Wie gefährlich ist Österreich?

24 Stunden auf Streife mit Cops in einem Problemviertel

Der Wind ist rauer geworden, der Einsatz härter, die Gefahr größer, die Schwelle zur Gewalt niedriger. Auf Streife mit der heimischen Polizei in einem Viertel, das am Kippen ist.

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Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Dienstbeginn und Waffenkontrolle für Lisa Achatz: Sie ist 26 und seit fünf Jahren Polizistin

Es ist sechs und TNT. Die Zutaten einer ganz normalen Grazer Nacht. Zumindest rechts der Mur, drüben in Gries. Dort, in der Karlauerstraße, gleicht die Polizeiinspektion einem Vierkanter aus Beton. Eine Art Trutz burg, eine Insel, umgeben von rauem Meer. Die Fischer darin: Lisa Achatz, 26 Jahre alt und seit fünf Jahren Polizistin, neben ihr Hans-Peter Rogan, ein Jahr älter, ebenfalls seit fünf Jahren Polizist und diese Nacht an ihrer Seite. Um sechs haben sie Dienstbeginn, testen ihre Waffen, schnallen den Gürtel um und sind bereit für das, was kommt. TNT: Tagdienst, Nachtdienst, Tagdienst, dann zwei Tage frei. Das ist ihr Leben. Im Idealfall. Sie werden in den Stunden, die folgen, hundert Kilometer im Streifenwagen abspulen, laufen, reden, schreien, schmunzeln und sich mitunter wundern über die Welt, die sie umgibt. Eines jedoch werden sie nicht tun: sich langweilen. Nicht in Graz, nicht 2017.

Auf Streife mit der Grazer Polizei:

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So gefährlich ist Österreich

Als vergangene Woche die aktuelle Kriminalstatistik präsentiert wurde, fanden nüchterne Zahlen erhitzte Interpretationen. Knapp vier Prozent mehr Anzeigen galten den einen als "Explosion". Die anderen bemühten den langjährigen Vergleich, wonach Österreich schon einmal "unsicherer" war. Jeder pickte sich heraus, was er brauchte: höhere Aufklärungsraten der Innenminister. Mehr Gewaltdelikte sowie tatverdächtige Asylwerber die, die damit Auflage machen. Nichts aber erzählt mehr über die Sicherheitslage im Land als der Blick vor die eigene Haustür. Der mag im Waldviertel anders ausfallen als in Großstädten, wo sich das Böse ballt. Klingt platt, ein wenig bedrohlich und sehr nach Chicago, ist aber in einer Polizeiinspektion wie der Grazer Karlauerstraße eine täglich zu treffende Erkenntnis. Es geht um die gefühlte Sicherheit, darum, wie Menschen die Veränderung ihres Viertels wahrnehmen. Und so wird Graz-Gries zu Wien-Favoriten, Linz-Neue Heimat, Salzburg-Lehen oder jedem anderen heimischen Stadtteil, der Sorge bereitet.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott

Es sind böse Worte, die zum ersten Einsatz führen. Noch ohne Blaulicht, aber doch rasant fahren Achatz und Rogan in die Triestersiedlung. Bauten aus den 1920er-Jahren erwarten sie dort und eine Gruppe Aufgebrachter davor. Zwei Burschen um die 15 stürmen auf die Beamten zu. "Schauen Sie, der hat mich geschlagen, voll arg", sagt einer und deutet auf die Wange, "und scheiß Ausländer hat er auch gesagt." Der Angesprochene ist ein älterer Herr, der mit Frau und Hund am Rande steht. Als "Hurensohn" sei er zuvor von dem Buben beschimpft worden, erklärt er Rogan, als dieser ihn zur Seite nimmt. Um die zwei Burschen bildet sich rasch eine Traube aus gestikulierenden Müttern, fuchtelnden Freunden, ergänzt um alle, die endlich was erleben wollen. Bestimmtheit und eine Clique von Mädchen als Zeuginnen helfen, das Vorgefallene zu ermitteln: "Der Yusuf hat den Mann zuerst beschimpft. Da hat der ihm gedroht und auch eine runtergehauen." Alltag, auf den Anzeigen folgen. Und das Gefühl bleibt, dass sich manches aufheizt.

30 Cops, 26.000 Bewohner

Vom gestohlenen Fahrrad bis zum Mord. Knapp 3.000 gerichtlich strafbare Handlungen verzeichnet die Polizeiinspektion Karlauerstraße im Jahr. Das sind im Schnitt acht am Tag. Viel oder wenig für ein Viertel wie Gries, wo 26.000 Menschen leben? Ein Drittel davon sind keine österreichischen Staatsbürger, ein weiteres hat Migrationshintergrund.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Ein Drogenlager, ein Schlafplatz von Obdachlosen oder doch ein Bunker für Banden? Achatz und Rogan in einem verlassenen Haus

Zurück auf der Inspektion bleiben die Polizisten zu fünft in dieser Nacht. Ein Dienstführender und vier Beamte für Einsätze. 30 Polizisten sind insgesamt für das Revier zuständig: vier Häuptlinge, zwei Sachbearbeiter und 24 Männer und Frauen für die Streifen. Und das an 365 Tagen im Jahr, 24 Stunden am Tag. "Es gibt Monate, da komme ich auf hundert Überstunden", sagt Rogan, der schon im Sandkasten Polizist werden wollte und es keinen Tag bereut hat. 60 Prozent der Zeit sollen er und Achatz draußen sein, so die Vorgabe, der Wunsch, das Verlangen. Was das bedeutet, wird sich erst später, am Vormittag, zeigen. Noch ist es Nacht, ein Freitag, und Graz voller Menschen, die das Vergnügen in Versuchung führt. Gleich vorne, nur die Karlauerstraße hoch, am Griesplatz: vier Bordelle, zwei Laufhäuser, ein Swingerclub und eine offene Drogenszene. Oder, wie Achatz sagt, "der Ort, an dem wir am meisten zu tun haben".

Drüben, auf der anderen Seite der Mur, spazieren die Leute gerade über die Kunstmeile oder ins Theater, als Achatz und Rogan ihren ersten Zugriff haben: ein Bursch, von verdeckten Fahndern vorhin beim Drogenkauf beobachtet. Nun steht er da, hat ein mulmiges Gefühl, als er den Streifenwagen kommen sieht. "Nein, nein", nichts habe er erworben, streitet er anfangs noch ab, bevor er mit ausgestreckten, erhobenen Armen und gespreizten Beinen an der Wand lehnt und die Beamten Speed bei ihm entdecken.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Speed kills: Am Grazer Griesplatz nehmen die Beamten einen Drogenkonsumenten mit, der sie auf die Spur seiner Dealer bringen soll

Kaum haben ihn Achatz und Rogan ins Auto verfrachtet, ist für eine Gruppe Männer, die die Amtshandlung lauernd beobachteten, wieder Dienstbeginn: die Dealer. "Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel", sagt Achatz, "unser Weg zu den Dealern führt über die Kunden." Damit die Mäuse aber nicht auf dem Tisch tanzen, muss der Druck hoch bleiben. Ältere Beamte berichten später, dass es die offene Drogenszene seit zehn Jahren gibt. Anfangs dominiert von Dealern aus der Dominikanischen Republik, haben zuletzt Afghanen das Geschäft übernommen -nicht ohne zuvor Revierkämpfe ausgetragen zu haben. Drogen sind so ein Thema. Der Aufwand, den allein eine Anzeige wegen Haschischbesitzes macht, bindet Zeit. "Tut man aber nichts und piesackt die Szene nicht ständig, gleitet alles weiter ab", sagt Rogan.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott

Gries, da braucht sich niemand einer Illusion hinzugeben, war nie ein Grazer Renommierbezirk. Rechts der Mur ging es schon immer härter zur Sache. Seit jeher prägen sozial Schwache und Zuzug das Viertel. Auch Bordelle und Pistolen waren hier zu keiner Zeit fremd. Verändert hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung. Wer es sich leisten konnte, ist nach und nach weggezogen, wer blieb, war arm und bald von ähnlich armen Fremden umgeben. Dass das nicht unbedingt das gegenseitige Verständnis fördert, scheint klar.

Und so sind Achatz und Rogan häufig Besänftiger und Schlichter, Vermittler zwischen Kulturen, die einander fremd bleiben, auch wenn sie Tür an Tür leben. Unten sind Handyshops und Pfandleiher, Wettbüros und Kredithaie. Oben haben deren Kunden zwar oft dieselben Probleme, finden aber selten einen Weg zueinander.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Lokalkolorit: Rund um den Griesplatz konzentriert sich die Grazer Bar- und Rotlichtszene

Die Realitätsfremden

Die Verschiebungen und das Versagen einer Gesellschaft bekommen Achatz und Rogan hier früher zu spüren als andere. Sie sind quasi die Vorhut, die Späher für sich abzeichnende Veränderungen. Die beiden haben viel mit Menschen zu tun, die kaum Deutsch können, straucheln und denen sie später erneut begegnen: als Opfer wie als Täter. Aber wenn Achatz und Rogan kommen, ist es schon zu spät. Andere sind zuvor gescheitert: Ämter oder Schulen, Eltern oder Lehrer, Fürsorge oder Vereine, Kirchen oder Moscheen, Beamte oder Politiker. "Ich greife mir oft an den Kopf, wenn ich höre, wie realitätsfremd manche von denen daherreden", wird später ein erfahrener Polizist auf der Inspektion sagen, "die einen fordern ständig strengere Gesetze, die anderen exekutieren nicht einmal die bestehenden. Dabei kennen viele die Welt gar nicht mehr, in der sie ihre Urteile sprechen oder für die sie Gesetze machen. Die wohnen selbst in feinen Gegenden, bewegen sich in ihrem sterilen Umfeld. Die wollen den Schmutz nicht mehr sehen." Ein Satz, der hängen bleibt.

Im Drogeneinsatz

Noch aber rückt die Vorhut aus, nähert sich in dieser Nacht zwei jungen Männern in einem dunklen Park vor der Postgarage. Drinnen wird getanzt, davor gedealt. Beobachtet von Beamten, die verdeckt ermitteln. Nun muss alles schnell gehen. Achatz und Rogan preschen in den Park. Lassen das Fernlicht ihres Wagens an. Richten es direkt auf die beiden Männer. Sie stammen aus Somalia, sind Asylwerber und seit eineinhalb Jahren im Land. "No drugs, no worry", sagt der eine, der andere schweigt.

Bei ihm finden sich 300 Euro in kleinen Scheinen und ein weiterer Hunderter in der Unterhose. Aber von Drogen keine Spur. Die Beamten suchen den Park ab, schauen in Mistkübel und unter Sitzbänke. Nichts. "Noch frustrierender ist es nur, wenn wir bei einem Drogen finden und den am nächsten Tag wieder im Park stehen sehen." Frustrationstoleranz gehört für die beiden zum Job. Genauso wie Toleranz generell. Davon muss man schon einiges aufbringen, um durch die Arbeit nicht irgendwann zum Ausländerfeind, ja zum Menschenfeind an sich zu werden. Wie sagte Achatz doch, "die Guten, die Anständigen, die Integrierten, die treffen wir in unserem Dienst leider eher selten". Aber vielleicht klappt es bei den beiden Polizisten, weil sie die Menschen so nehmen, wie sie sind. Jedem, ganz gleich, woher er stammt, begegnen sie mit einer Mischung aus nötiger Schärfe und Bestimmtheit, aber auch mit einem Augenzwinkern und einem Verständnis, das vielen, die sich als deren Fürsprecher verstehen, fehlt.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott

"Shut up!"

Dabei ist die Durchsuchung von Fremden heikel, die Rassismuskeule ständig im Hinterkopf. Achatz erzählt von einem Vorfall, als sie einen Afghanen wegen Drogenbesitzes verhaftete. Mittels Armwinkelsperre, auch Polizeigriff genannt, ins Auto verfrachtet, wird er zur Einvernahme gebracht. Kaum hat er die Inspektion verlassen, taucht er erneut auf und behauptet, verletzt worden zu sein. Im Krankenhaus wird tatsächlich ein Schlüsselbeinbruch festgestellt. Jedoch war der drei Monate her. Trotzdem ging damals alles vor Gericht, Sachverständige traten auf, bis zum Freispruch für Achatz sollten Monate vergehen und bei ihr das Gefühl bleiben, an vorderster Front besonders exponiert zu sein.

Das bewahrheitet sich Stunden später, in tiefster Nacht, als ein Notruf eingeht. In einer Bar, die hauptsächlich Afrikaner aufsuchen, wird randaliert. Nun aber Blaulicht. Leere Straßen. Ein mulmiges Gefühl. "Bin gespannt, wie viele es sind", sagt Rogan. "Wir sind jedenfalls zu zweit", antwortet Achatz. Eintreffen im Café Virunga. Betreten nicht mehr nötig. Drinnen wurde gezecht, draußen flogen die Fäuste. Ein Hüne von einem Mann baut sich vor Achatz auf. Er brüllt. Unverständliches. Sie schreit zurück. "Shut up!" Rogan hält den Widersacher des Mannes zurück, kalmiert und unterbindet so eine Massenschlägerei auf offener Straße. Der Alkotest bei den Beteiligten weist zwei Promille auf und endet in einer Wegweisung und einer Anzeige.

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Alarm nach Mitternacht: Vor einer meist von Afrikanern aufgesuchten Bar droht die Lage zu eskalieren. Achatz und Rogan schlichten

In der Nacht blieb wenig Zeit zum Durchatmen. Bloß im Wagen, auf der Fahrt von einem Einsatz zum nächsten, sind es Minuten, in denen der Wahnsinn draußen innehält. Da ein Einbruch, dort Drogen, dazwischen wirkt ein Strafmandat wie eine Entspannungsübung. Am nächsten Vormittag bekommen die beiden die Rechnung dafür als Tabelle in ihrem Computer präsentiert. Es sind die offenen Fälle, die erneut liegen geblieben sind: gestohlene Bankomatkarten, vergammelnde Wohnungen, einzutreibende Strafen, langwierige Ermittlungen, bei denen Mosaiksteinchen einmal ein ganzes Gebäude bilden sollen. Bis zu 15 solcher Akten haben Achatz und Rogan jeweils offen. Sie gilt es abzuarbeiten in der Zeit, die ihnen neben den Einsätzen bleibt. Je mehr draußen anfällt, desto weniger Akten schließen sich.

"Wir spielen noch mit"

Und trotzdem: Draußen ist wichtiger als drinnen. Draußen geht es um alles. Ein Viertel, das zu kippen droht, und Beamte, die dagegen ankämpfen. Berichte aus dem Ausland, etwa den Pariser Vororten, in die sich Polizisten kaum noch reintrauen, bereiten allen auf dem Revier Sorge. "No-Go-Zonen darf es keine geben", sagt einer der Chefs, "sie entstehen erst, wenn die Dinge entgleiten. Wir sind realistisch genug, um zu wissen, dass wir die Welt nicht ändern und schon gar nicht besser machen können. Aber wir spielen noch mit, wir stemmen uns noch dagegen."

Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Im Grazer Volksgarten treffen die Beamten auf Tschetschenen. Die Latte ihrer Straftaten ist lang, heute ist ihnen aber nichts nachzuweisen
Mit der Polizei auf Streife in Graz
© Ricardo Herrgott Wer war's? Ermittlungen nach einem Einbruch in ein kleines Geschäft in der Nähe des Grazer Hauptbahnhofes