Niemand besucht uns

Alterseinsamkeit als Generationskonflikt

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

"Sonntag besuchte ich meine Eltern zum Abendessen, das wollte ich nicht versäumen, jetzt sitzen Erwin und ich allein jeden Sonntag", sagte Frieda. Sie ging links, zwischen Erwin und mir, rechts ging Traude. Ein sonniger Tag im Februar und wir versuchten, über die schnurgerade Hauptallee im Prater das Lusthaus zu erreichen. "Wieso, sie haben doch Tina vor zwei Wochen vorbeigebracht", sagte Erwin. "Ja, weil der Babysitter im letzten Moment absagte", erwiderte Frieda, "ich muss mich fast schon bedanken, wenn ich meine Enkeltochter sehen darf." Ich wartete, ob Traude etwas sagen würde, und es dauerte nicht lange. "Ja, ja", sagte sie und seufzte, "wir sind selber schuld, wir haben sie nie dazu erzogen, uns gegenüber verantwortlich zu sein." Dann sprachen wir über unsere Eltern. Wie wir uns kümmerten, uns eben verantwortlich fühlten und wie scheinbar gleichgültig unsere Kinder sich uns gegenüber verhalten.

Vor uns die endlos lange Hauptallee, mit nervösen Radfahrern, die ständig hinter uns schrien, weil wir auf dem Asphalt und nicht auf dem seitlichen Weg gingen, und sie schimpfend einen Bogen um uns fahren mussten, als fürchteten sie, in einem Rennen nicht unter die ersten zehn zu kommen.

Geburtstagsfest

"Ich hab's aufgegeben", sprach Traude weiter, "wann immer ich frage, ob sie vorbeikommen, geht es sich gerade jetzt nicht aus, der Kleine muss zum Judo, ein Geburtstagsfest, Französisch-Gruppe, Klavier, Mathematik für Begabte, sie trainieren den Zwölfjährigen, als ob er bereits in der engeren Auswahl für den Nobelpreis genannt wurde."

Ich sagte nichts, was hätte ich auch sagen sollen. Sie hatte leider recht. Erwin lachte kurz auf und sagte: "Wir sollten die Zeit einfach einklagen. Ich hab von einem Fall in den USA gelesen, es gibt sozusagen ein gesetzliches Besuchsrecht für Großeltern." Erwin benutzt zwei Stöcke. Er meint, es würde die Arme entlasten und versucht, große, schnelle Schritte zu machen, schaut immer wieder auf sein elektronisches Armband. Spaziergang ist vorbei, jetzt geht es um Workout. Wir kamen beim Café Meierei vorbei. Ich erinnerte mich an die Zeit mit Robert hier an sonnigen Wochenenden, dahinter die Bergbahn im Prater mit einem Wasserstrahl, der alle am Kopf erwischte, die sich nicht rechtzeitig bückten. Ich wollte bleiben, doch die anderen marschierten weiter und zogen mich mit wie an einer Leine.

"Wir erlebten unsere Eltern irgendwann als älter, betreuten, versorgten sie. Später, selbst Eltern, ignorierten wir den Altersunterschied, waren stolz, wenn Mütter und Töchter beim Rolling-Stones-Konzert wie Geschwister aussahen, Väter und Söhne die gleiche Sportkleidung trugen und beim Halb-Marathon nebeneinander durchs Ziel liefen, der Generationskonflikt existierte nicht mehr", sagte Traude. "Es ist nicht nur das Äußerliche, wir biedern uns an mit aufgesetztem Verständnis und verlieren ihr Verständnis für unsere Probleme", sagte Frieda.

Verantwortung

Ich dachte an meine Söhne, trage die gleichen Sportschuhe, Jeans und Pullover als gäbe es keine altersgemäße Kleidung mehr, und bei der Abfahrt am Arlberg hinter ihnen durch den Tiefschnee, als ob ich der Bruder oder gleichaltrige Freund wäre.

"Ich war nicht die Krankenschwester meiner Eltern", sagte Frieda, "die Verantwortung übertrug sich von einer Generation zur nächsten, wir wollten es dann anders machen, versuchten, uns den Kindern als Freunde anzubieten, hofften, die Distanz, die wir erlebt hatten, zu überwinden, sie nahmen es auch gerne an, nur zurück kam nichts." "Heißt das, wie sind selbst schuld?", fragte Erwin.

"Wer sonst?", sagte ich, "Obwohl, ich war ganz gerne der Freund meiner Kinder, da gab es auch schöne Momente." Ich dachte plötzlich wieder an den Arlberg, an die abenteuerliche Abfahrt, als ich versuchte, meinen Söhnen zu folgen. Wir waren glücklich, als wir im Tal angekommen waren, ohne Sturz und ohne Lawine, sprachen und scherzten noch Wochen später darüber. Mein Vater fuhr nie hinter mir durch den Tiefschnee, ich drehte mich nicht um, blieb nicht stehen, wie meine Söhne, wenn sie auf mich warteten.

Narzissten

Doch Frieda zerbröselte meine versöhnlichen Gedanken: "Wir haben sie zu Narzissten erzogen, die den Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und übertriebenem Selbstwertgefühl nicht verstehen, nach der Gleichgültigkeit unserer Eltern, die uns zwang, erwachsen zu werden, züchteten wir ewige Kinder, wie unsere Tochter, die als 40-jährige Ärztin es ganz selbstverständlich findet, dass wir jedes Mal im Restaurant die Rechnung bezahlen."

Wir schwiegen eine Weile. Erwin wurde langsamer, wir alle wurden langsamer. Die Frage - Was haben wir falsch gemacht? - beschäftigte uns. "Wir stritten vor ein paar Tagen über die Klebeaktionen, Edith, unsere Jüngste, meinte, eigentlich sollte meine Generation mitmachen", sagte Frieda. "Als ich mich darüber lustig machte, wurde sie richtig böse, später überlegte ich, ob ich meine Eltern gebeten hätte, mit mir gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren oder gegen die Nazis unter den Professoren, ich wär nie auf die Idee gekommen."

"Als ich meinen Eltern den Termin der Promotion mitteilte, blätterte mein Vater in seinem Kalender, dann sagte er, er hätte leider eine Dienstreise und gratulierte mir, ich war ihm nicht einmal böse, stellt euch vor, wie mein Sohn reagiert hätte", erzählte Erwin.

Wir blieben stehen. Gehen, Denken, Reden, es funktionierte nicht mehr. Die Gedanken lähmten uns. "Bleiben wir doch in der Meierei, ich pfeif aufs Workout, das Lusthaus erreichen wir heute nicht", sagte

Erwin und alle stimmten erleichtert zu. Wir fanden einen Tisch an der Hauswand von der die Sonne reflektierte und wir im Freien sitzen konnten.

Topfentorte

"Genug mit dem Gejammer, wie holen wir sie zurück, unsere Kinder?", fragte Frieda, wir lachten und bestellten Kaffee. Ich stand auf, ging zur Kuchen-Vitrine und bewunderte die Meisterwerke - vom Rehrücken, Malakoff-und Topfentorte, Cremeschnitten und Sachertorte bis zum Punschkrapfen. Jetzt war die Welt wieder in Ordnung, zumindest meine.

"Geht's dir jetzt besser?" Ich drehte mich um. Traude stand hinter mir. "Ja", sagte ich und nickte, "wie kann es einem bei solch einer Auswahl schlecht gehen?" Sie lächelte, nahm mich beim Arm und sagte: "Wir haben sie nicht verloren, es ist eben anders als bei unseren Eltern." Ich bestellte vier verschiedene Kuchen. Auf den Einwand von Traude, ich wüsste nicht, was die anderen wollten, sagte ich: "Das ist mir egal." Der Ober brachte die Kuchen. Er stellte die vier Teller in die Mitte des Tischs. "Wer hat die bestellt?", fragte Frieda. "Ich habe sie ausgesucht", antwortete ich. Wir starrten auf die Teller. "Ich nehme die Sachertorte", sagte Erwin. "Die wollte eigentlich ich haben", sagte Traude. "Dann nehm ich die Punschtorte", sagte Erwin. "Nein, die gehört mir", sagte ich. Traude nahm einfach den Teller mit der Malakofftorte. "Hey, nehmen gilt nicht, wir haben noch nichts entschieden!", rief Frieda und schob den Teller wieder in die Mitte. "Ich will aber die, wenn ich schon die Sacher nicht bekomme!", sagte Traude, ebenfalls lauter werdend. "Dann nimm doch die Topfentorte, wenn Frieda die Malakoff will", sagte ich zu Traude. "Ich will ja gar nicht die Malakoff", sagte Frieda. "Dann nehm halt ich die Topfentorte", sagte Erwin. "Die wollte ich haben", sagte Frieda. "Du isst nie Topfentorte!", fuhr Erwin sie an. "Heute schon", sagte Frieda. "Gib mir doch die Punschtorte", sagte Traude zu mir. "Was bleibt mir dann, die Sacher mag ich nicht", sagte ich. "Dachte, du wolltest die Sachertorte ", sagte Erwin zu Traude. "Okay, dann tauschen wir Sacher gegen Punsch", sagte Traude zu mir. "Wieso gehört dir plötzlich die Punschtorte?", fragte mich Frieda. Wir lachten und schoben die Teller hin und her, bis wir alle den Kuchens aßen, den wir eigentlich nicht wollten. Es war ein Tag, an dem einfach nichts klappen sollte. Ein Tag mit Freundinnen und Freunden in der kalten Februar-Sonne im Prater, ohne Kinder. Ein herrlicher Tag.