Lisas Kollege Mark bekommt von jetzt auf gleich eine Textnachricht, dass die jahrelange Freundschaft wegen ihres Unwohlseins in seiner Nähe unwiderruflich beendet sei.
Verzweifelt schildert Mark in seiner Psychotherapie, was er alles für Lisa getan habe: ihr zugehört, sie mit Pausensnacks versorgt, sie beraten, ihr Komplimente gemacht und am Ende Botengänge für sie erledigt, wenngleich er im Unternehmen in der Führungsriege ist. Und dass es aus seiner Sicht eine innige Freundschaft gewesen sei, mit bedingungslosem Vertrauensfaktor.
Und jetzt auf einmal die Kehrtwende. Hatte sie dem Familienvater zwei Jahre lang ihre Opfergeschichte erzählt und ihren untreuen Ehemann nichtsdestotrotz nicht verlassen, ist sie auf einmal abweisend, ihm gegenüber wie eingefroren. Sie grüßt, ohne ihn anzusehen, und wirkt nur noch verstörend. „Ich war offenbar nur ihr Müllcontainer“, urteilt Mark.
„Grenzüberschreitungen“ und subtile Belästigungen
In einer von Mark eingeforderten „Aussprache“ konfrontiert die mutmaßliche Seelenfreundin ihn mit seinen „Grenzüberschreitungen“ und subtilen Belästigungen: Er habe ihr mit seinem Sohn auf dem Rücksitz vom Auto aus zugewunken trotz ihrer Textnachricht, dass ihr seine Gegenwart unangenehm sei. Er habe sie im Büro angesprochen (was für sie ein Gefühl von Bedrängnis hervorgerufen habe) und schon wieder ein Kompliment gemacht (für sie schon Belästigung).
Und Mark? Entschuldigt sich für alles und gelobt Besserung. Was bringt Menschen dazu, Schuld auf sich zu nehmen, ohne zu wissen, worin genau die Anklage besteht? Und warum hat Lisa sich nicht eher abgegrenzt, sondern ihm Selfies in neuem Outfit geschickt, ihn um Stilberatung gebeten und ihn konstant ins Vertrauen über ihre Ehekrise gezogen?
Ausgleichsregulation
Menschen, die unter ihrer Beziehung leiden, suchen mithin in einer Außenbeziehung ein Ausgleichsregulativ. Sie befinden sich in einem inneren Dauerkonflikt, ihren toxischen Partner zu verlassen.
Am Ende bekommt aber eben häufig nicht der Täter, sondern der geduldige Zuhörer das Fett ab, da er als Retter versagt hat. Das legt den Schluss nahe, dass manche Menschen die ihnen entgegengebrachte Bewunderung und Wertschätzung für Zeichen von Schwäche halten. Dahinter stecken oft verborgene Selbstzweifel und die mangelnde Fähigkeit, sich das persönliche Glück zu gönnen.
Ventilfunktion
In einem Rundumschlag gelingt es einer Person, alles abzuwerten und den „Zuhörer, Seelentröster und Vertrauten“ komplett zu vernichten: Er wird auf einmal als aufdringlich und unsensibel wahrgenommen, überschreite Grenzen, agiere respektlos und sei kurzum als Sündenbock an allem schuld.
Helfersyndrom
Opfer solcherart extrem agierender Personen leiden häufig an einem Helfersyndrom. Sie beziehen ihren Wert aus positiver Spiegelung durch andere. Bei Mark war die drastische Folge, dass er an Attraktivität verlor, weil Menschen mit Helfersyndrom in ihrer grenzenlosen Opferbereitschaft von anderen Personen verachtet, gedemütigt und leichtfertig instrumentalisiert werden können.
Fazit: Verlagern Sie bitte keine Minute länger das kostbarste Gut, Ihr Vertrauen, in Außenbeziehungen. Und arbeiten Sie an einer guten Nähe und Kommunikation in Ihrer Partnerschaft, anstatt sich in Idealisierungen und Parallelwelten emotional zu verstricken. Wie? Einfach wie früher, wie ganz, ganz früher angstfrei auf einander zugehen und geduldig zuhören, durchatmen, dranbleiben.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 18/25 erschienen.