Die iranische Führung steht unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Noch ist unklar, ob es zu einem Umsturz und Regimewechsel kommt. Doch wie stürzen Diktatoren eigentlich – und warum fürchten sie oft ihre eigenen Generäle mehr als die Opposition? Der Politologe Marcel Dirsus erklärt, wie Macht in Diktaturen funktioniert
Herr Dirsus, für wen haben Sie Ihr Buch geschrieben?
Nach der Uni war ich im Kongo, habe dort für eine Brauerei gearbeitet – ganz bewusst weg von der Politik. Doch dann erlebte ich die Auswirkungen von einem Putschversuch. Schüsse, eine Explosion, Chaos. Das hat mich nie wieder losgelassen. Seitdem beschäftige ich mich mit der Frage, wie politische Instabilität entsteht, wie Diktaturen funktionieren, wie sich diese Leute an der Macht halten und wie man sie wieder los wird. Die Zeit, in der wir Diktatoren ignorieren konnten, ist vorbei.
Sie schreiben, dass Diktaturen am Ende oft von inneren Kreisen – Militär oder Eliten – gestürzt werden. Warum?
Jeder politische Anführer ist von anderen abhängig. Die Frage ist nur, von wem? In funktionierenden Demokratien braucht man viele Stimmen, um an die Macht zu kommen und um zu bleiben. Je zentralisierter die Macht ist und je weniger demokratisch die Regime sind, desto kleiner wird der Kreis jener, die man braucht. Jemand wie Kim Jong-Un braucht vielleicht 200 oder 300 Familien. Das sind führende Generäle, Geheimdienstler, seine Berater, seine Familie. Die Bevölkerung ist größtenteils egal für den Machterhalt. Das hört sich erst mal komfortabel an, kann aber auch schnell eine Falle werden. Wenn Putin die 30 falschen Generäle verliert, verliert er womöglich die Macht. Und wenn Putin seine Macht verliert, verliert er vielleicht noch viel mehr: Mehr als zwei Drittel der personalistischen Diktatoren werden nach dem Machtverlust entweder ins Exil gezwungen, kommen ins Gefängnis oder werden getötet. Das macht viel mit den Anreizen dieser Machthaber.
Wie kommt es zu dieser Abhängigkeit von doch wenigen?
In diesem politischen System gibt es keine wirkliche Loyalität. Diese Regime basieren auf einem Eindruck der Unausweichlichkeit. Wenn aber das Umfeld den Eindruck hat, dass es eine realistische Alternative geben könnte, dann können diese Diktatoren extrem schnell ihre Macht verlieren. Diktatoren leben in konstanter Gefahr.
Das heißt, auch Putin könnte fallen, obwohl wir eher das Gefühl haben, er ist auf Lebenszeit einzementiert?
Putin versteht sehr gut, wie er seine Macht erhält. Unter anderem sieht man das an der gezielten Strukturierung seines Sicherheitsapparats.. Diktatoren haben oft Angst vor den eigenen Soldaten, meist sogar mehr als vor ausländischen Kräften. Putin ist keine Ausnahme, und daher hat er seine Sicherheitskräfte mit dem Ziel aufgebaut, ihn nicht abzusetzen. Aber das führt zu einem Zielkonflikt: Wenn man sein Militär so strukturiert, dass es einen nicht wegputscht, ist es weniger effektiv darin, tatsächlich Krieg zu führen.
Die mächtigsten Diktatoren der Welt sind dazu verdammt, ein Leben in Angst zu führen

Die Wagner-Truppen unter Jewgeni Prigoschin waren so ein Zielkonflikt?
Putin hat sich in dem Fall ein Monster geschaffen, was in die falsche Richtung marschiert ist. Im Nachhinein mag man sagen, das hätte auf keinen Fall funktionieren können. Aber so ist es nicht. Hätten einige wenige Generäle den Eindruck gehabt, die Wagner-Truppen sind vielleicht in der stärkeren Position, dann wäre Putin gefallen. Wenn man die entscheidenden Leute verliert, kann es schnell gehen.
Wie lange wird Putin noch der Weltpolitik erhalten bleiben?
Die Glaskugel habe ich nicht. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass er stirbt oder eine ernsthafte Krankheit bekommt. Diktatoren versuchen, etwaige Krankheiten, solange es geht, irgendwie geheim zu halten. Weil sie Angst haben, dass die Eliten um sie herum ihre Loyalität umdenken. Wir wissen aber auch, dass Diktatoren oft ihre Macht verlieren, wenn sie Kriege verlieren. Das wäre ein mögliches Szenario gewesen. Der kollektive Westen hätten das beeinflussen können. Das führt aber auch in vielen westlichen Hauptstädten zu der Sorge, was passieren könnte, wenn man Putin zu stark unter Druck setzt. Wäre er bereit, ein höheres Risiko einzugehen, wenn er denkt, er steht mit dem Rücken zur Wand?
Was hat es mit der 3,5-Prozent-Regel auf sich?
Diktatoren geraten ins Wanken, wenn etwa 3,5 Prozent der Bevölkerung gegen sie mobilisiert werden. Falls diese Mobilisierung möglich ist, kann friedlicher Widerstand extrem effektiv sein.
Warum?
Wenn die Leute auf der Straße sind, muss der Diktator reagieren. Das heißt, er benutzt Gewalt. Sind am nächsten Tag noch mehr Leute auf der Straße, sind vielleicht Knüppel nicht mehr genug. Wenn man aber den Schießbefehl gibt, heißt es nicht automatisch, dass auch geschossen wird. Zum Beispiel weil die sogenannten Palasteliten sich weigern, die nächsten Schritte zu gehen – wie 1989 in Leipzig. In Leipzig wussten die lokalen Offiziellen, dass zu viele Leute auf der Straße sind. Sie standen vor der Wahl, die Leute ziehen zu lassen oder einen Schießbefehl zu geben. Niemand wollte für diesen Massenmord verantwortlich sein und deshalb hat man die Leute ziehen lassen.
Am Platz des himmlischen Friedens hat man reingehalten …
Ja, aber auch da hatte das chinesische Militär Probleme damit, dass sich Soldaten geweigert haben, diese Befehle auszuführen. Aber es waren nicht genug. Das Regime in der DDR hat ja mit einer chinesischen Lösung gedroht, in der Hoffnung, dass die Leute dann nicht auf die Straße gehen. Wenn man – und ich will jetzt nicht zu viele Ideen geben – als Diktator die Wahrscheinlichkeit erhöhen möchte, dass die Sicherheitskräfte schießen, müssen Milizen, die aus dem Umfeld der Menschen kommen, ganz nach hinten gestellt werden. Die Truppen, die diese Niederschlagung in Peking gemacht haben, kamen größtenteils nicht aus Peking.
Ich bin Leipzigerin, ich bin auf der Straße gestanden. War ich bei einem Glücksfall der Geschichte dabei?
Das Regime wäre wahrscheinlich so oder so gestorben, aber mit weitaus höherer Opferzahl. Der große Glücksfall ist, wie die Revolution vonstattengegangen ist. Es war extrem knapp. Respekt für diesen Mut.
Diktatoren haben oft Angst vor den eigenen Soldaten, meist sogar mehr als vor ausländischen Kräften

Es ist viel Psychologie dabei, oder?
Extrem viel. Ein Saddam Hussein im Büro wäre kein guter Kollege. Aber, und das ist auch wichtig: Es ist eine Lüge, wenn wir uns erzählen, dass diese Leute völlig den Verstand verloren haben. Die allermeisten Diktatoren sind rational. Auch ihr Morden und Foltern. In dem System in dem sie leben, ist es ein Weg, um an der Macht zu bleiben.
Aus Sicht von Diktatoren ist das ein wahnsinnig anstrengendes Leben …
Der erste Satz im Buch lautet: Die mächtigsten Diktatoren der Welt sind dazu verdammt, ein Leben in Angst zu führen. Ein Großteil des Tages besteht daraus, einfach am Leben zu bleiben.
Ihr Buch wird auch als Handbuch für Tyrannen bezeichnet. Stört Sie das?
Das ist keine unfaire Kritik. Es ist schwer, ein Handbuch darüber zu schreiben, wie man Tyrannen stürzt, ohne dass man sich damit befasst, wie sie sich an der Macht halten. Aber natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob vielleicht das Risiko besteht, dass man den falschen Leuten Ideen gibt.
Gibt es ein Muster, wie Diktatoren stürzen?
Fast alle dieser Stürze haben gemeinsam, dass es diesen Punkt gibt, wo die Leute glauben, es könnte eine Alternative geben. Es könnte anders, vielleicht sogar besser sein. Wenn das bei den richtigen Leuten ankommt, kann es dazu führen, dass Diktatoren fallen. Manchmal hat man aber auch Glück oder Diktatoren treffen dumme Entscheidungen. Manche von diesen Leuten sind einfach nicht besonders klug oder gut in dem, was sie tun. Viele entfernen sich immer mehr von der Realität und machen dann katastrophale Fehler. Und es gibt Dinge, auf die man sich schlecht vorbereiten kann. Ein Putschrisiko kann man reduzieren. Aber wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann man erschossen werden.
Apropos Alternative. Nawalny war keine Alternative?
Nawalny war für Putin eine Bedrohung, weil er eine sichtbare Alternative war. Aber augenscheinlich hat er es nicht geschafft, genug Leute von sich zu überzeugen und Putin saß am längeren Hebel. Das ist tragisch. Man wollte mit Nawalny ein Exempel statuieren. Die Kosten für die Diktatur sind bei Repressionen gegen eine einzelne Person oft niedriger als bei Repressionen gegen die Masse. Deshalb ist zum Beispiel Überwachung sehr wichtig. Sie reduziert die Kosten für Repressionen, weil man differenzieren kann zwischen Leuten, die tatsächlich eine Bedrohung sind und Leuten, die keine Bedrohung sind – und gezielt gegen die vorgehen, die eine Bedrohung für das Regime sind.


Russland. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wagte im Juni 2023 den Aufstand gegen Moskaus Militärführung. Wenige Wochen später kam Prigoschin ums Leben
© HANDOUT / AFP / picturedesk.comWelche Rolle spielen westliche Demokratien bei dem Ganzen?
Auch Demokratien haben im Umgang mit Diktaturen Zielkonflikte. Es gibt wirtschaftliche Interessen, Sicherheitsinteressen und andere politische Interessen. Das muss alles abgewogen werden. Es geht nicht nur darum, was Demokratien wollen, sondern auch, was sie tatsächlich können. Da über- und unterschätzen wir uns gleichzeitig. Je nach Land. Und je nach Diktator.
Sie haben sich auch viel mit dem Thema Exil beschäftigt. Warum?
Diktator sein, ist nicht so komfortabel, wie viele sich das vorstellen. Aber Exil ist es auch nicht. Früher fanden gestürzte Diktatoren leichter Exil. Heute ist das schwieriger – was den Anreiz erhöht, mit aller Gewalt an der Macht zu bleiben. Assad hat das auf grausame Weise vorgemacht und Fassbomben und Chemiewaffen gegen die eigenen Leute eingesetzt.
Also besser kein Modell à la sichere Drittstaaten für Diktatoren?
Es ist eine Einzelfallentscheidung. Aber wir sollten das zumindest mal im Kopf behalten. Ich plädiere nicht dafür, dass wir einen Putin oder einen Xi Jinping aufnehmen, nachdem Letzterer womöglich Taiwan angegriffen hat. Aber wir müssen uns überlegen, was es für die Menschen vor Ort bedeutet, wenn Diktatoren nicht flüchten können.
Wirken Diktaturen heute nur stabiler, als sie sind?
Nur weil sie heute stabil scheinen, heißt das nicht, dass sie auch tatsächlich stabil sind. Wir wissen nicht, wie es im Inneren aussieht oder wie knapp Putschversuche waren. Ich habe mich jetzt so lange mit den Schwächen von diesen Systemen befasst, dass ich tatsächlich noch nie so optimistisch war, was die Zukunft der Demokratie angeht.


Syrien. Exil ist heute schwerer zu finden. Das erhöht den Druck, an der Macht zu bleiben. Assad zeigte das brutal: Er setzte Giftgas gegen sein Volk ein – und lebt jetzt in Moskau
© Alexei Nikolsky / Tass / picturedesk.comWarum enden viele Umstürze so selten in lebendigen Demokratien?
Weil die Eliten an der Diktatur verdienen und sie erhalten wollen. Man hat sich seinerzeit nicht auf Assad den Jüngeren als Nachfolger geeinigt weil man dachte, dass der ein visionärer Anführer ist, sondern weil man kalkuliert hat, dass damit das Risiko sinkt, dass das Regime als Ganzes kollabiert. Das heißt, diese Eliten haben überhaupt kein Interesse an einer Demokratisierung. Das würde sie ärmer und weniger mächtig machen. Also folgt auf den einen Diktator der Nächste. Wenn die Eliten sich nicht einigen können, folgt oft Chaos.
Welche Rolle spielen Rohstoffe, um Diktaturen abzusichern?
Öl und Tyrannei gehen Hand in Hand. Um dieses System am Laufen zu halten, kann man nicht nur Repressionen nutzen. Damit sich Eliten nicht irgendwann gegen einen stellen, gibt man ihnen Geld oder Macht. Wenn man Öl hat, hat man viel Geld zu verteilen. Man braucht auch keine gebildete Bevölkerung, um dieses Öl in Geld zu verwandeln. Man muss nicht Universitäten vorhalten, die vielleicht ein Hort des Widerstands sind. Sanktionen gegen Länder, die große Rohstoffvorkommen haben, sind daher auch weniger effektiv. Das sieht man in Russland.
Was sind Anzeichen, dass eine Demokratie ins Rutschen gerät? Beispiel Trump.
Es ist wichtig zu differenzieren zwischen Dingen, die schrecklich oder unmoralisch sind und Dingen, die dabei helfen können, die Demokratie zu überwinden. Trump ist kein Diktator, aber offensichtlich wäre er gern einer. Die Frage ist, was steht zwischen Trump jetzt und Trump dem Diktator? Das gruseligste Szenario wäre, dass man die Leute um ihn herum durch Loyalisten, die auch kompetent sind, ersetzt. Also einer, der genau weiß, was er tut, um das Pentagon umzubauen, ist der Worst Case. Die Leute, die Trump sich selbst ausgesucht hat, sind größtenteils nicht besonders kompetent. Es gibt eine gute Chance, dass Trump sich durch seine unlimitierte Inkompetenz selber absägt.
Sie geben auch Empfehlungen für den Sturz von Diktatoren. Welche Strategie ist besonders vielversprechend?
Falls möglich ist die beste Strategie nicht gewaltsamer Protest. Was militärische Interventionen von außen betrifft, bin ich extrem skeptisch, weil sie in der Vergangenheit selten zu einer Demokratisierung geführt haben. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Irgendwann werden die Kosten so hoch, dass man sich überlegen muss, ob man es macht.
Gibt es ein autoritäres Regime, das stabiler ist, als wir vielleicht glauben oder gerne hätten?
Einparteiendiktaturen sind oft stabiler als personalistische Diktaturen. Weil Entscheidungen nicht von einer Person, sondern von einigen wenigen ganz oben getroffen werden. Das ist in der Regel effektiver in Sachen Machterhalt. Je weiter man personalisiert, desto wahrscheinlicher werden katastrophale Fehler.
BUCHTIPP
Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen können (2025) ist eine kluge Analyse autoritärer Regime – und ihrer Schwächen. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Marcel Dirsus, warum Diktatoren scheitern und was Demokratien daraus lernen können. Von The Economist und The Independent als eines der besten Bücher des Jahres 2024 ausgezeichnet.
29,50 Euro
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 26/25 erschienen.