Der kleine Vladimir

Putins Kindheit und Jugend

von Schlaglichter - Der kleine Vladimir © Bild: imago/ZUMA Press

An einem kalten Dienstag, dem 7. Oktober 1952, stand Vladimir Spiridonovich stundenlang vor einem grauen, schmucklosen Gebäude - dem Snegiryov Krankenhaus im Bezirk Dzerzhinsk in Leningrad - in der Nähe der Wohnung, wo er mit seiner Frau Maria Ivanovna lebte, und starrte auf die vielen Fenster. Er wartete auf ein Zeichen von Maria, dass die Geburt gut verlaufen sei. Väter durften das Krankenhaus nicht betreten. Die medizinische Versorgung war derart veraltet, dass viele Kinder bei der Geburt starben.

Sie hatten zwei Kinder, die beide nicht überlebten. Albert starb 1934 an Keuchhusten und der zweijährige Viktor im März 1942 an Diphtherie während der Blockade von Leningrad, als es in der Stadt keine Medikamente gab. Bei der Geburt des dritten Sohns war Maria bereits 41 Jahre alt. Sie nannte ihn Volodya, vergötterte und verwöhnte ihn, gab ihre Arbeit auf und suchte eine Stelle, wo sie nachts arbeiten konnte, um während des Tages bei ihrem Sohn zu sein.

Vorarbeiter

Putins Vater kam aus einem kleinen Dorf während Stalins Industrialisierung, arbeitete als Vorarbeiter in einer Eisenbahnfabrik. 1954 wurde er Mitglied des Fabrik-Komitees der Kommunistischen Partei. Putin beschrieb seinen Vater als einen korrekten, ernsten Mann mit einer autoritären Persönlichkeit, der nur wenig sprach und für seine Arbeit und die Partei lebte. In der neuen Biografie 'Putin' von Philip Short beschreibt der Autor die ersten Jahre des russischen Präsidenten als das Leben eines verhätschelten Buben mit einer ängstlichen Mutter und dennoch ungewöhnlichen Freiheiten. Das Aufwachsen im Hof eines Leningrader Wohnblocks, immer unter der Aufsicht der aus dem Fenster blickenden Mutter, ersparte ihm die strengen Strukturen der Vorschuljahre in sowjetischen Kindergärten. Die Mutter unterrichtete ihn Lesen, Schreiben und Rechnen, die Nachmittage verbrachte er im Hof mit anderen Kindern.

Raufbold

1960 besuchte er die erste Klasse einer Schule, die nur wenige Schritte von seinem Wohnblock entfernt lag. Tamara Chizova, 26 Jahre alt, eben erst die Ausbildung abgeschlossen, war seine Lehrerin. Sie beschrieb den achtjährigen Volodya als frech, unkontrollierbar, völlig desorganisiert, der sich täglich mit anderen Kindern prügelte. Viktor Borisenko, sein bester Freund damals, erinnerte sich an Volodya als einen furchtlosen Raufbold, der es mit jedem aufnahm, egal, ob dieser größer oder stärker war. Er biss, kratzte, riss anderen büschelweise die Haare aus, bis alle vor ihm Angst hatten.

© imago images/ZUMA Wire Der junge Putin wurde von seinem besten Freund als furchtloser Raufbold beschrieben

Familie Putin teilte während dieser Jahre eine Wohnung mit zwei anderen Familien, ohne Zentralheizung, heißes Wasser, ohne Badezimmer. In jedem Raum stand ein Kohlenofen und einmal die Woche besuchten sie ein öffentliches Bad, um sich zu waschen. Jede Familie hatte nur ein Zimmer als Wohn- und Schlafbereich. Volodya schlief auf einem Sofa, abgetrennt vom Bett der Eltern und der Sitzecke mit einem quer durch den Raum hängenden Leintuch. Die engen Verhältnisse waren oft Grund für Konflikte, die Bewohner misstrauten einander, es kam zu Streit und Prügeleien um gestohlene Lebensmittel aus der gemeinsamen Küche und immer wieder lag ein Betrunkener im Korridor oder Stiegenhaus.

Sambo-Meisterschaft

1965, mit zwölf Jahren, wechselte Volodya in die Mittelschule. Vera Gurevich, seine neue Lehrerin war intelligent und streng und konnte mit ihm besser umgehen. Seine Disziplin verbesserte sich und auch seine Schulleistungen. Sie schlug ihm vor, Sambo zu versuchen, einer auf Judo basierenden, in der Roten Armee entwickelten Kampf-Methode. Volodya war begeistert. Seine Art zu kämpfen, so sein Trainer Anatoly Rakhlin, war so aggressiv, als ob es kein Sport sei, sondern ums Überleben ginge. "Wenn ich Sambo nicht entdeckt hätte", schrieb Putin, "hätte sich mein Leben anders entwickelt. Es war der Sport, der mich von der Straße holte."

Im Herbst 1965, als er das sechste Schuljahr begann, seine Disziplin und seine Schulleistungen sich verbessert hatten, meldete er sich zu den 'Pionieren', der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, eine Voraussetzung für spätere KP-Mitgliedschaft. Seine besten Noten hatte er in Literatur, Geschichte und Deutsch. Als 16-Jähriger erreichte er den zweiten Platz bei der Sambo-Jugendmeisterschaft von Leningrad. Ein Jahr später nahm er bereits bei den nationalen Meisterschaften teil. Als Berufswunsch gab er in der Schule an, er würde gerne Pilot werden, las Romane über Kampfflieger des 2. Weltkriegs, abonnierte eine Zeitschrift über Flugzeuge und hoffte, das 'Institut für Zivile Luftfahrt' in Leningrad würde ihn aufnehmen.

Spione

1968 sah er den polnisch-russischen Film 'Schuld und Schwert' über Kundschafter, die im 2. Weltkrieg in die Wehrmacht eingeschleust wurden. Die Fliegerei war damit vergessen. "Ich war fasziniert", schrieb Putin, "wie ein Einzelner mehr erreichen konnte, als eine ganze Armee und das Schicksal tausender Menschen beeinflusste." Mit 16 entschied er, es gäbe nur eine Zukunft für ihn. Er müsse Spion werden, las Bücher über den Geheimdienst, Biografien berühmter Agenten und betrat eines Tages unbekümmert und selbstbewusst die Zentrale des KGB in Leningrad, den 'Bolschoi Dom', und fragte, was er tun müsse, um für die Agentenausbildung akzeptiert zu werden. Ein abgeschlossener Militärdienst oder ein Hochschulstudium bekam er als Antwort. Auf die Frage, was für ein Studium, riet man ihm, er sollte Jus studieren.

Gegenüber Lehrern und Eltern blieb er bei dem Wunsch, Pilot zu werden. Gleichzeitig erkundigte er sich, wie er auf die juristische Fakultät der Universität Leningrad aufgenommen werden könnte, einem der wichtigsten Institute in der Sowjetunion -schwieriger akzeptiert zu werden als in Oxford oder Cambridge. 100 Studenten pro Jahr schafften die Aufnahme, nur die Elite der Schüler oder Kinder aus dem Kader der KPDSU. Volodya gelang es dennoch, mit guten Noten und als 'Kind aus der Arbeiterklasse'. Ein kleiner Teil der Kandidaten wurde für diese Gruppe reserviert. Im September 1970, noch keine 18 Jahre alt, begann er mit dem Studium an der berühmtesten Kader-Schmiede der Sowjetunion. Das erste Jahr erlebte er als Konfrontation mit einer bisher unbekannten Realität, schrieb er später. Im Studium ging es um Verbrechens-Statistik, um Raub, Mord, Sexualverbrechen, einer Wirklichkeit, die in den Medien und der sowjetischen Erziehung nicht existierte.

Geheimdienst

Im Januar 1975 bekam er eine Nachricht von Dmitry Gantserov, dem verantwortlichen KGB-Direktor für Universitäten, er sollte sich für ein Interview melden. Man hatte den 16-Jährigen, der sich nach einer Aufnahme erkundigte, nicht vergessen. Gantserov erzählte in einem Interview, der junge Vladimir sei der ideale Kandidat gewesen. Er trank nicht, rauchte nicht, war sportlich und durchtrainiert, intelligent und besessen von seiner Aufgabe. Neben den physischen Bedingungen sei für den Geheimdienst eine Alltags-Persönlichkeit notwendig, man dürfe nicht auffallen, weder durch Aussehen, noch durch Verhalten. Am besten seien Kandidaten geeignet, die still, verschlossen und zurückhaltend sich in Gruppen und Gesellschaft benehmen würden. Von 100 Bewerbern aus der juristischen Fakultät nahm der KGB jedes Jahr ein oder zwei Absolventen auf.

Im März 1975 informierte der KGB Vladimir Putin, dass man ihn für die Ausbildung aufnehmen würde. Am 1. August 1975 begann er als Leutnant in der KGB-Zentrale in Leningrad. Sein Wunsch war es, in die internationale Abteilung aufgenommen zu werden, doch die ersten drei Jahre - nach sechs Monaten militärischer Ausbildung - verbrachte er damit, Dissidenten, Sportler und Künstler zu beobachten, auszuforschen, abzuhören und Berichte über sie zu verfassen. Im Herbst 1979 erfüllte sich sein Traum. Er wurde in die Abteilung des ausländischen Geheimdiensts aufgenommen und löste die Verlobung mit der angeblich jüdischen Medizinstudentin Lyudmila Khmarina - Ehering und Heiratslizenz waren bereits besorgt - aus Angst, es könnte seiner Karriere schaden.