Als ich fast Kommunist wurde

Geschichte einer Annäherung und Distanzierung

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Ich hatte drei Jahre Erfahrung mit Kommunismus. Mein Vater bekam 1959 das Angebot, in Peking, in der VR China, als Journalist zu arbeiten. Für meine Eltern gab es die Möglichkeit, meinen jüngeren Bruder und mich in eine chinesische, russische oder die Schule der DDR-Botschaft zu schicken. Sie entschieden sich für die DDR-Schule.

Mein Bruder und ich waren die Schüler unter den Pionieren. Für die Ehre des blauen Pionier-Halstuches schienen wir beide, aus dem Westen kommend, nicht geeignet. Ich erinnere mich bis heute an den Fahnenappell jeden Montag Morgen. Wir standen nebeneinander, aufgereiht nach Schulklassen in U-Formation, um die Fahne und den Pionierleiter.

Fahnenappell

Die stellvertretende Pionierleiterin trat vor uns und rief: "Zur Meldung an den Freundschaftsratsvorsitzenden die Augen nach rechts!" Wir drehten alle gleichzeitig den Kopf zur Seite. Dann ging sie mit festem Schritt geradlinig und rechtwinkelig bis zum Pionierleiter, salutierte mit ausgestreckter Hand und meldete: "86 Pioniere und zwei Schüler zum Fahnenappell angetreten." In den Fächern Geschichte und 'Politische Bildung' versuchten Lehrer, uns 13-Jährigen den Marxismus und marxistische Geschichtstheorie zu erklären, beschrieben das Elend im Westen, und erwarteten, dass ich es bestätigen sollte. Mit dem Referat: 'Die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Kapitalismus - am Beispiel Österreich' scheiterte ich. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen hatten Vorstellungen von einem Alltag in Wien, der sich von dem in New Delhi nicht unterschied.

Zur politischen Katastrophe kam es, als Wilhelm Pieck, der Präsident der DDR, starb. In der Festhalle der Botschaft stand ein großes, blumenverziertes Bild des Präsidenten, davor zwei Pioniere als Ehrenwache. Ich beobachtete das Geschehen, als ein Mitarbeiter der Botschaft mir ein blaues Halstuch umband und mich für die nächste Ehrenwache einteilte. Da stand ich nun, in der Hand die Stange der Fahne der DDR und sah auf die weinenden Frauen und Männer, die vor mir vorbeigingen und sicher keine Ahnung hatten, wer Wilhelm Pieck war. Sie weinten dennoch. Einzig ein Mädchen lächelte, und ich lächelte zurück.

Ehrenwache

Dann stieß mich jemand grob von hinten. Es war der Pionierleiter, ein dicklicher Junge mit Pickeln auf der Stirn und dünnen, blonden Haaren. Sein weißes Hemd hatte Schweißflecken, die Hose war ausgebeult um die Knie herum und zu eng um den Bauch. Er zog mich zurück und fauchte mich an, warum ich die Ehrenwache übernommen hätte. Ich erklärte ihm, es hätte mich jemand eingeteilt, doch er sagte: "Das gilt für Pioniere, du bist keiner und trägst trotzdem das Halstuch."

Am nächsten Tag saß ich nachmittags in der Mitte eines leeren Klassenzimmers, vor mir mehrere Tische aneinandergeschoben, zwei Buben und zwei Mädchen dahinter, dazwischen der Direktor der Schule. Ich war schon in jungen Jahren ein begeisterter Kafka-Leser und dachte, so müsste sich Franz Kafka die Verhöre vorgestellt haben, die er in seinem Roman 'Process' beschrieben hatte. Jetzt war ich Josef K..

Eines der Mädchen war groß, schlank mit dunklen Haaren, bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen und riss ihre blauen Augen weit auf, wenn sie sprach. Sie hieß Hanna und war die stellvertretende Pionierleiterin. Ich fand sie faszinierend. Von ihr wollte ich bestraft werden. Der Direktor forderte mich zur Selbstkritik auf. Ich wiederholte, dass mich ein Mitarbeiter der Botschaft eingeteilt hätte und ich mir keiner Schuld bewusst sei. Ob ich verstehen würde, dass ich der Partei durch mein Verhalten geschadet hätte, fragte mich der Pionierleiter. Ich zuckte mit den Schultern und hatte im Grunde genommen keine Ahnung, wovon sie sprachen.

Bestrafung

Die Bestrafung war nicht mehr aufzuhalten. Ich musste während der nächsten drei Monate zweimal die Woche nachmittags im Garten der Botschaft arbeiten, und meine Probezeit für die Aufnahme als Pionier wurde ausgesetzt. Da ich Selbstkritik verweigerte, erklärte der Direktor, es fehle mir eben die sozialistische Erziehung. Dann sagte Hanna plötzlich, wieder mit einem strengen Gesicht, schwarzen Stirnfransen, die die Augen fast verdeckten, die sie nicht zur Seite wischte, sondern den Kopf ruckartig bewegte, sodass die Haare die Augen frei gaben, meine Tätigkeit sollte kontrolliert werden. Jemandem wie mir könne man nicht vertrauen. Der Pionierleiter begrüßte die Idee.

Drei Monate arbeitete ich im Garten der Botschaft und nie war Gartenarbeit schöner. Jeden Mittwoch und Freitag nach der letzten Stunde holte mich Hanna ab - sie war eine Klasse über mir - und begleitete mich als meine Aufsicht in die Gärtnerei. Dort bekamen wir grüne Schürzen, Gummistiefel und Handschuhe. Verpflichtend waren zwei Stunden gießen, Unkraut rupfen, Gras schneiden, Blumenerde verteilen und manchmal einen Strauß Blumen in das Büro des Botschafters bringen. In der zweiten Woche blieben wir bereits drei Stunden, ab der vierten den ganzen Nachmittag, bis es dunkel wurde. Neben Hanna auf den Knien das Unkraut entfernen, wenn uns zufällig unsere Schultern berührten, die schönsten Blumen für den Botschafter aussuchen und mit der Gießkanne durch die Reihen der Rosen im Glashaus gehen, waren meine ersten erotischen Abenteuer. Ich beschloss damals, Pionier zu werden und später einmal für die Befreiung des Proletariats und den Sieg des Kommunismus zu kämpfen.

Verräter

1962, ich war fünfzehn Jahre alt, übersiedelten wir zurück nach Wien. Ich sah Hanna nie wieder. Als Teenager in den Sechzigerjahren mit Beatles, Flower Power und Hippie-Kultur war mir der Kommunismus ziemlich egal. Bis mein Vater die KPÖ verließ, seine Stelle bei der 'Volksstimme' aufgab und für den ORF arbeitete. Jahrzehntelange Freundschaften zerbrachen, lautstarker Streit meiner Eltern mit Besuchern in unserer Wohnung, und während der Nächte läutete das Telefon ständig. Als ich einmal spät abends nach Hause kam und den Hörer abnahm, da meine Eltern das Läuten ignorierten, hörte ich jemand schreien: 'Sau-Jud! Verräter! Euch hat der Hitler vergessen!'. Am Morgen fragte ich meine Eltern, wer das sein könnte. Meine Mutter antwortete: "Unsere ehemaligen Genossen."

Ich hatte bis dahin wenig Erfahrung mit Antisemitismus. Man ließ mich in Ruhe in der Schule, und unter Freunden war es kein Thema. Die ehemaligen Genossen ließen mir aber keine Ruhe, da ich den 'Feind' immer rechts vermutete. Die Verbrechen unter Stalin, Mao Tsetung und die Morde der Khmer Rouge wurden offen diskutiert, doch jetzt begann mich das Problem Kommunisten und Antisemitismus zu interessieren.

Verhaftung

1947 - Bad Ischl und Braunau, KPÖ organisiert Demonstrationen gegen jüdische Flüchtlinge aus den Konzentrationslagern. Die Menge brüllte Parolen wie 'Schlagt die Juden tot!'. 1950 - DDR, Paul Merker, Mitglied des ZK der SED, wird beschuldigt, als 'zionistischer Agent' an der 'Verschiebung von deutschem Volksvermögen zugunsten amerikanischer und jüdischer Monopolkapitalisten' gearbeitet zu haben. 1952 - Prag, Hinrichtung von elf Konterrevolutionären, unter ihnen neun Juden. 1953 - UdSSR, 28 Ärzte jüdischer Herkunft werden beschuldigt,'durch medizinische Behandlung und Sabotage das Leben aktiver öffentlicher Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen'. Die 'Mörder im weißen Kittel' hätten im Auftrag einer 'zionistischen Tarnorganisation' gehandelt. 1968 -Polen, Ausweisung von 15.000 Juden. 1919 - Graz, KPÖ weigert sich, eine gemeinsame Erklärung aller Parteien gegen Antisemitismus zu unterstützen.

Wie ein roter Faden zieht sich antisemitische Hetze durch die Nachkriegsgeschichte der kommunistischen Parteien. Juden wurden diskriminiert, vertrieben, verhaftet und einige zum Tode verurteilt. Ich konvertierte während der Jahre nach meiner Rückkehr aus Peking zum überzeugten Anti-Kommunisten, und es ist mir unbegreiflich, warum heute Parteien in Demokratien mit diesem Namen antreten. Meine Erinnerungen an Hanna im Garten der DDR-Botschaft blieben davon allerdings unberührt.