Die liebenswerte Mrs. Wintour

Spitznamen wie "Stalin in Stilettos" trug die Chefredakteurin der US-"Vogue" stets so stolz und gelassen wie ihre Sonnenbrillen. Am 3. November wurde Anna Wintour 70 Jahre alt - und leistet sich immer öfter sogar ein Lächeln.

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Happy Birthday! - Die liebenswerte Mrs. Wintour

Schwarze Sonnenbrillen, kinnlanger Bob mit Stirnfransen, langärmeliges Designerkleid. Nicht nur Modeaficionados erkennen anhand dieser Merkmale die seit drei Jahrzehnten als US-"Vogue"-Chefin amtierende Anna Wintour. Als eiskalt, kontrolliert und unnahbar wird sie gerne beschrieben. Mehr Angst als Respekt eilt ihr voraus und Spitznamen wie "Nuclear Wintour" oder "Stalin in Stilettos". Anekdoten wie jene vom intern wichtigsten "Vogue"-Tipp an neue Mitarbeiter zeugen vom Klima, das sie bevorzugt: Nie grüßen, nie ansprechen nie in die Augen sehen solle man Wintour. Das beherzigte eine Praktikantin auch, als die Chefin am Gang vor ihrer Tür stolperte und hinfiel. Die Neue sah weg, bot keine Hilfe an und tat insgesamt, als wäre nichts gewesen. "Alles richtig gemacht", lautete daraufhin das Lob des Kernteams.

Dabei erweckt die Frau mit dem schauderhaften Ruf in jüngster Zeit zunehmend den Eindruck, nicht nur ein Herz zu besitzen, sondern dieses auch noch am richtigen Fleck. Vermuten ließ dies schon ihre Reaktion auf den Rachefilm einer Ex-Mitarbeiterin, "Der Teufel trägt Prada"(2006): Zur Premiere des Films, der Wintours Vorzüge als eiskalter Engel hervorhebt, trug die Chefredakteurin von Kopf bis Fuß Prada und damit einen guten Sinn für Humor. Sie schien auch stolz, denn im Zuge ihres Schreckensregimes wurde sie auch zu der Frau, die Marc Jacobs, John Galliano und Stella McCartney zu Designstars schreiben konnte. Sie hatte erstmals ein Model in Jeans auf dem "Vogue"-Cover gezeigt -eine Revolution, die sogar die Druckereiangestellten dazu trieb, nachzufragen, ob dies das richtige Bild sei. Auf ihr Verlangen wurde die Fashionweek in Mailand 2010 auf vier Tage gekürzt.

anna wintour
© Getty Images Von 1984 bis 1999 war Kinderpsychologe David Shaffer ihr Mann, mit ihm hat sie Sohn Charles, 34, und Tochter Katherine "Bee", 32

Altersmildes Gewohnheitstier

Kurz vor Wintours 70. Geburtstag am 3. November wurden ihre Wortmeldungen derart häufig und intim, dass Journalisten es wagen, von "Altersmilde" zu schreiben. So löste Wintour vor Kurzem im CNN-Gespräch das Rätsel rund um ihre schwarze Sonnenbrille: Sie will dahinter nachdenken, ohne dass man dabei in ihrem Gesicht lesen kann, sagte sie. Manchmal schließt sie hinter den Brillen sogar ihre Augen zum Nickerchen. "Die Sonnenbrille hilft mir, wenn ich müde oder schläfrig bin. Vielleicht ist sie eine Art Krücke geworden von allem, was ich bin", sagte sie.

© Getty Images Die Prominenz wie Bianca Jagger bei einer Warhol-Buchpräsentation 1990 gehört zu Wintours Alltag

Dann entzauberte sie die Kultfrisur, die sie seit ihrem 14. Lebensjahr trägt. Der Stirnfransen-Bob, der der Legende nach zweimal täglich frisch geföhnt wird, sei keine "strategische Entscheidung" gewesen. "Ich habe mich einfach gut damit gefühlt, das war alles. Ich bin ein Gewohnheitstier", so Wintour.

© Getty Images Mit Designer Ralph Lauren bei Lady Dianas Besuch in Washington

In der YouTube-Serie "Go Ask Anna" beantwortet die Frau, die drei Jahrzehnte lang ihre Unnahbarkeit pflegte, neuerdings sogar profane Fragen von Menschen fernab des Modezirkus. So erfährt man, dass Wintour ein Fan von Meghan Markles kalifornischem Lebensstil ist, dass sie derzeit nicht nach neuen Trends sucht, sondern nach Designern, die auf Nachhaltigkeit setzen, und dass sie Boots aktuell für das wichtigste Accessoire hält. "Gerade in Zeiten von Fake-News wollen die Menschen wissen, wofür ein Magazin steht. Wir müssen Position beziehen", erklärte die "Vogue"- Chefin im britischen "Guardian" ihren Blick auf den Journalismus.

Keine Angst vor Trumps Macht

Diesem Ziel entsprach sie in den letzten Jahren deutlich. Sie hob Hillary Clinton als erste First Lady aufs Cover, ließ demokratische Politikerinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez, Lauren Underwood oder Kamala Harris in langen Artikeln zu Wort kommen und stellte sich mit einer Reportage über Donald Trumps verhängnisvolle Affäre, Pornostar Stormy Daniels, klar gegen den US-Präsident. Dass dieser nichts, aber auch "gar nichts" tun könne, um zur Met-Gala, dem wichtigsten Mode-Event des Jahres unter Anna Wintours Schirmherrschaft, geladen zu werden, wiederholte sie bereits mehrfach öffentlich.

Ganz der kühle Papa

Anna Wintours Führungsstil sowie ihr Selbstbewusstsein prägte ihr Vater: Der Weltkriegs-Veteran Charles verdiente sich als Chefredakteur des Londoner "Evening Standards" den Beinamen "Chilly Charlie". Im Umfeld ihrer hochgebildeten Geschwister war Wintour zwar einerseits "Daddys Girl", andererseits jedoch die schulabbrechende "Versagerin". Bruder James war zuletzt Generaldirektor wohltätiger Organisationen, Schwester Nora Hilary Direktorin der Gewerkschaftsföderation "Public Services International", und Bruder Patrick ist Politikjournalist des "Guardian".

Statt aufs College zu gehen, machte Anna eine Lehre bei "Harrod's". "Angesichts der akademischen Erfolge meiner Geschwister fühlte ich mich wie eine Versagerin. Sie waren superschlau, also arbeitete ich daran, dekorativ auszusehen", sagte sie Mitte der 80er-Jahre. Sie legte sich ihre Trademark-Frisur zu, genoss Londons Partyszene, ging in die USA und arbeitete als Mode-Journalistin bei "Harper's Bazaar" Anfang der 70er-Jahre an ihrem Ziel, irgendwann "Vogue" zu regieren. Als sie gut zehn Jahre später den ersten Job bei "Vogue" ergattert hatte, fragte die damalige Chefin Grace Mirabella: "Welchen Job hätten Sie denn gern?" Wintour antwortete ohne falsche Bescheidenheit: "Ihren."

Mirabella schickte Wintour bald zurück nach London, doch die ebenso entschlossene wie talentierte Journalistin saß fünf Jahre später dennoch auf deren Chefsessel. Als "verblüffend" beschrieb dies Biograf Jerry Oppenheimer ("Front Row"), da Wintour früher stets Redakteure brauchte, die ihre Texte formulierten, dass sie keine zwei Worte fehlerfrei schreiben konnte: "Aber sie überwand alle Handicaps mit ihrem hellseherischen Sinn für Mode."

© 2017 Getty Images Im Mai 2017 erhielt Wintour aus den Händen der Queen den Verdienstorden "Dame Commander of the British Empire", hier mit Tochter Bee

Tatsächlich erfand sie die "Vogue" neu und brach dabei viele Regeln: Sie zeigte günstige Mode neben Designerstücken, sie setzte auf Prominente statt Models am Cover und scheute sich nicht, politisch Stellung zu beziehen. "Anna hält ihren Finger nicht in den Wind, sie ist der Wind", beschrieb die "New York Times" die Jubilarin.

Wintour selbst erklärte vor Kurzem in der YouTube-Serie "Masterclass" ihren Führungsstil so: "Ich suche starke Menschen. Ich mag keine Leute, die Ja zu allem sagen, was ich vorschlage. Ich will Menschen, die streiten können und einen eigenen Standpunkt vertreten, der mit dem Magazin korrespondiert." Ihr Erfolg basiere auf der Erkenntnis, dass Menschen sehr gut darauf reagieren, wenn man genau weiß, was man will, sagt sie.

© 2016 Getty Images Anna Wintour bestimmt als Chefredakteurin der "Vogue" seit 1988 die Trends mit

Das Rüstzeug für eine Nachfolge wäre damit definiert, auch wenn Wintour mit 70 noch lange nicht ans Aufhören denkt. Erst im Vorjahr ließ Condé-Nast-CEO Bob Sauerberg alle Gerüchte über einen geschäftsschädigenden Rückzug Wintours verstummen: Er verlautbarte, "die unglaublich talentierte Frau habe zugestimmt, auf unbestimmte Zeit" mit ihm weiter für die "Vogue" zu arbeiten.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 44/2019