Missbrauchte Seele

Wenn Menschen von ihren engsten Angehörigen psychisch gequält werden

Wenn Eltern ihre Kinder, Männer ihre Frauen manipulieren, hat das einen Namen: Gaslighting. Diese Form des psychischen Missbrauchs findet in den eigenen vier Wänden statt, ist schwer auszumachen, hinterlässt aber umso tiefere Wunden.

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Gaslighting - Missbrauchte Seele

Nathalie ist Schuld. Das war sie schon immer. Seit sie denken kann, war sie zu dumm, zu unkonzentriert, zu ungeschickt für eigentlich alles. Und dann war sie auch noch aufmüpfig und renitent. Ein äußerst schwieriges Kind. Ihr Vater hatte das schon bei ihrer Geburt gespürt. Und er hatte es Nathalie so lange Tag für Tag eingetrichtert, bis sie es selbst glaubte. Kein Wunder, dass ihm immer wieder die Hand ausrutschte. Man konnte mit Nathalie ja kaum anders umgehen. Sie hatte es verdient.

Heute ist Nathalie 23 Jahre alt. Eine hübsche junge Frau mit einem schüchternen, aber umso gewinnenderen Lächeln und großen, traurigen Augen. Es fällt ihr schwer, über ihre Kindheit zu sprechen. Nicht nur, weil die Erinnerungen so schmerzhaft sind, sondern weil sie nicht genau sagen kann, was Realität ist und was nicht. Weil sie nie gelernt hat, sich und ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Nathalie ist ein Gaslighting-Opfer.

Es geht um Macht

Gaslighting ist eine Form des psychischen Missbrauchs. Das Opfer wird dabei so lange zielgerichtet erniedrigt, eingeschüchtert und manipuliert, bis es völlig verunsichert und hilflos ist. Das Phänomen ist nicht neu. Emotionale Ausbeutung und Einschüchterung gibt es, seit es menschliche Beziehungen gibt. Neu ist aber das Bewusstsein, dass es sich dabei um eine Form der Gewalt handelt. Gaslighting ist besonders perfide, weil es fast ausschließlich von Menschen praktiziert wird, die einem nahestehen. Von Eltern und Partnern. Seinen Namen hat dieses Phänomen von dem 40er-Jahre-Film "Gaslight", in dem ein Ehemann gezielt Gegenstände manipuliert, um seine Frau in den Wahnsinn zu treiben. In der Realität funktioniert Gaslighting freilich subtiler. Aber das Ziel ist das Gleiche: Es geht darum, dem Gegenüber die eigene Wahrnehmung abzusprechen. Es geht um Macht, Stärke und Überlegenheit.

Nicht immer wird Gaslighting bewusst eingesetzt. Auch Nathalie ist überzeugt, dass ihr Vater nicht wusste, was er ihr antat. Er sei kein schlechter Mensch, sagt sie. Er habe in seiner Kindheit selbst massive Gewalt erfahren müssen und sei dadurch traumatisiert. Eine Entschuldigung für sein Verhalten ist das nicht, sagt Nathalie, die mittlerweile Psychologie studiert. Aber vielleicht ein Erklärungsversuch.

Nathalie, die jüngere von zwei Schwestern, war "von Anfang an das Aschenputtel". Weil sie angeblich zu dick war, wurde sie schon als Kleinkind von den Eltern auf Diät gesetzt. Egal wo im Haus etwas kaputt ging und egal wie weit Nathalie entfernt war, für ihren Vater war klar, dass sie etwas damit zu tun haben musste. Schließlich war sie ja die Tollpatschige. Also setzte es Ohrfeigen. Wenn sie ihrer Mutter, die beruflich viel auf Reisen war, davon erzählen wollte, schob der Vater die Schilderungen auf die blühende Fantasie des Kindes. Mit ihrer "hysterischen Art" bausche Nathalie ja immer alles auf. Die "hysterische Art" war das Totschlagargument, mit dem es ihrem Vater gelang, die Tochter mundtot zu machen. Und genau das bezweckt Gaslighting -den anderen als unglaubwürdig dastehen zu lassen. Die Mutter, die den Vater bedingungslos liebte, machte alles nur noch schlimmer. Indem sie nicht nur tatenlos zusah, sondern meinte, Nathalie solle sich doch nicht so anstellen, es sei ja nichts passiert, verstärkte sie das Gaslighting. Nathalie konnte nicht mehr erkennen, was Wirklichkeit war und was nicht. Bis heute liegt ihre Kindheit in einem dunklen Nebel.

Die Folge ist Selbsthass

Für die Psychotherapeutin Theresia Kosicek ist das Verhalten der Mutter typisch für eine Täterin, die aus inneren Notwendigkeiten heraus handelt. "Würde die Mutter zugeben, dass der Vater die Tochter die ganze Kindheit hindurch geschlagen und sie nichts dagegen unternommen hat, müsste sie sich mit ihrer Täterinnenschaft auseinandersetzen. Mit ihrer Beziehung zum Täter. Wenn sie sich dafür nicht in der Lage fühlt, muss sie die Wahrheit biegen."

Als Nathalie in der Pubertät Panikattacken und Essstörungen entwickelte und begann, sich selbst zu verletzen, war das für ihre Eltern nur ein weiterer Beweis für ihren hysterischen und schwierigen Charakter. Und Nathalie war überzeugt, dass sie recht hatten. Schließlich waren es ja ihre Eltern. Menschen, die sie von Natur aus lieben sollten, die ihr nichts Böses wollten. Nathalie hasste sich. Und sie hasste ihr Leben.

»Starke Selbstzweifel, Verzweiflung, Selbsthass und Depressionen sind typische Folgen.«

"Starke Selbstzweifel, Verzweiflung, Selbsthass und Depressionen sind typische Folgen von Gaslighting", sagt die Psychotherapeutin Theresia Kosicek. "Besonders gravierend sind sie, wenn man schon als Kind Opfer von Gaslighting wird." Das muss Nathalie derzeit schmerzvoll erfahren. Sie schaffte den Ausstieg aus der Spirale von Manipulation und Schuldzuweisung erst, als sie mit 18 von zu Hause ausund weit weg nach Graz zog, eine Psychotherapie begann und den Kontakt zu den Eltern abbrach. Erkennen zu müssen, dass sie von den Menschen, die ihr am nächsten standen, die sie doch eigentlich liebte, psychisch missbraucht worden war, war besonders schmerzhaft, sagt Nathalie. Langsam und mühevoll musste sie lernen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Zu glauben, wenn ihr jemand sagt, dass sie liebenswert ist. Und nicht die Schuld für alles und jedes bei sich zu suchen. Nicht immer gelingt ihr das.

Das Schwierigste an psychischer Gewalt ist, sie zu erkennen. Oft dauert es Jahre, bis Betroffene bemerken, dass die Verhaltensmuster der Gewalttäter, die sie beinahe schon als normal empfinden, alles andere als normal sind. Vor allem Frauen sind leichte Beute, weil sie grundsätzlich Schuld immer mehr auf sich beziehen, als sie nach außen zu geben. Dazu kommt, dass sie die, die sie lieben, nach außen hin verteidigen und die Probleme beschönigen, sodass sie aushaltbar werden.

Der Weg heraus ist schwer

So war es auch bei Corinna. Peter, ihre große Liebe, kannte sie von Kindestagen an. 30 Jahre später wurden die beiden ein Paar und die Welt war rosarot. Schließlich kannten und vertrauten sie sich, und so merkte Corinna nicht, wie Peter immer mehr versuchte, die Kontrolle über sie zu gewinnen. Immer wieder und unablässig krittelte er an ihr herum. Erst waren es die Haare, dann die Figur, schließlich das Autofahren. Nichts war gut genug. Obwohl Corinna bis dahin eine begeisterte Autofahrerin war, traute sie sich bald nicht mehr hinters Steuer. Als Nächstes kam das Kochen an die Reihe -Corinnas große Leidenschaft. Mehrere Freunde hätten ihm schon im Vertrauen gesagt, dass ihr Essen einfach nicht besonders gut sei, behauptete Peter. Er wolle sie ja nicht kränken, aber in Zukunft werde wohl besser er das Kochen übernehmen. Dann begann Peter zu behaupten, Corinna sei unkonzentriert. Mehrfach hätte sie den Herd nicht abgedreht, bevor sie die Wohnung verlassen hatte. Corinna war sich eigentlich sicher, dass das nicht sein konnte - aber warum sollte Peter, ihr Geliebter, der es gut mit ihr meinte, so etwas behaupten? Das Gefühl machte sich breit, für alles zu blöd zu sein. Corinna begann, sich schon im Vorhinein für alles zu entschuldigen, und während ihre Unsicherheit sich über ihr ganzes Leben ausbreitete, wurde Peter zu ihrer einzigen Stütze. Zum Fels in der Brandung.

Hätte er sie nicht über einen längeren Zeitraum betrogen und wäre sie nicht dahintergekommen, wäre sie vermutlich noch heute bei ihm, sagt sie. Erst im Nachhinein wurde Corinna klar, wie ungesund ihre Beziehung gewesen war. Wie sehr sie sich verändert und ein fremdes Leben gelebt hatte. Erst mit Hilfe einer Therapeutin lernte sie, sich von Peters Unterstellungen, die nach wie vor omnipräsent waren, zu lösen, ihre eigenen Bedürfnisse wieder zu erkennen und ihrer Wahrnehmung zu vertrauen. Und sich selbst zu verzeihen, dass sie all das nicht erkannt hatte.

Während Corinna über das Beziehungsaus heute sehr glücklich ist, fällt Nathalie die Trennung von ihrer Familie bis heute schwer. Ein Mann ist ersetzbar, eine Familie kaum. Trotzdem weiß Nathalie, dass ihr Schritt richtig war und dass sie eins nie wieder sein will: ein Opfer.