlich Federn lassen müssen.
Direkt am Fließband in der Zerlegung arbeitet die Alleinerzieherin Sonia, die große Schwierigkeiten mit ihrer pubertierenden Tochter hat und an diesem Tag nach Ende ihrer Schicht einen Termin in der Personalabteilung hat, um endlich von der Werkshalle in ein Büro zu kommen. In der Chefetage ist Herr Merkhausen für Prozessoptimierung zuständig und setzt ganz auf ein neues Automatisierungsverfahren, das getestet wird. Dafür, dass die "Wooden Breasts" beim wichtigen Kunden künftig mittels Sensoren und Algorithmen ausgesondert werden, ist die extra angereiste junge Ingenieurin Anna zuständig. Die kann die toten Hühner schon nicht mehr sehen und möchte endlich zurück ins heimatliche Hamburg.
Nur scheinbar weniger mit der Geflügelindustrie zu tun hat ein weiteres Trio: Die polnische Altenbetreuerin Justyna hat eine erfüllende Beziehung zu dem um 20 Jahre jüngeren sehbehinderten Afghanen Nassim, der hofft, als Lyriker mehr Chancen auf Asyl in Deutschland zu haben. Um das Herz der zuständigen Beamten zu erweichen, müssen seine Gedichte aber erst übersetzt werden. Nach langer Überredung hat er dafür Roshi, eine deutsch-iranische Autorin aus Köln, dazu überredet - eine Figur, in der man unschwer das Alter Ego der 1978 in Teheran geborenen Nava Ebrahimi ausmachen kann.
Überzeugend und mitunter auch überraschend verbindet Ebrahimi in der Folge diese Biografien miteinander und beweist hohe Zuwendung zu ihren sechs Protagonistinnen und Protagonisten. "Und Federn überall" ist ein zutiefst humanistisches Buch, das ein entschiedenes Plädoyer für mehr Menschlichkeit in einer immer inhumaneren Gesellschaft hält. Erstaunlich, wie viele Aspekte Ebrahimi in ihre sechs Lebensgeschichten packen kann, von Tierschutz und Profitmaximierung über Flucht und Zuwanderung bis hin zur dunklen deutsch-polnischen Geschichte und ihren Nachwirkungen.
"Wir nehmen uns die Freiheit, zu gestalten. Das zu erkennen, ist der erste Schritt in die Literatur. Und das zu erkennen, ist der erste Schritt in eine menschliche Zukunft", hat Ebrahimi in ihrer programmatischen Klagenfurter Rede gemeint und die Anwesenden aufgefordert: "Reizen wir diese Freiheit aus, endlich." In "Und Federn überall" hat sie sich alle Freiheiten genommen - und lässt in einem fulminanten Finale jene Tiere auftauchen, um die sich eigentlich alles dreht, die aber nur noch wenige Minuten zu leben haben, wenn sie an der Rückseite der Fabrik angeliefert werden. Aus dem Nichts tauchen Hühner auf, plötzlich fliegen die Federn und verändern die Stimmung der am Ende alle versammelten Personen radikal. Plötzlich scheint alles möglich. Auch die Freiheit.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Nava Ebrahimi: "Und Federn überall", Luchterhand Literaturverlag, 352 Seiten, 24,70 Euro; Präsentation am Donnerstag, 20 Uhr, bei den O-Tönen im Museumsquartier Wien)