Sie bestimmt über Show, Regeln und Geld. Wie eine internationale Organisation in Genf über den ESC entscheidet: Ein Porträt der European Broadcasting Union EBU.
Von Linus Schöpfer, erstmals erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung
Am Pfeiler klebt das alte Eurovision-Logo, jenes mit dem Sternenkranz. Wer das Bild sieht, hat die Fanfare im Ohr: „Te deum“, im 17. Jahrhundert von einem Pariser Kapellmeister komponiert, nach dem Zweiten Weltkrieg als europäisches TV-Erkennungssignal berühmt geworden. Die Sterne leuchten, die Töne jubilieren – die Eurovision, ein synästhetisches Meisterwerk.
Neben dem Pfeiler sitzt ein halbes Dutzend Redakteure vor Computern. Das Licht ist schummrig, kaum ein Wort wird gewechselt; die Redakteure sitzen dicht an dicht und schicken Nachrichten-Clips zwischen den Gebührensendern hin und her. Wir sind im Newsroom der European Broadcasting Union (EBU). Dass es ein sonniger Tag ist, merkt hier unten keiner.
Umso größer ist der Kontrast, wenn man nach oben geht und ins Freie, ans Helle tritt: eine idyllische Szenerie; wir laufen über eine Parkanlage mit breiten Wegen. Ein paar Gehminuten entfernt hat die Weltgesundheitsorganisation ihren Sitz, es ist das internationale Viertel von Genf. John O‘Callaghan, der Mediensprecher der EBU, deutet auf das nahe Jura-Massiv: „A very Swiss view.“ In der Mitte des Parks erhebt sich die Zentrale. Sie besteht aus mehreren gläsernen Funktionsbauten, die über eine Skybridge miteinander verbunden sind. Im Untergeschoß befindet sich der Newsroom, in der Mitte die Büros, auf den Dächern lauschen die Satellitenschüsseln ins All hinaus.
Hier residiert die European Broadcasting Union, die mächtige, aber wenig bekannte, sich bedeckt haltende Organisation hinter dem Eurovision Song Contest (ESC). Ihre Mission ist die Verwirklichung der Eurovision; sie soll die Kräfte von Europas öffentlich-rechtlichen Sendern bündeln. Zuletzt wies sie ein Budget von 346 Millionen Euro aus.
Während wir über den blau-weißen Spannteppich laufen, macht der Sprecher O‘Callaghan einen überraschenden Vorschlag. „Wie wär’s, wenn ich rasch den ESC-Pokal hervorholen würde?“ Schon verschwindet der drahtige Kanadier in einem verwinkelten Gang der Zentrale, in der Mitarbeiter aus drei Dutzend Ländern ein und aus gehen. Die EBU mit ihren knapp 300 Angestellten bildet in Genf ihre Expat-Bubble. Dazu kommen Büros weltweit, unter anderem in Brüssel, Rom oder New York.
Idealismus und Bürokratie
Für diesen Text haben wir mit Funktionären wie O’Callaghan und dem stellvertretenden Direktor Jean Philip De Tender, aber auch mit früheren EBU-Mitarbeitern gesprochen. Manche von ihnen waren einfache Teammitglieder, andere arbeiteten in Führungspositionen. Während der Gespräche kristallisierten sich jene beiden Merkmale heraus, die den Charakter der European Broadcasting Union prägen: Idealismus – und Bürokratie.
„Schauen Sie nach Amerika, schauen Sie sich in der Welt um“, sagt Jean Philip De Tender, der belgische Vizedirektor der EBU, in einem Video-Call. „Überall sind Fliehkräfte am Werk, überall sind die Demokratien und die öffentlich-rechtlichen Sender unter Druck. Unsere Arbeit ist deshalb wichtiger denn je.“ Die ehemaligen Mitarbeiter sehen das ähnlich: Sie betonen unisono, wie sehr man in Genf der europäischen Idee verpflichtet sei. „Die Programme der EBU sind wie ein Leim, der Europa zusammenhält“, sagt eine frühere Managerin.
Zugleich kritisieren die Ex-Mitarbeiter ihren früheren Arbeitgeber. Bemängelt wird eine Bürokratie, die offenbar geradezu spätsowjetische Dimensionen angenommen hat. Ein Beispiel dafür ist die komplizierte Berechnung des Mitgliederbeitrags, dem viele Faktoren zugrunde liegen und der selbst EBU-Kennern Rätsel aufgibt.


JJ (Johannes Pietsch) vertritt Österreich beim diesjährigen ESC.
© Imago / ANPAuch ist die verzweigte Organisationsstruktur der Union kaum zu überblicken. „Es wimmelt von Komitees und Kommissionen, Untergruppen und Spezialeinheiten“, sagt ein früheres Führungsmitglied. Arbeitsprozesse zögen sich endlos hin. Bevor man mit einem Projekt endlich loslegen könne, müsse man bei den Mitgliedsländern viel Überzeugungsarbeit leisten. „Wir brauchen die Mitglieder“ sei das Mantra in den Gängen von Genf. „Die EBU ist eine Organisation von Organisationen. Ihre Abläufe sind unglaublich träge.“ Dass sie dennoch funktioniere, verdanke sie allein dem erstgenannten Merkmal der EBU: dem Idealismus ihrer Mitarbeiter.
Transparenz ist keine Stärke der European Broadcasting Union. Ihr Archiv ist unzugänglich, ein Besuch war erst nach monatelangen Vorgesprächen möglich. Die Zentrale ist eine beliebte Station in den Karrieren öffentlich-rechtlicher Führungskräfte, wobei deren Gehälter – wie erstaunlich vieles bei der weitgehend aus öffentlichen Geldern finanzierten Union – nicht öffentlich sind.
Schweizer Topmanager verpflichtet
Dass es um die Entlohnung nicht schlecht stehen dürfte, legt die Verpflichtung von diversen Schweizer Topmanagern nahe. So saß der frühere SRG-Direktor Gilles Marchand bis letzten Dezember im Vorstand der EBU; die frühere SRF-Chefin Ingrid Deltenre war von 2010 bis 2017 sogar Generaldirektorin. Der derzeit höchste Schweizer ist Bakel Walden, letzten Herbst noch Mitglied in der SRG-Geschäftsleitung. Walden ist Präsident der ESC Reference Group, die während des Wettbewerbs über das Verhalten der Musiker wacht.
Einst war die EBU höchst innovativ. Fussballmatches und Autorennen, die Krönung der Queen und der Ostersegen des Papstes, ja sogar ein Blumenfest in Montreux und das Brandmarken deutscher Wildpferde: Die TV-Funktionäre suchten von Beginn weg nach Live-Shows, die ganz Europa begeisterten – die Gründung der EBU vor 75 Jahren, im Februar 1950, löste einen Kreativschub unter den Fernsehmachern aus. Die Leitfigur dieser experimentellen Frühzeit war Marcel Bezençon. Er erfand als Programmdirektor auch den ESC. 1956 erstmals ausgetragen, sollte er zur größten Kultur-Show auf Erden werden. Diesen Mai findet der Contest zum dritten Mal in der Schweiz statt.
Der Einzugsbereich der European Broadcasting Union reicht heute weit über Europa hinaus, zu ihren Vollmitgliedern zählen etwa auch Ägypten oder Libanon. Dazu kommen assoziierte Sender in Australien, China oder Bangladesh. Ihr Geld verdient die Union mit Mitglieder- und Sponsorenbeiträgen, Rechteverkäufen und Dienstleistungen.
Der Versuch, Programme zu retten
Die EBU ist über die Jahrzehnte zu einer mächtigen, komplexen Riesenmaschine gewachsen – eine Maschine allerdings, deren Stromversorgung gerade akut gefährdet ist. Sobald die nationalen Fernsehsender kein Geld mehr fließen lassen, wird es heikel, und die Lämpchen beginnen zu flackern. Budgetkürzungen und Reformen in den Ländern wirken sich sofort aus.


Cashcow Eurovision Song Contest: Für das EBU-Budget von zuletzt 346 Millionen Euro ist der Song Contest eine wichtige Einnahmequelle. Deutschland zahlt für die Teilnahme dieses Jahr 452.000 Euro.
© Imago / ANPUnd das passierte zuletzt allenthalben: In Polen modellierten die Reaktionären den Staatssender nach ihrem Gusto um, in der Schweiz wie in Frankreich oder Dänemark wurden die Sender zurückgebaut, ja selbst die stolze BBC wurde gestutzt. „Die Öffentlich-Rechtlichen versuchen verzweifelt, ihre Programme zu retten“, sagt ein früherer Mitarbeiter. „Die EBU hat da keine Priorität.“ Umso wichtiger sind solide Zahler wie die Schweiz, deren Mitgliederbeiträge an die EBU in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind. Zuletzt steuerte die SRG 1,33 Millionen Euro pro Jahr bei.
Zusätzlich erhebt die Broadcast Union eine eigene ESC-Gebühr, die bei der Teilnahme am Wettbewerb fällig wird. Die SRG wollte nicht verraten, wie viel ESC-Gebühren sie in den letzten Jahren bezahlt hat. Sie berief sich dabei auf die EBU, laut der die Teilnahmegebühr nicht veröffentlicht werden soll. Dass es sich um eine hübsche Summe handeln dürfte, zeigt der Blick ins Ausland. Um beim Song Contest in Basel dabei sein zu können, blättern die Deutschen dieses Jahr rund 452.000 Euro hin, wie der NDR offenlegte. Spanien bezahlte vor drei Jahren sogar 640.000 Euro. Für Länder wie Rumänien oder Montenegro war die Gebühr offenbar ein Grund, aus dem Wettbewerb auszusteigen.
Die verlorene Olympia-Übertragung
Der Sprecher John O’Callaghan führt in eine Konferenzhalle. Hier versammeln sich europäische TV-Techniker, die sich über die neueste Soft- und Hardware unterhalten. Früher ging es um die Feinheiten einer gelungenen Live-Übertragung, heute geht es um die Trends der künstlichen Intelligenz. Die Stimmung in der Halle ist dabei merkwürdig gedämpft. Die Mittel der öffentlich-rechtlichen Sender seien beschränkt, erklärt ein Konferenzteilnehmer. Mit den Megaprojekten in China oder den USA könne man unmöglich mithalten. Neue Technologien seien vor allem dann interessant, wenn mit ihnen Ausgaben reduziert werden könnten. Die Utopie der Eurovision verkümmert zur Sparübung. Der Einkauf von Sportrechten für ihre Mitglieder gehört auch zu den Aufgaben der EBU.
Dieses Geschäft ist zuletzt schwieriger geworden, weil die Sportverbände öfter direkt mit den nationalen Sendern verhandeln. So entglitten der EBU in den 2010er-Jahren vorübergehend die Rechte für die Olympia-Übertragung. Eine stabile Position hat die Union nach wie vor im Nachrichtengeschäft, wo sich ihr Newsroom als eine Plattform bewährt hat, auf der Mitgliedstaaten ihre TV-Beiträge austauschen können. Dazu kommen kleinere Erfolgsgeschichten wie das gemeinsame, frei zugängliche Musikarchiv, das vor allem für Radiostationen ärmerer EBU-Länder hilfreich, wenn nicht überlebensnotwendig ist.
Song Contest als Einnahmequelle
Das Prunkstück der EBU bleibt der Eurovision Song Contest, der zuletzt weltweit von 180 Millionen Menschen verfolgt wurde. Die Union widmet der größten Musik-Show des Planeten entsprechend viel Aufmerksamkeit und optimiert sie, Jahr für Jahr: dramaturgisch – etwa mit der ausgetüftelten Balance zwischen Jury und Publikum – aber auch finanziell. „Der Contest ist eine wichtige Einnahmequelle für die EBU“, erklärt Bakel Walden, der höchstrangige Schweizer der Union. Die Organisation versucht, den Wettbewerb über Halbfinale und Finale hinaus im Gespräch zu halten und in neue Märkte wie den USA oder Südamerika vorzustoßen.
Bereits perfektioniert hat die EBU die ESC-Woche. Wie resolut sie dabei die Bedingungen diktiert, zeigen Dokumente. Im Vertrag mit der Stadt Basel wird festgehalten: „Der Host-City ist es untersagt, eigene Sponsoren zu verpflichten“.
Bei der Bewerbung hat die Stadt in detaillierte Vorschriften eingewilligt, bis hin zum Einsatz von Spürhunden oder der Anzahl der Zimmer, die der EBU für „Teams“, „Partner“ und „VIP“ zur Verfügung gestellt werden müssen („ca. 150 Zimmer“). Bei den Aufwendungen hält sich die EBU schadlos: „Die Kosten für die Austragung des ESC werden von der Host-City, der SRG, den teilnehmenden Ländern, den Ticketeinnahmen sowie von den Sponsoren und Sponsorinnen getragen“. Die Stadt Basel rechnet mit Extraausgaben von 37 Millionen Euro, die SRG mit bis zu 21 Millionen. Letztere kann sich mit maximal sechs nationalen Sponsoren etwas dazuverdienen. Die Zuwendungen internationaler Sponsoren wie Moroccanoil oder Easy Jet behält die EBU hingegen unter ihrer Kontrolle, ebenso die Fernsehrechte.
Was passiert mit den Überschüssen, die die EBU am ESC einfährt? Diese würden dem weiteren Wachstum des Contests dienen, erklärt der Sprecher John O’Callaghan. Oder – so ergänzt O’Callaghan ein wenig vage – den EBU-Mitgliedern als Unterstützung anderweitiger öffentlich-rechtlicher Aktivitäten zugutekommen.


Mit „Rise Like A Phoenix“ gewann Conchita den Song Contest 2014 in Kopenhagen. Die ORF-Leute sahen nicht glücklich aus.
© Keld Navntoft / EPA / picturedesk.comOft wird der Contest als Segen für die lokale Wirtschaft angepriesen. Tatsächlich sind die Hotels der Veranstalter-Stadt jeweils für ein paar Tage bestens belegt. Ob die Show sich aber auch längerfristig auszahlt und die hohen Kosten sich gesamtwirtschaftlich amortisieren lassen, bleibt zweifelhaft. Besonders ungelegen kommt die Gastgeberrolle für die SRG, naht doch die Halbierungsinitiative in der Schweiz, und jeder neu ausgegebene Gebührenfranken wird noch kritischer beargwöhnt als ohnehin.
Ein früherer EBU-Mitarbeiter erinnert sich an Kopenhagen 2014, als Conchita Wurst triumphierte. „Die ORF-Leute sahen danach überhaupt nicht glücklich aus. Das war kein Wunder: Sie wussten nur zu gut, dass sie nun binnen weniger Wochen Millionen auftreiben mussten.“ Der ESC sei der einzige Wettbewerb auf der Welt, bei dem man sich über Silber mehr freuen könne als über Gold, sagt eine frühere EBU-Managerin.
„Fickt die EBU!“, flucht der Funktionär
Auch das Eskalationspotenzial ist beträchtlich. Der letztjährige Wettbewerb in Malmö wurde vom Nahostkonflikt geprägt, eine Gruppe von propalästinensischen ESC-Teilnehmerinnen hatte agitiert. Israel wiederum wird mit Yuval Raphael eine Sängerin nach Basel schicken, deren Schicksal aufs Engste mit dem Konflikt verknüpft ist: Raphael überlebte den Hamas-Überfall auf das Nova-Festival, musste dabei Stunden unter Leichen ausharren.
Der letztjährige ESC machte zudem Negativschlagzeilen, weil es hinter der Bühne zu Auseinandersetzungen kam. Der Niederländer Joost Klein – vermutlich der größte Konkurrent des Schweizers Nemo – wurde nach einem Disput mit einer Kamerafrau vom Wettbewerb ausgeschlossen. Dies ausgerechnet auf Betreiben jener Kommission, die von Bakel Walden, dem höchsten Schweizer der EBU, geleitet wurde.
„Fickt die EBU!“, fluchte ein niederländischer TV-Funktionär danach vor versammelter Presse. Die Niederländer waren außer sich, weil ihrem Sänger strafrechtlich nichts nachgewiesen werden konnte. Bis Dezember 2024 blieb offen, ob sie den Contest in der Schweiz boykottieren würden. Nachdem die EBU zugesichert hatte, einen Rückzugsort für Künstler einzurichten, lenkten die Niederländer ein.
Ein ähnlich kontroverser Contest sei für die EBU nicht mehr drin, sagt ein Insider: „Sender könnten neue Skandale in Basel als Vorwand dazu nutzen, um ohne Gesichtsverlust aus dem ESC aussteigen zu können.“ Sie könnten den ESC verlassen, ohne zugeben zu müssen, dass ihnen das Geld dafür zu schade ist. Stattdessen könnten sie ethische oder politische Gründe vorschützen. Die EBU hat für Basel die Regeln für den Backstage-Bereich verschärft und ihr Team vor Ort verstärkt. An dessen Spitze steht der eigens verpflichtete Brite Martin Green, der bereits die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012 überwacht hat.
Unter Druck
Politische Polarisierung, gefährdete Finanzierung, das Backstage-Areal als skandalöse Problemzone: Das Jubiläumsjahr 2025 wird kritisch für die European Broadcasting Union. „Vorsicht, sie ist schwer, aber auch ziemlich zerbrechlich“, sagt der Pressechef John O’Callaghan, als er mit der ESC-Trophäe zurückkommt. Es ist jene Skulptur, die vor zwei Jahren in Liverpool überreicht worden ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die optimistische Fanfare von „Te deum“ und der Sternenkranz die European Broadcasting Union ideal symbolisiert. Sie hatten perfekt gepasst zum Elan der EBU und zu ihrer Mission, Europa näher zusammenbringen zu wollen. 75 Jahre später gleicht die Union weit stärker dem Glaspokal: schwer, aber zerbrechlich.