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Ernaux widmet sich in "Die Besessenheit" der Eifersucht

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Nobelpreisträgerin legt autofiktionales Buch vor
©AFP, APA, ALAIN JOCARD
Ein Schlüsselsatz im Buch "Die Besessenheit" von Annie Ernaux lautet: "Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet ist." Tatsächlich ist selten so prägnant und klarsichtig erzählt worden, wie rasende Eifersucht auf eine fremde Frau zu einer beherrschenden, raumgreifenden Obsession werden kann.

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Die französische Nobelpreisträgerin zerlegt in diesem schmalen, autofiktionalen Werk mit klinischer Präzision ein archaisches, übermächtiges Gefühl, das am Ende zur Selbstentfremdung, ja fast zur Selbstaufgabe führt. Wie alle Bücher von Annie Ernaux (85) ist auch dieses kurze Werk mit sehr großer Verzögerung ins Deutsche übersetzt worden. Geschrieben wurde es bereits im Jahr 2001, die Handlung spielt im Sommer 2000. Darauf deutet die Erwähnung des Unglücks der Concorde hin, auch der antiquiert wirkende "Minitel", ein französischer Onlinedienst, der im Buch als Recherchemittel auftaucht und den es schon lange nicht mehr gibt.

Zeitlos dagegen ist die Eifersucht, die hier in einer schonungslosen Selbstanalyse offenbart wird. Hinter der Ich-Erzählerin verbirgt sich fraglos die Autorin selbst. Auf den ersten Blick erscheint die Eifersucht merkwürdig, denn sie ist ja keine verlassene Frau. Vielmehr hat sie selbst sich von ihrem langjährigen, deutlich jüngeren Liebhaber W. getrennt, aus "Überdruss und Unwillen", wie sie schreibt, weil sie ihre Freiheit nicht aufgeben wollte. Sie bleiben aber weiter in losem Kontakt.

Doch als W. ihr erzählt, dass er mit einer neuen Frau zusammengezogen ist, ändert sich die Situation schlagartig: "An meinem Gefühl der absoluten Niederlage merkte ich, dass ein neues Element hinzugekommen war. Von diesem Moment an nahm die Frau mein Leben in Besitz." Diese Inbesitznahme verdeutlicht auch der französische Titel des Buchs "L"occupation".

Ihrem ehemaligen Freund kann sie ein paar Details entlocken. Die "Neue" ist eine 47-jährige Dozentin, sie wohnt im 7. Arrondissement von Paris, ist geschieden und hat eine halbwüchsige Tochter. Die wenigen Informationen reichen, um bei der Erzählerin ein schmerzhaftes Gedankenkarussell in Gang zu setzen. Sie imaginiert die Fremde als eine Frau mit makelloser Föhnfrisur im strengen Kostüm und Bluse, die in ihrer bürgerlichen Wohnung am Schreibtisch sitzt. Neben solchen Fantasien beginnt sie in der Metro und auf der Straße Frauen zu scannen, die von Alter und Aufmachung her passen könnten.

Als sie erfährt, dass die Frau als Dozentin für Geschichte an einer der Pariser Universitäten lehrt, beginnt sie sofort mit umfangreichen Recherchen, die jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. Schließlich telefoniert sie sämtliche Bewohner des Hauses ab, in dem die Dozentin lebt, ohne sich allerdings selbst erkennen zu geben.

Mit ebenso großer Klarheit wie Erschrecken nimmt die Erzählerin wahr, wie sie immer mehr aus der Spur gerät: "Generell akzeptierte ich nun Verhaltensweisen, die ich zuvor verurteilt oder verspottet hatte." Sie spürt "die ursprüngliche Wildheit des Menschen in mir aufwallen." Plötzlich kann sie sich vorstellen, einen Revolver zu zücken und eine ganze Trommel leer zu schießen und dabei die fremde Frau als "Schlampe" anzuschreien. Ihre Besessenheit geht so weit, dass sie sogar Verständnis für "Verbrechen aus Leidenschaft" entwickelt.

Doch zum Glück bleibt alles nur eine monströse Fantasie. Am Ende gelingt es ihr, den fatalen Teufelskreis der Eifersucht und Obsession zu durchbrechen. Die Besessenheit, stellt sie ernüchtert fest, bleibt "ein klar umrissener Zeitraum der Vergangenheit", der nur noch im Schreiben überlebt.

(Von Sibylle Peine/dpa)

(S E R V I C E - "Die Besessenheit" von Annie Ernaux, deutsche Übersetzung von Sonja Finck, Suhrkamp, 66 Seiten, 20,95 Euro)

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