Lamine Yamal ist drauf und dran, der neue Superstar des Weltfußballs zu werden. Der Stürmer des FC Barcelona ist in jeder Hinsicht ein Ausnahmetalent
Mit dem Champions-League-Finale wurde es nichts: Lamine Yamal war zwar in den beiden Halbfinalspielen seines FC Barcelona gegen Inter Mailand wieder einer der auffälligsten Spieler, für das Finale reichte es dennoch nicht – stattdessen werden Inter Mailand und Paris Saint-Germain am 31. Mai in München um den wichtigsten Titel im europäischen Klubfußball spielen.
Mit gerade mal 17 Jahren steht Yamal dennoch ganz knapp davor, der nächste Superstar des Weltfußballs zu werden. Voriges Jahr war er bei der Europameisterschaft in Deutschland erstmals ins Rampenlicht getreten: Er war der jüngste Finalist, der jemals bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft spielte, wurde zum besten jungen Spieler des Turniers gewählt und gewann einen Tag nach seinem 17. Geburtstag mit dem spanischen Nationalteam das Finale gegen England. Und sein Tor im Halbfinale gegen Frankreich machte ihn zum jüngsten Torschützen der Euro-Geschichte.
Unbekümmert durchs Leben
Wer ist dieser Lamine Yamal? Seine Mutter, Sheila Ebana, stammt aus Äquatorialguinea und arbeitete in Spanien als Kellnerin, Vater Mounir Nasraoui kam aus Marokko nach Europa und war als Maler tätig; die Eltern ließen sich scheiden, als Lamine drei Jahre alt war. Yamal ist in Rocafonda, einem Stadtteil von Mataró in der Metropolregion Barcelona, aufgewachsen – dort leben viele Einwanderer aus Afrika. Er ist Muslim, während des Ramadans hält er sich streng an die Fastenregeln. In Rocafonda ist Yamal bereits der Superstar, der er in aller Welt demnächst werden könnte. Er selbst bleibt offenkundig mit seinem Heimatort verbunden, nach Toren zeigt er oft die Zahlenfolge 304 – die Postleitzahl des Viertels.
Die Fußballbegeisterung war ihm früh anzusehen, wie sein Talent: Schon als kleiner Knirps durfte er mit älteren und viel größeren Kindern und Jugendlichen spielen. Im zarten Alter von fünf Jahren wurde er von einem Scout des FC Barcelona entdeckt und in die berühmte Fußballakademie La Masia aufgenommen – dort wurden unter anderem bereits Messi, Andrés Iniesta und Xavi geformt. Auch in der an talentierten Spielern nicht gerade armen Ausbildungsstätte stach Yamal früh heraus und wurde schon bald als begabtestes Talent von Barcelona identifiziert.
Es kam, wie es vorhergesagt wurde: Mit nur 15 wurde er in die erste Mannschaft des FC Barcelona berufen – so früh wie kein anderer vor ihm, das hatte nicht mal Messi geschafft. Der damalige Trainer Xavi war nach einem Probetraining überzeugt, dass er schon die körperlichen und geistigen Voraussetzungen für Einsätze auf höchster Ebene mitbrachte. Yamal dankte es mit sehr guten Leistungen, von großer Nervosität war ihm nichts anzumerken – auch das ein Verdienst von La Masia, denn bei der Schulung dort spielt die geistige Reife der jungen Kicker eine Rolle. Zugleich profitierte Yamal – wie weitere junge Spieler des Vereins – von den beständigen wirtschaftlichen Problemen des Klubs. Statt groß einzukaufen, muss zwangsläufig vermehrt auf eigene Talente vertraut werden. Das hatte sich schon in der Vergangenheit bewährt, denn die Nachwuchsarbeit gilt als hervorragend. Und dennoch wäre Yamal womöglich nicht zu so vielen Einsätzen gekommen, wenn mehr ältere, bewährte Superstars um viel Geld eingekauft worden wären.


Allerbeste Vorzeichen. 2007, Barcelona: Lionel Messi posiert mit dem fünf Monate alten Lamine für einen Wohltätigkeitskalender.
Foto mit Messi
Schon sehr früh hatte er sozusagen die höchsten Weihen erhalten, die ein Nachwuchsfußballer erhalten kann. Als Baby wurde er nämlich bei einem Fotoshooting für einen Unicef-Kalender ausgerechnet von Lionel Messi gebadet; auf dem Foto wirken beide nicht sonderlich begeistert, doch heute gilt das Bild als Prophezeiung für das, was kommen würde. Und natürlich wird Yamal heute ständig mit dem Argentinier verglichen – wegen seiner Technik, seiner Dynamik, seiner Unverfrorenheit gegenüber gegnerischen Abwehrspielern, die an einen Messi am Höhepunkt seines Könnens erinnern.
Und tatsächlich scheinen wie bei Messi Raum und Zeit für ihn keine Rolle zu spielen, seine Aktionen mit dem Ball sind oft erst nach Betrachtung der Zeitlupenaufnahmen verständlich. Schnelle Dribblings, ein außergewöhnliches Gefühl für den Ball und große Beweglichkeit zeichnen Yamal aus. Er ist mit 17 Jahren schon weiter, als Messi oder auch ein Cristiano Ronaldo in dem Alter waren – wobei solche Vergleiche oft schwierig sind. Aber dass er bereits mehr als 100 Pflichtspiele für seinen Klub erreicht hat und für die spanische Nationalmannschaft als unverzichtbar gilt, zeigt sein außergewöhnliches Talent. Neben der großen Frage, ob Yamal in den nächsten Jahren von Verletzungen verschont bleiben kann, wird es darauf ankommen, ob und wie er den Druck der Öffentlichkeit verarbeiten kann.
Doch derzeit geht der junge Mann sehr gut, ja beinahe lässig mit der Medienpräsenz um, mit der steigenden Verehrung durch Fans und mit der hohen Belastung, am Spielfeld ständig Höchstleistungen bringen zu müssen. „Ich will Spaß am Fußball haben“, antwortete er in einem Interview mit einer spanischen Zeitung auf die Frage, wie er mit seiner Rolle als Star von Klub und Nationalteam umgeht. Über alles andere denke er nicht viel nach.
Auch dass er für viele Kinder und Jugendliche ein Idol ist, bereitet ihm augenscheinlich eher Freude. Nicht nur Ballbehandlung und Schusstechnik sind vorbildhaft, auch seine Frisur und sogar die Verwendung einer Zahnspange werden nachgeahmt: Auffällig viele Kinder könnten derzeit mit Leichtigkeit zu einer solchen Zahnregulierung zu überreden sein, berichten spanische Medien. Es wirkt nicht als PR-Gag, wenn Yamal betont, wie sehr ihm die Menschen in seinem alten Stadtviertel am Herzen liegen. Was soll ein 17-Jähriger auch sonst sagen? Überhaupt wirkt er abseits des Spielfelds wie ein Jugendlicher, der frech und unbekümmert durchs Leben und durch die sozialen Medien stapft: Auf Instagram postet er schon mal freche Reaktionen, wenn er kritisiert wird. Und bei Auftritten in der Öffentlichkeit wirkt er ungezwungen.
Als er kürzlich von Touristinnen in Barcelona angesprochen wurde, dachte er erst, sie würden doch sicher ein Foto von ihm machen wollen. Doch sie erkannten den Fußballer gar nicht und baten ihn nur darum, sie zu fotografieren – was er ohne zu zögern tat. Als eine der jungen Damen ihn doch zu erkennen glaubte, bezeichnet er sich einfach als „Ryan“.
Er passt damit in eine Fußballära, in der Instagram, Facebook und YouTube unverzichtbar für Medien, Werbung und Karriere geworden sind und in der ungezwungenes Auftreten die Voraussetzung ist, berühmt zu werden und zu bleiben. Yamal bringt dafür einfach alles mit. Das zahlt sich aus: Vorige Woche wurde er als neuer Markenbotschafter der Kopfhörermarke Beats by Dre vorgestellt, für die unter anderem schon Erling Haaland, Messi und Basketball-Star LeBron James im Einsatz waren. In einem witzigen Werbespot spielt er den Chef seines eigenen Plattenlabels „Lamine Records“.
Disziplin und Ehrgeiz
Inzwischen wohnt er in seiner eigenen Wohnung und nicht mehr in der Fußballakademie – kein Problem für den als diszipliniert geltenden Spieler, der sich körperlich in den vergangenen Monaten stark weiterentwickelt hat. Dass er in seinem Alter bereits die physischen Voraussetzungen für anstrengende Spiele und robuste Gegner hat, ist ein Beweis für diese Disziplin. Ehrgeizig ist er außerdem, das beweisen seine Reaktionen nach einem Austausch, wenn Yamal schon mal beleidigt vom Spielfeld stapft.
Eine wichtige Rolle für seine Entwicklung spielt Barcelona-Trainer Hansi Flick, der nach anfänglichen Problemen und großer medialer Skepsis seine Position in der Fußballmetropole gefunden hat – er ist ein väterlicher, verständnisvoller Typ, der zugleich streng und fordernd sein kann. Flick verlangt viel von seinen Spielern, reagiert aber mit Verständnis auf Fehler. Der ehemalige Bayern-Trainer baut auf das technische Können und das Spielverständnis seiner Kicker, zugleich verwendet er in seiner Taktik moderne Elemente wie Pressing und rasches Umschalten.
Langweilig wird den Zuschauern dadurch nie, denn Angriff soll die beste Verteidigung sein – selbst wenn das international gegen eine routinierte Mannschaft wie Inter Mailand letztlich schlecht ausgehen kann. Doch nach dem 2:0 Sieg am Donnerstag im Stadtderby gegen Espanyol ist den Katalanen zwei Runden vor Schluss mit sieben Punkten Vorsprung auf den entthronten Champion Real Madrid der spanische Meistertitel fast mehr zu nehmen. Neben Lamine Yamal gibt es nämlich eine Reihe weiterer junger Spieler, die zukünftige Erfolge versprechen: Gavi, 20 Jahre, Pedri, 22, Alejandro Balde, 21, und Marc Casadó, 21, haben ihre Klasse bereits bewiesen. Zweifellos ist aber Lamine Yamal jener Spieler, der die nächsten Jahre prägen kann – das Zeug dazu hat er.


La Masia – die Talentschmiede von Barcelona
Pep Guardiola, Andrés Iniesta, Lionel Messi, Pedro, Gerard Piqué, Carles Puyol, Thiago, Xavi – und nun Lamine Yamal: Alle diese Fußballer wurden in La Masia ausgebildet. Die renommierte Fußballakademie des FC Barcelona, 1979 gegründet und nach einem traditionellen katalanischen Bauernhaus benannt, ist eine der erfolgreichsten Talentschmieden im Weltfußball.
Den Grundstein für den heutigen Erfolg von La Masia legte der Niederländer Johan Cruyff in den frühen 1990er-Jahren – aus seiner Heimat wusste der damalige Barcelona-Trainer, welche Bedeutung es haben kann, eigene Spieler auszubilden, statt immer nur bei anderen einzukaufen. Unter ihm und Nachfolgern wie Pep Guardiola wurde die Akademie zur Grundlage nationaler und internationaler Erfolge. Entscheidend ist intensives Training mit dem Ball, ohne wie sonst üblich den Fokus auf Kraft oder Ausdauer zu legen – genau das fördert außergewöhnliche Spielintelligenz, die ganz früh erlernt werden muss oder später fehlen wird.
Die Spieler aus La Masia, die vor allem durch technische Fertigkeiten und Spielverständnis auffallen, haben den Barca-Stil geprägt und das typische Tiki-Taka zum Vorbild vieler anderer Mannschaften gemacht. In unterschiedlichen Ausprägungen wird dieses Kurzpass-Spiel mit Fokus auf Ballbesitz bis heute weitergeführt; der jetzige Barcelona-Trainer Hansi Flick baut im Prinzip darauf auf, hat den Stil aber um rasches Umschalten und hohes Pressing ergänzt.
Die Philosophie der Akademie ist es außerdem, nicht nur Spieler auszubilden, die auf dem Spielfeld brillieren, sondern sie auch zu Persönlichkeiten reifen zu lassen, die Werten verpflichtet sind: Respekt, Disziplin, Teamarbeit. In La Masia wird daher nicht nur die Ausbildung auf dem Spielfeld vermittelt, sondern auch Lernen im Klassenzimmer. Fast die Hälfte der heutigen A-Jugend strebt eine akademische Ausbildung an. Dieser Ansatz soll den jungen Spielern dabei helfen, mit Niederlagen umzugehen und einen Plan B zu entwickeln, falls es mit der großen Karriere am Rasen doch nichts wird.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/25 erschienen.