Michael Ludwig: "Wir sind ja keine Führerpartei"

Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig über den Zustand und die Chancen seiner Partei unter Andreas Babler, Strafen für Klimaaktivisten und den Weg Österreichs aus den multiplen Krisen.

von Michael Ludwig im Interview mit News. © Bild: News/Ricardo Herrgott

Ihre Kollegin in Niederösterreich, Johanna Mikl-Leitner, fordert härtere Strafen für Klimaaktivisten, die sich auf Straßen festkleben. Geklebt wird öfter in Wien. Wie also sehen Sie diese Forderung?

Prinzipiell glaube ich, dass man auf andere Art viel mehr für den Klimaschutz erreichen kann. Es gibt nicht viele Menschen, die sagen, sie haben ihre Haltung zum Klimawandel dadurch geändert, dass sie länger im Stau gestanden sind. Diese Aktionen sind kontraproduktiv. Wir machen in Wien sehr viel zum Klimaschutz, seit über 20 Jahren haben wir ein Klimaschutzprogramm, an dem wir konsequent arbeiten. Das hat dazu geführt, dass die CO2-Emissionen pro Kopf halb so hoch sind wie im Österreichschnitt.

Aber konkret: härtere Strafen, ja oder nein?
Das würde nicht viel bewirken. Es wäre sinnvoller, den inhaltlichen Dialog zu suchen. Das setzt aber voraus, dass die Klimakleber für inhaltliche Diskussionen zur Verfügung stehen. Es gibt zweifellos viel zu tun. Zum Beispiel, dass die Bundesregierung ein Klimaschutzgesetz auf den Weg bringt oder das Erneuerbare-Wärme-Gesetz.

In Wien gibt es Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen den Lobautunnel auftreten. Gibt es da einen Dialog?
Ich habe immer wieder Diskussionen mit Unterstützern aus dem Umwelt-und Klimaschutzbereich.

Sie stehen in Sachen Lobautunnel ganz woanders als die Gegnerinnen und Gegner des Projekts. Aber können Sie deren Motivation, Monate in einem Protestcamp auszuharren, nachvollziehen?
Ich stehe vor allem dafür, dass man den Menschen, die es betrifft, also der Wiener Bevölkerung eine Entlastung ermöglicht. Wir haben ja diesen Tunnel nicht aus Jux und Tollerei geplant, sondern nach einem jahrelangen Verfahren, wo geprüft worden ist, welche Lösung ökologisch und klimafreundlich ist. Man muss nach diesen Diskussionen auch irgendwann ins Umsetzen kommen. Viele Orte in Österreich haben Umfahrungsstraßen, dieses Recht steht auch der mit Abstand größten Stadt, Wien, und deren Bevölkerung zu.

Michael Ludwig im Interview mit News.
© News/Ricardo Herrgott Wiens Bürgermeister Michael Ludwig
Nach dem Studium der Politikwissenschaft und Geschichte zog es den gebürtigen Wiener bald in die Politik. Er startete 1994 als Bezirksrat in seinem Heimatbezirk Floridsdorf, war anschließend Mitglied des Bundesrates und Landtagsabgeordneter. 2007 wurde er Stadtrat für Wohnbau und Stadterneuerung in Wien. 2018 wurde er nach einer Kampfabstimmung gegen Andreas Schieder Wiener Bürgermeister und Chef der Wiener SPÖ.

SPÖ-Chef Andreas Babler ist kein Freund dieses Projekts.
Da gibt es nichts mehr zu diskutieren. Der Bau der Nordostumfahrung ist im Nationalrat beschlossen. Die Frage ist eigentlich, warum die Regierung beschlossene Gesetze nicht umsetzt.

Gesetzt den Fall, die SPÖ sitzt in der nächsten Regierung: Ist der Bau des Lobautunnels dann Koalitionsbedingung?
Ich halte nichts davon, dass man schon vor einer Wahl Koalitionsbedingungen stellt, denn das Wichtigste in der Politik ist Glaubwürdigkeit. Wenn man in Wahlkämpfen mit den Muskeln spielt, und dann wird das nicht eingelöst, entsteht der Eindruck, man macht das nur aus parteipolitischen Gründen. Mir ist wichtig, dass die Sozialdemokratie ihre inhaltlichen Positionen präsentiert und die Bevölkerung sich dann entscheiden kann, für wen sie stimmt. Im konkreten Fall gibt es ein beschlossenes Gesetz, und das gehört umgesetzt. Die Entscheidung der Ministerin, dieses eine Projekt zu stoppen, während sie anderen Straßenbauprojekten zugestimmt hat, scheint mir doch sehr willkürlich zu sein.

Österreich hat eine lange Hitzewelle hinter sich. Es gibt einen Klimaplan der Stadt, aber geht dessen Umsetzen angesichts der Auswirkungen der Klimaerwärmung schnell genug?
Wir haben zwei Ziele: den Klimawandel zu stoppen und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen in unserer Stadt möglichst gut zu bekämpfen. Man sieht die Erfolge unseres Klimaschutzplanes. Die CO2-Emissionen in Wien sind halb so hoch wie im Rest Österreichs, wir haben sehr viel für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs getan. Wir bauen gerade elf Kilometer U-Bahn- Strecke zusätzlich und zählen schon jetzt weltweit zu den Großstädten mit der höchsten Kilometerzahl an Straßenbahnlinien. Wir haben ein so dichtes öffentliches Verkehrsnetz wie keine andere Großstadt, um CO2-Emissionen zu reduzieren. Das ist auch der Grund, warum wir die 365-Euro-Jahreskarte mit 180 Millionen Euro subventionieren, um diesen Preis beibehalten zu können. Aufgrund der Inflation müsste die Jahreskarte inzwischen schon fast 500 Euro kosten. Aber wir wollen, dass die Wienerinnen und Wiener um einen Euro pro Tag das gesamte Öffi-Netz nutzen können.

Wie werden die Wienerinnen und Wiener, die nicht in grünen Bezirken wie Hietzing und Döbling
wohnen, vor Hitze geschützt? Wir errichten mehr Grünraum und haben den Grünanteil Wiens bereits von 50 auf 53 Prozent ausgeweitet, indem wir Asphalt aufreißen sowie betonierte Flächen in Industriegebieten oder Bahnhofsarealen umgestalten. Die Seestadt Aspern, ein betoniertes Flugfeld, bekommt Parkanlagen. Und: Wien hat 14 Prozent landwirtschaftlich genutzte Fläche.

»Man hat das Sommerloch gefüllt, aber für die Entwicklung des Landes nichts bewegt«

Es gab im Sommer nicht nur das Klimathema, sondern auch andere, die ratlos machen: die "Normal"-Debatte oder Bargeld in der Verfassung. Wie beurteilen Sie das Niveau politischer Debatten? Sind Sie zufrieden mit dem Bild, das Ihre "Branche" abgibt?
Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung kann die großen Themen nicht mehr lösen. Der Stillstand ist mittlerweile allen bewusst. Also weicht man aus auf Symboldebatten, die natürlich keine Auswirkung auf das Alltagsleben der Menschen haben, aber die Medien beschäftigen. Man hat das Sommerloch zweifellos effizient gefüllt, aber für die Entwicklung unseres Landes nichts bewegt. Mir ist wichtig, dass wir bei der laufenden Diskussion um den Finanzausgleich vorankommen. Da hat die Bundesregierung diesen Sommer keine Initiativen gestartet, um zu einem positiven Abschluss zu kommen. Die Diskussion wird im Herbst intensiv werden. Es geht darum, auch in Zukunft sicherzustellen, dass wir den hohen Standard bei Gesundheit, Pflege, Bildung weiterhin sichern und auch weiter ausbauen können und auch beim Kampf gegen den Klimawandel weiterkommen.

Diese Debatte wird von Bund und Ländern höchst konfrontativ, aber auch so technokratisch geführt, dass kaum jemand versteht, worum es geht. Es bleibt der Eindruck, die streiten wieder.
Das wird sich im Herbst ändern. Landeshauptleute und Bürgermeisterinnen werden deutlich machen müssen, was es bedeutet, wenn der Bund den finanziellen Notwendigkeiten der Daseinsvorsorge nicht entspricht. Nämlich, dass das Gesundheitswesen zu wenig Geld bekommt, der Pflegesektor nicht ausgebaut werden kann und notwendige Schritte im Bildungswesen oder gegen den Klimawandel nicht umgesetzt werden können. Eine Wifo-Studie hat gezeigt, dass die Ausgaben für jene Bereiche, die der Bund zu verantworten hat, in den letzten Jahren um 52 Prozent gestiegen sind, bei Ländern und Gemeinden aber um 70 Prozent.

Hat sich die Politik in ihrer Sprache, wenn es um Sachpolitik geht, zu weit von den Menschen entfernt, während FPÖ-Chef Kickl plakative Ansagen in die Arena wirft, die man halt versteht?
Das ist eine Verantwortung der Politikerinnen und Politiker, aber auch der Medien. Mit inhaltlichen Themen ist es schwierig, in die Medien zu kommen, während die populistischen Sager die mediale Öffentlichkeit beherrschen. Es ist notwendig, dass sich Politik und Medien ihrer Verantwortung bewusst sind. Es ist ja kein Zufall, dass die Popularität beider Berufsgruppen in Umfragen niedrig ausfällt. Daher kann es keine Schadenfreude der Medien gegenüber der Politik geben, sondern das hängt eng zusammen. Wenn Medien meinen, man sollte inhaltliche Debatten führen, sehr gut, ich bin bereit. Dann muss man aber auch diesen Dialog vermitteln und nicht auf jeden populistischen Sager aufspringen.

Sie sagen, die Regierungsparteien haben das Sommerloch gefüllt. Ist die SPÖ unter ihrem neuen Vorsitzenden ausreichend in Erscheinung getreten?
Auf jeden Fall. Es hat durchaus wichtige Debatten gegeben, die ihren Niederschlag gefunden haben, beispielsweise über die Zinsstruktur im Bankenbereich. Es ist jetzt auch bei der Bundesregierung angekommen, dass man etwas dagegen tun muss, wenn die Zinsen so unterschiedlich sind, je nachdem, ob man Geld anlegt oder einen Kredit benötigt. Die Kreditfrage ist für jene, die Wohnraum schaffen wollen, aber auch für die Bauwirtschaft von essenzieller Bedeutung. Der SPÖ ist es gut gelungen, auf dieses Thema aufmerksam zu machen.

Es gab in der SPÖ eine pannenreiche Vorsitzendenwahl. Hätte es danach nicht ein Momentum geben müssen für die Partei unter Babler? In den Umfragen spiegelt sich keine Aufbruchstimmung wider.
Das ist eine Frage, die ständig gestellt wird. Als die SPÖ unter Pamela Rendi-Wagner phasenweise bei 30 Prozent lag, hat man gefragt, warum sie nicht noch höher liegt. Daher würde ich mich nicht an Umfragen orientieren. Wichtig ist, dass sich die SPÖ inhaltlich und personell so aufstellt, dass sie mit ihren Positionen bei der Nationalratswahl punkten kann. Das wird mit Sicherheit geschehen.

Der SPÖ müsste es gelingen, in eine Art Kanzlerduell zu kommen. Das zeichnet sich derzeit nicht ab.
SPÖ, ÖVP und FPÖ liegen ja nicht so weit auseinander. Es ist ja noch Zeit, um stärker zu vermitteln, dass die SPÖ jene Partei ist, die auf soziale Gerechtigkeit großen Wert legt.

Wie geschlossen ist die SPÖ? Bei Mitgliederbefragung, 32-Stunden-Woche oder Asyl widersprechen Landesparteichefs dem neuen Vorsitzenden. Sie können wieder sagen, das sei die Schuld der Medien, aber es bleibt der Eindruck, man findet einander nicht.
Es freut mich, dass Medien so ein Interesse an statutarischen Fragen einer Partei haben. Ich hätte noch nicht gehört, dass es dieses Interesse bei anderen Parteien gibt.

Wenn es auf offener Bühne zelebriert wird?
Wir haben in der SPÖ Wien eine intensive Diskussion über diese Frage gehabt und entschieden, dass wir weiter Wert auf repräsentative Demokratie legen. Das gilt im Staat genauso wie in der Partei. Wir glauben, dass es Strukturen geben soll, wo möglichst viele Menschen mitgestalten können. Ich, beispielsweise, bin in meiner Bezirksorganisation und am Landesparteitag gewählt. Wir glauben, dass es dadurch mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt.

Ist da überhaupt ein Kompromiss möglich?
In Wien haben wir eine sehr starke demokratisch organisierte Parteistruktur, die wollen wir beibehalten. Prinzipiell ist die Mitbestimmung der Mitglieder ja etwas Gutes, wir hab das zu einigen Themen auch schon gemacht. Aber es ist auch sinnvoll, viele Menschen zu gewinnen, dass sie in der Parteiorganisation mitwirken, mitwählen und eine starke Position haben. Die Diskussion auf Bundesebene ist noch nicht abgeschlossen. Die Frage ist ja auch: Wer wird durch die Mitglieder gewählt? Nur der Vorsitzende oder auch andere Mitglieder des Parteivorstandes? Da gibt es viel zu klären. Aber es wird sicher eine Entscheidung am Bundesparteitag im November geben.

Und die parteiinterne Debatte zum Thema Asyl?
Immerhin hat die SPÖ ein Asylpapier. Ich kenne keine andere Partei, die das hat.

Babler sagt, es gehört überarbeitet.
Dass man das laufend überarbeiten kann und soll, liegt in der Natur der Sache, weil sich auch die Situation weiterentwickelt. Es macht Sinn, dass wir eine gemeinsame Position haben, die wir in der Öffentlichkeit vertreten. Es gibt andere Parteien, die das als alleiniges Thema populistisch vor sich hertragen, und welche, die zu dem Thema untertauchen. Und das dritte Thema war?

Die 32-Stunden-Woche.
Das ist eine Frage des Zeitpunkts, wann eine Arbeitszeitverkürzung umgesetzt werden kann und soll. Ich bin ein starker Verfechter der Sozialpartnerschaft. Diese Frage soll, ebenso wie jene der Einkommenshöhe, je nach Branche von diesen beschlossen werden. Die Sozialpartner wissen am besten, was möglich und notwendig ist. Wir haben jetzt schon Branchen, die weniger als 40 Stunden Regelarbeitszeit haben. Die SPÖ als Arbeiterbewegung achtet darauf, dass die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt werden, immer im Einklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung.

Ist Herr Babler manchmal zu vorschnell mit seinen Ansagen? Oft muss er zurückrudern. Oder gilt: Hauptsache, man ist im Gespräch?
Das ist in jeder großen Partei so, die demokratisch organisiert ist. Wir sind ja keine Führerpartei, sondern eine lebendige Partei, wo es auch Widerspruch geben kann und soll. Ich würde mir wünschen, dass manches eher intern diskutiert und nicht alles auf offener Bühne ausgehandelt wird. Aber prinzipiell unterscheiden wir uns von anderen Parteien, wo es nur eine Meinung gibt. Darum machen ja so viele in der SPÖ mit.

»Ich gehe davon aus, dass Doskozil Profi genug ist, dass er das wegsteckt«

Hans Peter Doskozil hat oft öffentlich diskutiert. Sie wollten ihn nicht als Parteichef, das ist kein Geheimnis. Wie ist Ihr Verhältnis jetzt zu ihm? Wie geht er mit den Ereignissen um?
Ich glaube, er ist ja die letzten Jahre politisch intensive Debatten gewohnt, an denen er oft nicht unbeteiligt war. Ich gehe also davon aus, dass er Profi genug ist, dass er das wegsteckt. Aber wie es in einem Menschen aussieht, weiß man ja oft nicht.

Auch ein SPÖ-Debattenthema: Wer ist als Koalitionspartner ausgeschlossen, wer nicht? Sie regieren in Wien mit Neos, von denen man neben der SPÖ nicht viel bemerkt. Würden Sie dieses Setting auch gerne auf Bundesebene sehen?
Man tut der Fortschrittskoalition Unrecht, wenn man das so beschreibt. Wir haben uns von Beginn an vorgenommen, dass wir eben nicht auf offener Bühne unsere unterschiedlichen Meinungen austragen. Das unterscheidet uns von der Bundesregierung. Man sieht auch in den Umfragen, dass dieser Zugang beiden Parteien nicht geschadet hat.

Michael Ludwig im Interview mit News.
© News/Ricardo Herrgott AUSBLICK. Ludwig rechnet damit, dass die Inflationskrise nächstes Jahr ausgestanden sein und Österreich in ruhigeres Fahrwasser kommen könnte -"wenn alle an einem Strang ziehen"

Auf Bundesebene wird es nach der Wahl wohl eine Dreierkoalition geben. Aus Ihrer Sicht: lieber mit Neos oder mit den Grünen als kleinem Partner?
Das ist eine Sache der Inhalte, die die Parteien vertreten, aber auch der vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den handelnden Personen. Da würde ich abwarten, wie die Wahl verläuft und wie viele Parteien im Nationalrat vertreten sein werden. Da wird sich viel bewegen. Die SPÖ schließt aber jedenfalls eine Koalition mit der FPÖ aus. Große Teile der FPÖ zeigen leider auch regelmäßig, dass das berechtigt ist.

Sie rechnen mit neuen Listen links und rechts der Mitte?
Es gibt eine viel höhere Mobilität am Parteiensektor, meist sind diese Listen aber nur eine vorübergehende Erscheinung. Regierungsbildungen werden sicher schwieriger, wenn mehr Parteien im Parlament sind. Schwer abzuschätzen, ob die Bevölkerung wirklich so ein Wagnis eingehen und dann instabile Verhältnisse haben möchte. Ich bin überzeugt, die Mehrheit setzt doch eher auf verlässliche Verhältnisse.

Viele Menschen im Land sind bedrückt oder zornig. Erst Corona, dann die Inflation. Das führt mitunter zu Wahlentscheidungen, die eben nicht den klassischen Parteien entsprechen. Lässt sich diese Wut einfangen?
Es gibt Unzufriedenheit, die sich an bestimmten politischen Entscheidungen festmachen lässt. Ich glaube auch, dass die Bundesregierung bessere, andere Möglichkeiten gehabt hätte, die Inflation in den Griff zu bekommen, etwa durch einen Mietpreisdeckel. Aber auch ein Gaspreisdeckel wäre notwendig gewesen. Beides haben wir vorgeschlagen. Es ist nicht gemacht worden, wäre aber gut für die Haushalte und auch für die Wirtschaft gewesen. Es gibt mehrere Krisen von Corona bis zur Unsicherheit durch die russische Aggression in der Ukraine, die die Menschen irritieren. Das löst eine Summe von Ängsten, Frust und Zorn aus.

Der SPÖ ist es noch nicht gelungen, Menschen, die sich in ihrem Auskommen bedroht fühlen, zu überzeugen. Viele wandern zur FPÖ.
Das wird man erst nach der Nationalratswahl sagen können. Wir waren mit Pamela Rendi-Wagner in Umfragen auf dem ersten Platz. Natürlich ist es unser Anspruch, dass wir führende Partei in Österreich werden. Diese Chance besteht.

Die Inflation sinkt langsam. Welche Hilfsmaßnahmen sind dennoch nötig?
Ich hätte von der Bundesregierung mehr Eingriffe in den Markt erwartet. Etwa einen temporär befristeten Mietpreisdeckel. Ein solcher würde auch jetzt noch wirken, denn die Mietpreise richten sich nach dem Verbraucherpreisindex (VPI). Ich könnte mir gut vorstellen, dass man befristet davon abgeht und für die Mietpreisberechnung den Leitzins heranzieht, der niedriger ist. Damit würde man Hauseigentümern die Möglichkeit lassen, Schritte zu setzen, wie etwa Klimaschutzmaßnahmen, die Investitionen erfordern. Aber es würde nicht bei jeder Erhöhung des VPI noch mehr Geld in Richtung Eigentümer gehen.

Auch wenn die Inflation sinkt, machen sich viele Menschen Sorgen, wie es weitergeht. Wann, denken Sie, werden wir in ruhigere Fahrwasser gelangen?
Das hängt von vielen Unsicherheitsfaktoren ab, nicht zuletzt von der Entwicklung des Krieges in der Ukraine. Aber ich bin optimistisch, wenn wir alle an einem Strang ziehen, dass wir schnell wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen können. Dazu sind wir in Wien immer bereit und dann immer enttäuscht, wenn es gegenteilige Signale des Bundes gibt.

Bald - heißt im Verlauf eines Jahres? Oder länger?
Im Verlauf des nächsten Jahres. Aber dieses Jahr wird auch sehr geprägt sein von Wahlentscheidungen, was ja, wie wir wissen, die Entscheidungsfreudigkeit von Regierungen im Regelfall nicht erhöht.

Wie ist Ihre Gesprächsbasis zu Bundeskanzler Nehammer? Letztes Jahr gab es wegen der Wien Energie massive Konflikte.
Das ist so ein Beispiel, wo ich mir gewünscht hätte, dass man wie in anderen Ländern an einem Strang zieht und nicht parteipolitische Interessen vor gesamtstaatliche Interessen setzt.

Gesetzt den Fall, er ist nach der Wahl noch ÖVP-Chef, würden Sie sagen, man kann mit ihm über eine Koalition verhandeln?
Die Frage wird sein, ob man inhaltliche Positionen und ein gemeinsames Regierungsprogramm finden kann. Aber ausschließen würde ich das nicht.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 35/2023.