Die Reifen und die Ignorierten

Die Fachkräfte von morgen sind die Lehrlinge und Fachschüler von heute. Das weiß die Politik nicht erst seit gestern - und ignoriert sie trotzdem mit beeindruckender Gelassenheit.

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Viel reden, aber nicht viel tun. Das kennen wir zur Genüge. Der Kalender zeigte Jänner 2020 an, als sich die damals verantwortliche Regierungsspitze noch vor Sonnenaufgang in einer Backstube in Wien-Liesing eingefunden hatte. Auf dem Spickzettel in der Innentasche des Slim-Fit-Anzugs: blumige Sätze. Einprägsam. Nachvollziehbar. Wichtig. Der Anlass: die Aufwertung der Lehre. Aus der "Lehrlingsentschädigung" wird ein "Lehrlingseinkommen". Aus der "Verwendung" von Lehrlingen wird eine "Beschäftigung". Und weil wir im "Land der Titel" leben, wurde zugleich verkündet, dass künftig auch der Berufstitel Meister eingeführt wird. "Mst." bzw. "Mst.in" auf der Visitenkarte statt gar nichts. Unsere Probleme - Stichwort Fachkräfte-und Arbeitskräftemangel - löst(e) das nicht. Ganz im Gegenteil.

Unsere Antwort darauf? Schulterzucken. Auch im Jahr 2023. Zwar rühmen wir uns dafür, dass uns Minimum die halbe Welt für unsere duale Ausbildung beneidet. In den politischen und medialen Debatten bekommen Lehre, Berufsschule und Fachschule hingegen kaum Aufmerksamkeit. Diese bekommen die anderen. Mit beeindruckender Regelmäßigkeit und mit allem Drum und Dran. Auch heuer wieder. Der Bildungsminister drückte natürlich die Daumen, der Kanzlersprecher ebenso. Die Zeitungen wissen, wie viele Aufgabenhefte im Umlauf sind und wie viele Tonnen Papier diese wiegen. Wer wann in welchem Fach dran ist und wie die Abschlussnote berechnet wird. Göttlichen Beistand gab es auch: Gottesdienst im Stephansdom. Dazu Snacks, Getränke, Chillout-Zone mit Musik. Schließlich geht es um etwas: die Maturantinnen und Maturanten in diesem Land nämlich. Wenn ihre "standardisierte kompetenzorientierte Diplom-oder Reifeprüfung" ansteht, lässt sich das Land in Sachen Aufmerksamkeit nicht lumpen. Jetzt, wo jene am vermeintlich besseren Ende der Schullaufbahn "reif" sind für ein Hochschulstudium. Jedenfalls reif für die Aufnahmeprüfung zum Hochschulstudium. Und die anderen? Etwa jene, die uns beispielsweise künftig das Schnitzel zubereiten und servieren und uns im Tourismusland Österreich das Zimmer checken? Von denen weiß man nichts. Jedenfalls nicht viel. Dabei haben am Tag, an dem ganz viel Scheinwerferlicht auf die Maturanten gerichtet wurde, viele von ihnen parallel an einer Fachschule ihre Fachprüfungen abgelegt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Lehrlingen geht es nicht besser. Auch weil sie nicht an einem bestimmten Tag ihre Prüfung absolvieren. Österreichweit wurden im Vorjahr übrigens 49.926 Lehrabschlussprüfungen abgelegt. Ein bisschen mehr, als Aufgabenhefte für Deutsch an AHS und BHS für die Matura bestellt wurden.

»In politischen und medialen Debatten bekommen Lehre und Fachschule kaum Aufmerksamkeit«

Dass Lehre und die Fachausbildung immer noch als Bildungssackgasse wahrgenommen werden und andere Schultypen folglich einen besseren Aufstieg ermöglichen, ist fest in den Köpfen verankert. Eine aktuelle Studie zeigt, dass für die Hälfte der Befragten fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und das schlechte Image eines Lehrlingsberufs gegen den Beginn einer solchen Ausbildung sprechen. 47 Prozent der Befragten wünschen sich folglich mehr Anerkennung und Respekt für ihre Ausbildung. Immerhin: Obwohl diese Ausbildung nur bei 18 Prozent der Befragten ein hohes Ansehen genießt, sagt jede und jeder Zweite, dass die Bedeutung der Lehre zunehmen wird. Das war nicht immer so und ist ein zaghaftes Leuchten am Bildungshorizont.

"Was hindert dich daran, einen Handwerksberuf zu erlernen?", war unlängst auf einer Plakatserie in München zu lesen. Der Absender? Deine Akademikereltern.

Kathrin Gulnerits, Chefredakteurin