Franz Welser-Möst: "Im Rückblick sieht alles immer einfacher aus"

Vor seinem dritten Neujahrskonzert spricht Dirigent Franz Welser-Möst über Hoffnung in dunkler Zeit und räumt Missverständnisse mit Anna Netrebko aus.

von Franz Welser-Möst: "Im Rückblick sieht alles immer einfacher aus" © Bild: Julia Wesely

Maestro, wie blicken Sie dem Neujahrskonzert entgegen? Gelassener als den beiden ersten?
Ein wenig schon. Es gibt kein Konzert, wo der Druck auf das Orchester und den Dirigenten so groß ist. Da schon Erfahrung zu haben, wirkt beruhigend.

Von den 15 Werken im Programm wurden 14 noch nicht beim Neujahrskonzert aufgeführt, alle Erfolgsstücke fehlen. Ist das nicht riskant?
Gar nicht. Ich habe mir bereits vor einigen Jahren, noch bevor ich für dieses Neujahrskonzert gefragt wurde, alles gekauft, was es in Druck von Joseph Lanner, Johann Strauß und Josef Strauß gibt ...

Wie viel ist das?
Einige Laufmeter in meiner Bibliothek. Durch die Pandemie hatte ich Zeit, darin zu schmökern, und habe so viele wunderbare Schätze entdeckt! Ich habe mir dann aus dem Archiv der Philharmoniker alles ausheben lassen, was schon gespielt wurde, und habe mit großem Staunen festgestellt, dass bei den Neujahrskonzerten erst 30 Prozent von all dem, was die Strauß-Familie geschrieben hat, aufgeführt worden ist. Als Daniel Froschauer zum ersten Mal zu mir kam, um das Programm zu besprechen, sagte ich ihm, ich hätte Stücke für zehn Konzerte. Da sind Schätze zu heben! Es war mir ein Anliegen, zu zeigen, dass das großartige Musik ist und man nicht nur Hits zu spielen hat, die jeder kennt.

Aber wenn etwas nicht gespielt wird, hat das doch meist einen Grund! Es ist doch auch kein Zufall, dass man von Mozart "Don Giovanni" und "Figaro" ständig hört und die "Gans von Kairo" selten.
Das stimmt schon. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir unglaublich großartige Stücke gefunden haben. Wir können darüber am 2. Jänner weiterreden.

Und der Radetzky-Marsch, das Symbol für die Musik, mit der Tausende in den Tod an der Front geschickt wurden? Können Sie den heute so dirigieren wie 2011 oder 2013, als es den Krieg in der Ukraine noch nicht gab?
Nicht nur beim Radetzky- Marsch, sondern in dieser gesamten Musik bin ich sicherlich mehr auf der Suche nach der Melancholie als vor zehn Jahren. Ich bin auch älter geworden und natürlich beeinflusst einen, dass wir weltweit eine große Krise haben, Pandemie, Kriege Man sucht nach anderen Zwischentönen, als wenn alles heiter und gut ist.

Das Mitklatschen könnte heuer eventuell befremdlich wirken, nicht?
Aber dieses Konzert bedeutet doch auch Hoffnung und Zuversicht! Und wenn Sie immer mitdenken, wofür etwas verwendet worden ist, dürfen sie vieles heute überhaupt nicht mehr spielen. Nicht einmal eine Neunte Beethoven, die wurde auch von Adolf Hitler, Stalin und etlichen anderen eingesetzt. Es gibt kaum ein missbrauchteres Stück, aber ein gutes Stück bleibt ein gutes Stück Musik, ganz egal, ob es missbraucht worden ist oder nicht. Und den Radetzky-Marsch und das alljährliche Mitklatschen würde ich unter "Brauchtum" ablegen. Die Leute freuen sich drauf.

Was kann man daraus schließen, dass Sie bereits Ihr drittes Neujahrskonzert dirigieren? Etwa ein noch größeres Näherrücken an das Orchester nach dem Zerwürfnis der Staatsoper mit ihrem Musikdirektor Philippe Jordan?
Nichts kann man daraus schließen. Zu meinem Sechziger haben die Philharmoniker auf Schloss Fuschl eine Geburtstagsfeier für mich ausgerichtet, als in Salzburg alles reduziert war. Da kamen Daniel Froschauer und Michael Bladerer mit einem verschmitzten Lächeln zu mir und sagten: "Wir haben ein Geburtstagsgeschenk." Das war die Einladung zum Neujahrskonzert. Aber was mich betrifft, kann man nichts daraus ableiten. Also ich tu's nicht.

Haben Sie dennoch eine Erklärung dafür, dass noch kein Musikdirektor an der Staatsoper glücklich geworden ist? Sie sind ja selbst vorzeitig gegangen.
Ich kann Ihnen das nicht pauschal beantworten. Ich habe es nur selber am eigenen Leib erlebt. In der Konstellation, in der ich damals war, habe ich mich künstlerisch nicht wiedergefunden. Es ist eine unglaublich schwierige, nahezu unmögliche Aufgabe, einen Manager und einen Dirigenten zu finden, die in einem so komplexen Betrieb, wie es dieses Haus immer war, gut miteinander auskommen. Die Quadratur des Kreises ist noch nicht gefunden worden.

Es ist also nachvollziehbar, dass Bogdan Roscic ab 2025 keinen Musikdirektor mehr beschäftigt?
Ich verstehe das. Seine Zeit ist bis 2030 ausgelegt. Allein die Eingewöhnungsphase für so ein Führungsteam ist nicht ohne. Ich verstehe, dass er das macht, was sein Vorgänger auch nach meinem Abgang gemacht hat und auch Holender davor. Da können wir in der Liste zurückgehen, einer nach dem anderen. Man versucht, mit den größeren Dirigenten eine engere Zusammenarbeit zu finden.

»Ich bin in dieser Musik sicher mehr auf der Suche nach Melancholie als vor zehn Jahren. Natürlich beeinflusst einen die Weltkrise«

Darf man daraus schließen, dass auch die Zusammenarbeit mit Ihnen noch enger werden könnte?
Ja. Ich höre von einer neuen "Turandot" mit Asmik Grigorian. Ich bin nicht so in die Pläne von Herrn Roscic eingeweiht, dass ich alles weiß, was er plant, aber "Turandot" ist ein schönes Stück.

Haben Sie keine Sorge, dass Sie die von Ihnen quasi entdeckte Grigorian mit dieser Gewaltpartie überfordern?
Sie ist eine sehr kluge Sängerin und würde sich in diesem Fall nicht darauf einlassen. Da muss man in der Partnerschaft Sängerin-Dirigent einen Weg finden. Wir haben auch in der "Salome" bewiesen, dass wir das können: einen Weg finden, der klug zu gehen ist, ohne dass es zu stimmlichen Verletzungen kommt.

Und die Regietheater-Debatte, die in der Auseinandersetzung zwischen Roscic und Jordan wieder hochgekocht ist?
Ich finde, sie ist ein bisschen populistisch geführt. Es ist interessant, wer da jetzt aller auf diesen Zug aufspringt. Was ist denn Regietheater? Was ich möchte, ist etwas, das total an diesem Wort vorbeigeht. Es geht doch darum, dass ein Stück ernst genommen wird und dass ich versuche, es im Heute zu zeigen. Nicht unbedingt in heutigen Kostümen, sondern aus unserer heutigen Sicht. Heute dirigiere ich eine Neunte Mahler auch anders als vor 20 Jahren.

Inwiefern?
Weil ich 20 Jahre mehr Lebenserfahrung habe und mehr über das Stück gelernt habe. Das Leben ist ein Puzzle, da kommt ein Steinchen zum anderen. Was ich mir in der Oper wünsche, haben wir in den letzten Jahren in Salzburg erwiesen. Ich habe mit ganz verschiedenen Regisseuren gearbeitet. Simon Stone ist ganz anders als Castellucci, Christof Loy ist anders als Warlikowski. Und trotzdem ist immer etwas Großartiges herausgekommen, weil die Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Bühne ernst genommen worden ist. Das kreide ich unserem Betrieb oft an, dass da auf zwei Gleisen dahingefahren wird. Wenn sich ein Dirigent nicht einbringt, nicht mit dem Regisseur redet ...

Weil er nicht da ist?
Das gibt es auch oft genug, aber es gibt auch Dirigenten, die da sind und nicht mit dem Regisseur reden. Dann hat dieses Gesamtkunstwerk, das es sein soll, keine Chance. Wir haben zunehmend eine Bebilderung, bei der die Personenregie vernachlässigt wird. Wenn die Aktion zwischen den Figuren nicht spannend ist, fehlt etwas vom Wesentlichen. Man sollte nicht alles über einen Kamm scheren und pauschal das Regietheater ablehnen. Christof Loy und ich haben beim "Trittico" heuer in Salzburg oft darüber gesprochen. Oft gibt es jedoch auch wesentliche szenische Momente, die in den Opern selbst angelegt sind. Die Schiffssirene in "Il Tabarro" zum Beispiel. Die ist komponiert. Ich kann doch nicht statt dem Schiff etwas anderes auf die Bühne stellen!

Kommen wir zu Anna Netrebko. Sie haben sich zuletzt unfreundlich über sie geäußert, als sie in Bedrängnis war.
Nein, meine Kritik kam mindestens schon ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges und es ging vorwiegend um die Einstellung zur Probenarbeit. Ich habe großen Respekt vor der Künstlerin Anna Netrebko. Aber mein Verständnis für die Neuproduktion einer Oper ist so, dass es eine große Zusammenarbeit von allen braucht und man auch gemeinsam mit der Mannschaft, die am Werken ist, ausgiebig probieren kann. Das Recht nehme ich mir.

Wenn Anna Netrebko fünf Wochen probt, hätten Sie dann ein Problem mit ihr?
Nein.

Und wie sehen Sie die Diskussionen über Currentzis?
Das ist eine wirklich schwierige Frage, und mein Informationsstand betrifft auch nur das, was ich aus den Medien weiß. Sagen wir es so: Ich fände es gut, wenn sich Teodor Currentzis äußern würde. Selbstredend kann man dies nicht von einem Kollegen verlangen, aber es würde wahrscheinlich ihm und seinem Orchester helfen und die künstlerischen Aspekte im öffentlichen Diskurs wieder in den Vordergrund treten lassen.

Ist es nicht so, dass die Kunst plötzlich alles auf sich nehmen soll? Vor dem "Boris Godunow" in Mailand sind die Ukrainer aufmarschiert, weil Mussorgski Russe ist, die Umweltschützer schütten mit Farbe, andere brüllen gegen die Reichen. Nur um die Kunst geht es nicht mehr. Oder täusche ich mich da?
Nein, aber es gibt schon Schnittmengen. Ich kenne einen Ukrainer, dessen Familie noch dort lebt, und ich verstehe die Emotionen, so wie die in Israel gegen Wagner. Das ändert aber nichts daran, dass ein Kunstwerk ein Kunstwerk ist. Mussorgski hat "Boris" nicht mit der Intention geschrieben, dass Putin in der Ukraine einmarschiert. Man muss auch unterscheiden zwischen einem reproduzierenden Künstler und einem Genie, das ein Kunstwerk erschafft. Wenn das draußen in der Welt ist, hat es sofort sein Eigenleben. Dass dieses Stück an der Scala gespielt wird, ist völlig richtig.

Wenn man sich die Vertreter der Cancel Culture ansieht, hat man den Eindruck, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie abschaffen wollen. Schostakowitsch wurde im Stalinismus drangsaliert und soll heute für Putin büßen. Wie sehen Sie das?
Das Problem ist, dass wir in unserer Gesellschaft verlernt haben, einen Diskurs zu führen. Es wird schnell unterteilt, wenn du nicht meiner Meinung bist, bist du mein Feind. Ich weiß nicht, wie wir da wieder herauskommen und wo uns das hinführen wird. Adrian Daub, ein Universitätsprofessor in Stanford, beschreibt im Buch "Cancel Culture Transfer" diese Entwicklung. Das ist keine Erfindung der vergangenen zwei Jahre. In Amerika wurde der Begriff zum ersten Mal vor acht Jahren verwendet. Von einem Fan eines Popsängers! Die Dame schrieb: "Wenn du nicht bald die neue CD herausbringst, cancele ich dich." Oder Kanye West, der Hitler-Versteher und Trump-Verehrer. Da wird einem schon ein bisschen mulmig.

»Wenn Anna Netrebko fünf Wochen probt? Dann hätte ich kein Problem mit ihr«

Stimmt es tatsächlich, dass Sie in dieser Spielzeit an der Oper den letzten "Ring" Ihres Lebens dirigieren?
Das stimmt.

Warum?
Das hat mit meinen physischen Kräften zu tun. Ich werde im nächsten Jahr 63 und bin ein Fan davon, gewisse Schritte sehr bewusst zu setzen. Ich erinnere mich an ein Treffen mit Harnoncourt im Eingang vom Musikverein. Er dirigierte die Matthäus-Passion und sagte zu mir: "Das ist das Letzte, was ich zur Matthäus-Passion sagen werde." Wenn man merkt, so schaff ich das nicht mehr, wie ich möchte, ist es Zeit. Und so eine "Götterdämmerung" dauert lang.

"Elektra" ist viel kürzer und die wollen Sie auch nicht mehr machen!
Wenn Sie zwei Stunden Puls 190 haben, ist das auch nicht gut.

Ihr Rückzug gilt doch hoffentlich nicht für " Tristan","Parsifal" oder "Meistersinger"?
Für diese Stücke nicht.

Das ist beruhigend, denn es gibt in Ihrer Generation kaum große Operndirigenten. Haben Sie da eine Erklärung?
Doch, aus eigener Erfahrung. Damals wurde an der Hochschule gepredigt: "Geht nicht in den Graben, da macht man keine Karriere."

Wie geht es in Cleveland weiter? Hören Sie wirklich 2027 auf?
Ja. Das waren dann 25 Jahre, eine schöne Zeit, dann wird es genug sein.

Haben Sie anfangs gedacht, dass es 25 Jahre werden und dass es so gut wird?
Nein. Im Rückblick sieht alles immer einfacher aus, aber es gab Kreuzungen, da wusste ich nicht, bieg ich links oder rechts ab. Alles hat sich gut gefügt, und ich bin nach wie vor sehr glücklich mit dem Orchester. Aber ich finde, es ist wichtig, auch für die Institution, dass ein neuer Input kommt. Und wenn ich schon dieser Meinung bin, muss ich bei mir selber anfangen.

Und Salzburg? Darf man, solange Markus Hinterhäuser Intendant ist, jeden Sommer eine Oper mit Ihnen erwarten?
Nein, nicht automatisch. Jetzt kommt "Macbeth", aber im Jahr darauf kommt keine Oper. Die geht sich nicht aus, weil ich im Sommer mit Cleveland auf einer großen Tournee bin. Und dann wird man sehen.

Und haben die Philharmoniker nicht doch Andeutungen gemacht, dass man näher zusammenrücken könnte?
Ja, unsere bald 25-jährige Zusammenarbeit trägt ihre Früchte. Das hat sich jetzt bei der Asien-Tournee aufs Wunderschönste bewiesen. Natürlich gibt es den einen oder anderen, der sagt: "Sie müssen wieder mehr bei uns sein." Wissen Sie, ich habe mir in all den Jahren meiner Tätigkeit etwas Unschätzbares erarbeitet: meine Unabhängigkeit. Dies ermöglicht mir, jene Projekte anzunehmen, die meinem künstlerischen Ethos entsprechen. Sich selbst treu zu bleiben, macht schlussendlich glücklich.

Franz Welser-Möst
Geboren am 16. August 1960 in Linz, besuchte er das dortige Musikgymnasium und wollte Geiger werden. Ein Autounfall durchkreuzte diese Pläne, und er begann autodidaktisch eine Karriere als Dirigent. Sie führte ihn (zu) früh an die Spitze des London Philharmonic. An der Zürcher Oper begann der Aufstieg in die Höchstliga. Seit 2002 ist er Musikdirektor des Cleveland Orchestra, zwischen 2010 und 2014 war er Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper. Welser-Möst ist verheiratet und lebt in Cleveland und am Attersee.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 50/2022.