Erst in der Pension pervers?

Welche Sexpraktiken grenzwertig, aber noch nicht pervers sind, kann gar nicht so leicht und nur individuell beantwortet werden. Trotz zunehmender Offenheit, Experimentierfreudigkeit und Toleranz gibt es Tabus

von Dr. Monika Wogrolly © Bild: Matt Observe/News

Markus war Arzt aus Leidenschaft. Er hatte sein gesamtes Berufsleben hindurch Sex mit seiner Ehefrau - und das fast nur in der Missionarsstellung. Sigmund Freud bezeichnet das als Sublimierung, wenn unsere libidinösen Triebenergien für unsere berufliche Aktivität aufgehen oder in künstlerischem Schaffen. Menschen wie Markus entdecken mithin erst in der Pension verdrängte oder abgewehrte sexuelle Neigungen. Erst jetzt wisse er, was ihn so richtig in Fahrt bringe: Einmal der Anblick weiblicher Achselhöhlen, die nicht rasiert sein dürften, und dann Sexpraktiken mit Natursekt, einer einschlägigen Bezeichnung für Urin.

Krankhaft oder nicht? - Bei Fetischen und außergewöhnlichen Neigungen kommt es auf dreierlei an: Das eigene Empfinden, die Wahrnehmung durch andere und den Grad der Ausprägung. Kommt es zu einer Fixierung als suchtartigem Verlangen mit einer Störung der Impulskontrolle, und ist der Betroffene in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt, so entwickelt sich ein massiver Leidensdruck. Beim Fetischismus dienen Gegenstände der bevorzugten sexuellen Erregung und sind mithin unverzichtbar. Sexualwissenschafter bezeichnen als Urophilie die Vorliebe, beim Sex Urin einzubeziehen, und als Urophagie die Vorliebe, Urin durch den Mund in sich aufzunehmen. Im ersten Schritt einer Sexualtherapie gilt es, behutsam der veränderten sexuellen Präferenz in ihren Wurzeln nachzuspüren.

Pervers oder noch normal? Was im Fall seiner Vorliebe für behaarte Achseln nach einem Fetisch klingt, bereichert nach Markus' Dafürhalten nur seine Sexfantasien. Und seine Frau? Sie fände das buchstäblich wenig prickelnd, wenn ihr Mann davon träumt, Natursektspiele zu treiben. Nicht jede Sexfantasie ist mit dem Wunsch nach Verwirklichung verknüpft. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass Markus die reale Umsetzung erst recht genießen würde, könnte es ihm durchaus auch "zu viel" sein oder sogar Ekel bereiten. Bei einer Störung der Sexualpräferenz ist die Befriedigung sexueller Wünsche an Objekte oder Bedingungen geknüpft, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen; wobei hier kulturelle, mehr noch biopsychosoziale Aspekte mitspielen, was tabu ist.

Markus' von der Norm abweichendes Sexleben kommt erstaunlicherweise erst nach dem Berufsleben zum Vorschein. Auf einmal macht es sich aber so breit, dass er sich fast verängstigt in eine Sexualtherapie begibt. Und sich dort die Frage stellt, ob das noch normal oder in den Augen des früheren, des "unschuldigen Markus" schon krank und pervers sei. Nach dem Motto, dass davon niemand wissen dürfe, agiert Markus seine sexuellen Vorlieben in der virtuellen Welt mit Frauen aus, die sich im Internet mit behaarten Achselhöhlen vor ihm räkeln oder Männern auf den Körper urinieren. Mit seiner Frau hingegen herrscht hingegen unter dem Vorwand altersbedingter Lustlosigkeit tote Hose. Der von Markus als Blümchensex erlebte, früher beglückende sexuelle Akt macht keine länger währende Erektion mehr möglich, was einer Reizüberflutung durch seine neuen Vorlieben zu schulden ist. Überrascht, ja sogar schockiert vom ewig niedergehaltenen Tsunami der Lust, befinden sich Menschen wie Markus nach so einer Entdeckung im Gefühlschaos und im sozialen Rückzug. Sie machen ihr Liebesleben zur Parallelwelt, anstatt die Welten und Wirklichkeiten zusammenzuführen. Die sexuelle Identität jedes Menschen ist wandelbar und flexibel, was, wo denn sonst, wenn nicht in der Partnerschaft, geteilt werden kann. Markus ist eine Paartherapie zu empfehlen, damit er und seine Frau nicht länger nebeneinander, sondern miteinander ihr Liebesleben um neue Einsichten erweitern.

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