Jesper Juul Pädagogik: Vier zentrale Werte in der Erziehung

Jesper Juul gilt als Pionier der modernen Erziehung. Der dänische Familientherapeut und ehemalige Sozialarbeiter sammelte über viele Jahre praktische Erfahrungen, bevor er sich zum Familientherapeuten ausbilden ließ. Er sah die Familie als Einheit, die sich gegenseitig bedingt - und gestand ein, dass es die fehlerlose Erziehung nicht geben kann. Wer Jesper Juul war, welche pädagogischen Ansichten er vertrat und was Eltern von ihm lernen können, wird hier zusammengefasst.

von Jesper Juul Pädagogik: Kind und Eltern sind gleichwertig © Bild: iStockphoto.com

Inhaltsverzeichnis:

Erziehung führt dann in eine Sackgasse, wenn die Beziehung unter der Erziehung leidet, so die Ansicht des Familientherapeuten Jesper Juul. Der 2019 verstorbene Däne gelangte zu der Überzeugung, dass es keine "richtige" Erziehung gibt, wohl aber bestimmte Aspekte, die zu einem harmonischeren Familienleben führen. Laut Juul entsteht eine gute Beziehung durch positive elterliche Vorbildfunktion, Authentizität, gegenseitigen Respekt und Gleichberechtigung.

Wer war Jesper Juul?

Jesper Juul wurde 1948 in Dänemark geboren und wuchs in einer ländlichen Gegend auf. Die in den 1950er-Jahren gängige Erziehung seiner Eltern prägte ihn nachhaltig. Letztlich flüchtete er vor seiner distanzlosen Mutter und seinem desinteressierten Vater nach Aarhus, verdingte sich als Koch, Tellerwäscher, Betonarbeiter und Barkeeper, bis er schließlich 1966 in Marselisborg Geschichte und Religion studierte.

Jesper Juul
© imago images / Horst Galuschka Jesper Juul - ein Familientherapeut dessen Pädagogik auf vier zentrale Werte fußt

Anschließend nahm er eine Tätigkeit als Sozialarbeiter in einem Kinder- und Jugendheim auf. Jesper Juul erklärte diese Jahre als die lehrreichsten seines Lebens, denn die Arbeit mit den auf sich gestellten Müttern und ihren "auffälligen" Kindern und Jugendlichen waren für ihn richtungsweisend.

Wie auch der Kontakt zu dem US-amerikanischen Familientherapeuten Walter Kempler sowie dem dänischen Kinderpsychiater Mogens Lund. Beide wurden seine Mentoren und Jesper Juul ließ sich zum Familientherapeuten ausbilden. 1979 gründete Juul mit diesen Experten das "Kempler-Institut" in Dänemark. Dort werden bis heute Fachkräfte für die Familientherapie ausgebildet.

Jesper Juul selbst leitete zwar das Kempler-Institut, doch er war auch noch anderweitig aktiv. So arbeitete er lange Zeit therapeutisch mit Flüchtlingsfamilien in Kroatien, gründete das europaweite und immer noch bestehende Elternberatungsprojekt "FamiliyLab" und publizierte über Erziehungsfragen.

Jesper Juul war ein Freigeist, der genau beobachtete und sich auf sein Gegenüber voll und ganz einließ. Im Gegensatz zu seiner eigenen Biographie, in welcher die Erziehung durch Gleichgültigkeit, Gehorsam oder Heteronomie gekennzeichnet war.

Jesper Juul starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren an einer Lungenentzündung, der eine langjährige Autoimmunkrankheit voranging.

Die pädagogischen Erkenntnisse von Jesper Juul: vier zentrale Werte

Der Familientherapeut Jesper Juul, der selbst autoritär erzogen wurde, befand Erziehung eher als eine Art "Lebensbegleitung". Eltern sollten demnach ihre Kinder nicht ständig korrigieren und maßregeln, sondern ihnen dabei behilflich sein, in das Leben hineinzuwachsen. Das verlange sowohl den Eltern als auch den Kindern viel Empathie, Geduld und Offenheit ab.

Anders als ein Gärtner, der die Pflanzen in einem Beet zieht und pflegt, bis er davon essen kann, betrachtete Juul aber die Erziehung als einen wechselseitigen Prozess, bei dem alle Mitglieder in Interaktion treten müssen, um eine Wirkung zu erzielen. Erziehung ist demnach laut Juul eine Einbeziehung aller Familienmitglieder, sodass eine Beziehung entsteht.

Diese Beziehung basiert auf vier zentralen Werten, die Juul als fundamental ansah. Denn diese sind grundlegendes Konzept der Familie und maßgebend für Erfolg oder Misserfolg bei der Erziehung der Kinder.

Gleichwürdigkeit

Der Begriff "Gleichwürdigkeit" kann mit den Synonymen "gleich viel wert" oder "der gleiche Respekt" definiert werden. Jesper Juul betonte, dass die gegenseitige Anerkennung, das Ernstnehmen der Wünsche oder die Akzeptanz der Bedürfnisse das Wesen einer gleichwürdigen Beziehung seien.

Juul merkte jedoch an, dass Gleichwürdigkeit nichts mit Erfüllung, Konsenszwang, Bedingungslosigkeit oder Basisdemokratie zu tun habe. Vielmehr gehe es darum, das Gegenüber als Mensch zu achten, zu hören und zu sehen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Beeinträchtigung oder anderer Aspekte. Niemand innerhalb einer Familie dürfe sich über die Ansichten, Wünsche oder Bedürfnisse eines anderen hinwegsetzen oder diese herabsetzen. Die Gedanken, Gefühle, Reaktionen, Selbstbilder und Wirklichkeit eines Kindes sind von gleichem Wert wie die der Erwachsenen.

Gleichzeitig muss aber die Führungsrolle bei den Eltern bleiben, denn letztlich haben diese die soziale, psychologische und ökonomische Macht. Diese dürfen sie aber nicht missbrauchen. Vielmehr sollten Väter und Mütter sich darüber bewusst sein, dass diese Macht bedeutet, dass sie die Verantwortung tragen, welche Werte, welche Atmosphäre und welcher Umgang in der Familie gepflegt werden. Kinder benötigen eine kontinuierliche Begleitung bei all ihren Entscheidungen, Eltern sind daher unerlässlich als Vorbilder und Begleiter.

Jesper Juul Pädagogik: Eine Mutter spricht mit ihrem Kind auf Augenhöhe
© iStockphoto.com Eltern sollten Kinder gleichwürdig behandeln, gleichzeitig aber Vorbilder und Begleiter sein.

Nur wenn Eltern ihre eigenen Werte kennen, ihre persönliche Integrität wahren, ihre Eigenheiten und Fehler erkennen und ihre Ansprüche an die Kinder unabhängig ihrer eigenen Biographie stellen, können sie selbstreflektiert und gleichwürdig erziehen.

Integrität

Jesper Juul hielt das Reifen der persönlichen Integrität für das natürlichste Ziel der Erziehung. Sie wird definiert als "ein Gefühl von Ganzheit" oder "der Verbundenheit innerer und äußerer Verantwortung".

Die innere Verantwortung kann als Eigenverantwortung oder Selbstbestimmung umschrieben werden. Jeder Mensch sollte demnach persönlich verantwortlich für die eigenen Bedürfnisse, Gefühle, Ziele oder Grenzen sein, weil es nicht nur ein Recht sondern auch eine Pflicht ist. Die innere Verantwortung entwickelt sich stetig weiter und zieht sich über den gesamten Lebensweg des Menschen. Sie basiert auf Erfahrungen, Wahrnehmungen, Haltungen, Werten und Interaktionen. Aus diesem Grund wird den Eltern bei der Ausbildung der inneren Verantwortung ihrer Kinder eine wichtige Rolle zuteil.

Im Gegensatz dazu wird die äußere Verantwortung auch als "soziale Verantwortung" bezeichnet. Sie bezieht sich auf die sozialen, ethischen und kulturellen Werte, welche Menschen lernen und beachten müssen, damit sie in einer Gemeinschaft existieren können. Dazu ist es wichtig, dass jeder Einzelne diese in seiner Persönlichkeit integriert, um letztlich seinen Platz in der Gemeinschaft auszuloten. Dies setzt jedoch im Kern die persönliche Entwicklung der inneren Verantwortung voraus. Nur dann ist es möglich, diese Vereinbarkeit zu überprüfen, auszutesten, abzusichern und zu speichern.

Gleichzeitig ist Integrität aber nicht statisch, sondern ein lebenslanger Prozess der Variabilität. Und dieser Prozess sollte von Beginn an durch die Eltern unterstützt werden. Sie haben die Pflicht, Kinder dafür zu sensibilisieren, dass Integrität geschützt werden muss und sollten diese auch selbst wahren. Niemand darf pädagogische Maßnahmen, Ziele, Regeln oder Methoden gutheißen, wenn sie die kindliche Integrität verletzen.

Authentizität

Authentizität ist die "Echtheit", mit der sich Menschen zeigen. Das Gegenteil sind Rollen, die sie spielen oder Persönlichkeiten, die sie vorgeben. Menschen, welche authentisch sind, wirken auf ihr Gegenüber stimmig, denn sie zeigen sich so, wie es ihrem Charakter entspricht.

Wenn Menschen zugeben, äußern, zeigen und sagen, wie sie sind, was sie denken, wie sie fühlen, warum sie etwas aus der Bahn wirft, weshalb sie etwas nicht gutheißen oder wieso sie derartig handeln, dann macht sie das stark. Denn so geben sie nicht nur ihren Charakter, ihre Einstellungen, Wertevorstellungen und Ziele preis, sondern auch die Facetten der Persönlichkeit, die weniger optimal sind. Das bedeutet, dass authentische Menschen sich selbst akzeptieren, wie sie sind und gleichzeitig auch offen in die Welt blicken. Wer authentisch ist, ist stark. Und wer stark ist, erteilt dem Gegenüber automatisch die "Erlaubnis", auch stark zu sein, über Gefühle zu sprechen und Gedanken zu teilen. Infolgedessen entsteht ein hohes Maß an Zufriedenheit.

Leben Eltern authentisch, so sind sie ihren Kindern ein gutes Vorbild für Interaktion, Wertschätzung oder Selbstregulation. Denn sie zeigen dem Nachwuchs, dass sich niemand aufgrund seiner Gefühle, Gedanken oder Meinungen verstecken muss und auch dann angenommen ist, wenn sie konträr zu denen der anderen Familienmitgliedern sind. Zudem lernen Kinder auch, dass ein breites Spektrum an Gefühlen normal ist. Den Buben und Mädchen wird der Umgang mit den verschiedenen Facetten der Gefühlswelt vorgelebt, sodass sie zudem auch ein breites Portfolio entwickeln können, darauf zu reagieren. Auch die Selbstregulation wird durch Authentizität gefördert. Denn nur wer Impulse kontrollieren und echt wiedergeben kann, ist in der Lage, Beziehungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten.

Legen Eltern hingegen eine Maske auf oder sprechen von sich in der dritten Person, wirkt das nicht nur unpersönlich, sondern zudem auch nicht authentisch. Mit der Folge, dass die Kinder häufig ihr Verhalten verstärken, da sie wissen wollen, wofür ihre Eltern wirklich stehen.

Jesper Juul Pädagogik: Erziehung als Beziehung auf Augenhöhe
© iStockphoto.com Die 4 zentralen Werte von Jesper Juuls Pädagogik sind der Schlüssel zu einer glücklichen Eltern-Kind-Beziehung

Verantwortung

Jesper Juul unterteilte den Begriff Verantwortung in "soziale Verantwortung" und "persönliche Verantwortung".

Die soziale Verantwortung ist jede Verpflichtung, die wir gegenüber der Gesellschaft und der Welt haben, damit diese fortan existieren kann. Sie ist die Konsequenz der persönlichen Verantwortung, denn sie entsteht daraus und ist immer in einer wechselseitigen Beziehung. Ohne die persönliche Verantwortung kann kein Mensch Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme oder Respekt in der sozialen Umgebung entwickeln.

Persönliche Verantwortung bezeichnet jene Verpflichtung, die Menschen für ihr eigenes Leben haben. Sie umfasst die körperliche, geistige, seelische und spirituelle Entwicklung. Jesper Juul bezeichnete diesen Aspekt als einer der größten Kräfte, die es gibt, denn die persönliche Verantwortung fördert unser Wohlbefinden wie kaum etwas anderes.

Daher sollten Eltern ihren Kindern Verantwortung überlassen, so früh es geht und so weitreichend wie es möglich ist. Denn schon kleine Mädchen und Buben sind sehr sensibel für ihre Bedürfnisse und Wünsche, aber auch für ihre Gefühle. Daher können sie bereits in jungen Jahren Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Die persönliche und soziale Verantwortung wächst, wenn Eltern ihren Kindern das Recht einräumen, Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse zu äußern und diese auch ernst nehmen. Es geht nicht darum, sich als Mutter oder Vater zu verbiegen und keine Grenzen aufzuzeigen. Vielmehr sollten Eltern sich in die Perspektive der Kinder versetzen, sich in ihre Situation hineinfühlen und Verständnis aufbringen.

Werden Kinder nicht ernst genommen, so entstehen häufig Machtkämpfe, welche die Ausbildung der persönlichen und letztlich auch der sozialen Verantwortung hemmen. Zudem entsteht bei den Kindern eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und dem Vertrauen in die Eltern. Wer Kindern die persönliche Verantwortung durch Bevormundung abtrainiert, vermittelt dem Nachwuchs, dass die elterliche Macht über den kindlichen Bedürfnissen steht.

Gleichzeitig sollten sich Eltern aber auch nicht zum Servicepersonal der Kinder degradieren lassen. Denn wer seine eigenen Bedenken oder Einwände nicht äußert, nimmt dem Nachwuchs die Möglichkeit, Kompromisse einzugehen. Authentizität ist auch hier gefragt. Nur so können Kinder eine persönliche und letztlich auch eine soziale Verantwortung erlernen, weil Eltern als Vorbild dienen.

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Fazit zu Jesper Juuls Pädagogik

Jesper Juul gilt als einer der bedeutendsten Familientherapeuten in der heutigen Zeit. Er betrachtete Erziehung als eine Begleitung junger Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Grundgedanken waren und sind diese 4 Pfeiler der Erziehung: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung. Diese Elemente tragen Menschen ein Leben lang, machen sie zu gesellschaftsfähigen Personen und zu glücklichen Individuen.

Jesper Juul
© imago images / Rainer Unkel Jesper Juul

Laut Jesper Juul ist das Zusammenleben innerhalb einer Familie immer wieder durch Zeiten des Ärgers und der Destruktion gekennzeichnet. Das liegt laut Juul daran, dass Kooperation und Individualität oftmals konträr sind. Doch Eltern haben die Pflicht, ein harmonisches Zusammenleben zu bestreben. Das gelingt nur dann, wenn sie den Kindern ihre Grenzen aufzeigen und gleichzeitig für sie wie Leuchttürme sind und Sicherheit sowie Orientierung geben. Dann können Machtkämpfe und Hierarchien der Vergangenheit angehören.

Im Gegensatz zu vielen anderen Erziehungsexperten gestand Jesper Juul ein, dass Erziehung eine lebenslange Aufgabe ist, dass sich Kinder und Eltern gegenseitig bedingen, dass es keine "richtige" Erziehung gibt und Fehler zum Alltag gehören. Er betonte, dass die besten Eltern jene sind, welche aus ihren Fehlern lerne, anstatt immer wieder die gleichen Missstände herbeizuführen und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Das macht deutlich, dass die Vorstellung von einer "Veränderung in 5 Tagen", wie sie von anderen Experten propagiert wird, nichts mit der Realität zu tun hat, sondern letztlich nur eine andere Form der unterdrückenden Erziehung von gestern ist.

Quellen: