Vierzig Jahre nach Live Aid muss sich Initiator Bob Geldof Kritikern stellen. Am 13. Juli 1985 sahen zwei Milliarden Menschen – rund 40 Prozent der Weltbevölkerung – , das größte Musikspektakel aller Zeiten für die Hungerhilfe in Äthiopien. Zum Jubiläum des historischen Events wird Geldof White Saviourism vorgeworfen
Als Bob Geldof im Oktober 1984 die BBC-Nachrichten sieht, ahnt er nicht, dass er wenige Monate später das größte Benefizkonzert der Pop-Geschichte organisieren wird. Die BBC-Nachrichtencrew um Michael Buerk berichtet als Erste ausführlich über das katastrophale Leid in Äthiopien verursacht durch Dürre und Bürgerkrieg. „Eine biblische Hungersnot im 20. Jahrhundert“, sind Buerks Worte, „das, was der Hölle auf Erden am nächsten kommt“.
Die Bilder der sterbenden Kinder lassen Geldof nicht los. Die verzweifelte Krankenschwester vor Ort, Claire Bertschinger, schildert, wie sie auswählen muss, wer Nahrung bekommt – und wer nicht. Acht Millionen Menschen sind betroffen, rund eine Million Menschen sterben. Der 33-jährige Ire zählt damals mit seiner New Wave-Band Boomtown Rats und deren Welthit „I Don’t Like Mondays“, sowie zwei Alben im Goldstatus zur Elite der progressiven britischen Musikszene. Er ist mit der Präsentatorin der wichtigsten britischen Musiksendung, Paula Yates, liiert. Superstars gehen beim Nummer-Eins-Paar der UK-Musikszene ein und aus. In seiner Biografie erinnert sich Geldof: „In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Bilder spielten sich wieder und wieder in meinem Kopf ab. Was konnte ich tun?“
Er tut, was er am besten kann und schreibt mit Midge Ure den Song „Do They Know It’s Christmas?“. Binnen drei Wochen bringt er das Who’s who der Popmusik dazu, das Lied unter dem Namen Band Aid einzusingen. Es wird ein Welthit und verdient im ersten Jahr acht Millionen Pfund für die Hungerleidenden in Äthiopien. Der Erfolg wird für Geldof zum Auftrag mehr zu tun.
Bob Geldofs grantiger Appell an die Zuseher während Live Aid
Geht heute nicht ins Pub. Bitte. Bleibt zuhause, gebt uns Geld. Es sterben Menschen. Jetzt. Gebt mir Geld!
2 Milliarden Zuseher in 110 Ländern
„Es ist zwölf Uhr Mittag in London, sieben Uhr früh in Philadelphia und auf der ganzen Welt Zeit für Live Aid“, eröffnet BBC-Moderator Richard Skinner am 13. Juli 1985, nur acht Monate später, das historische Benefizkonzert Live Aid. Bob Geldof hat zusammen mit Midge Ure über 60 der damals größten Stars für zwei Konzerte auf zwei Kontinenten zusammengetrommelt. Im Londoner Wembley-Stadion und im John F. Kennedy Stadium in Philadelphia geben sich 16 Stunden lang die Größten der Branche das Mikrofon in die Hand. Die Organisation ist eine logistische Meisterleistung ihrer Zeit: 13 Satelliten übertragen die Auftritte von U2, Bob Dylan, Madonna, Mick Jagger im Duett mit Tina Turner, Paul McCartney, David Bowie, Sting, The Who, Led Zeppelin, George Michael, Paul Weller, Elvis Costello und vielen mehr in über 110 Länder.
Rund zwei Milliarden Menschen sehen zu, rund 40 Prozent der Weltbevölkerung. Vor Ort in den Stadien feiern 162.000 Fans. Sie erleben Konzertgeschichte wie jenen Auftritt von Queen, der Jahre später zum besten der Rockgeschichte gewählt werden wird, Reunions von Crosby, Stills, Nash & Young, Black Sabbath mit Ozzy Osbourne oder den Beach Boys mit Brian Wilson. Phil Collins tritt rekordwürdig am selben Tag auf zwei Kontinenten auf – ein Concorde-Flug macht es möglich.
Nichts weniger als „das Pop-Pendant zur weltweiten Fernsehübertragung der Mondlandung 1969“ nennt Musikexperte Michael Behrendt, der gerade sein viertes Buch „Playlist zum Glück– 99 1/2 Songs für ein erfülltes Leben“ veröffentlicht hat, das Ereignis. „Es hatte etwas universal Verbindendes, ich fühlte mich damals tatsächlich als Teil einer globalen Gemeinschaft“, erinnert sich der heute 65-Jährige. Unvergessen bleibt der Moment, in dem Bob Geldof vehement ins Mikrofon grantelt: „Greift zum Telefon und gebt uns Geld! Geht heute nicht ins Pub. Bitte. Bleibt zu Hause und gebt uns Geld – es sterben Menschen. Jetzt. Gebt. Mir. Geld!“
Am Höhepunkt der Übertragung werden 20.000 Pfund pro Minute gespendet, am Ende des Konzerts sind es 40 Millionen Pfund. Bis heute hat der Band Aid Charitable Trust rund 150 Millionen Pfund Spenden, umgerechnet 175 Millionen Euro gesammelt.
Live Aid Finale in London
1985 alle Live Aid Stars in London zusammen auf der Bühne für "Do They Know It's Christmas"
Historischer Best-Of-Set von Queen
Freddie Mercurys Kurz-Konzert mit Queen wurde Jahre später zum besten Auftritt der Rockgeschichte gewählt
Kritik an Geldofs Engagement
Live Aid, sagt Behrendt, sei auch „die immer wieder gern gehörte Geschichte von einem Menschen, der eine wahnwitzige Idee hat und so lange dranbleibt, bis er das Unmögliche möglich gemacht hat.“ Genau das tat Bob Geldof nach dem Konzertspektakel weiterhin. In den Jahren nach Live Aid mobilisierte er mit Neuauflagen des Weihnachtshits, dem Konzert Live 8 im Jahr 2005, und persönlichem humanitärem Engagement rund 42 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern und Schuldenerlassen. Im Jahr 2008 gründete er die Private-Equity-Gesellschaft 8 Miles, die sich auf Investitionen in afrikanische Unternehmen konzentriert und mit einem verwalteten Vermögen von über 200 Millionen US-Dollar Arbeitsplätze für über 100.000 Menschen in Afrika schuf.
Doch Kritik an Bob Geldofs Engagement wurde mit jedem Jubiläum lauter. So meldete sich Ed Sheeran, der 2014 an einer Neuauflage von „Do They Know It’s Christmas?“ mitgewirkt hatte, anlässlich einer Neuvertonung zum 40-Jahr-Jubiläum vergangene Weihnachten zu Wort. Im Schulterschluss mit dem britisch-ghanaischen Rapper Fuse ODG verwies er darauf, wie das Lied den Stolz Afrikas verletzen und schädliche Stereotype verstärke. Der Song zeige Afrika als hilfsbedürftigen, von Katastrophen gezeichneten Kontinent, während die vielfältige Realität Afrikas und die Fortschritte ignoriert würden, so die Kritik.
„Guardian“-Autorin Arifa Akbar argumentierte, dadurch entstehe ein herablassendes, falsches Bild von Afrika. „Wir müssen nicht alle zehn Jahre an eine Hungerkatastrophe erinnern“, sagte der äthiopische Musikproduzent Isaac Abadir. „Wenn man es so darstellt, als wären die Menschen in Äthiopien immer noch auf dem gleichen Stand wie damals, ist das nicht okay.“
Bob Geldof in „Times Radio“ zum Vorwurf des White Saviourism
Sind die einzigen Menschen, die auf eine afrikanische Hungersnot reagieren dürfen schwarz? Das ist Blödsinn!
Vorwurf des White Saviourism
Es ist White Saviourism, der Bob Geldof immer lauter vorgeworfen wird. Er umschreibt das Phänomen, bei dem weiße Menschen aus dem globalen Norden das Gefühl haben, Menschen aus dem globalen Süden „retten“ zu müssen, oft mit dem Ziel, sich selbst aufzuwerten. Diese Form von strukturellem Rassismus richte hochgradigen Schaden an, so die Vorwürfe.
Geldof sieht in der Kritik im Gespräch mit „Times Radio“ im Februar eine „große Ladung Schwachsinn“. „Wenn es in Italien eine Hungersnot gibt und jemand reagiert und ist weiß, ist es dann White Saviourism? Sind die einzigen Menschen, die auf eine afrikanische Hungersnot reagieren dürfen, schwarz? Wenn es eine Hungersnot gibt, wo die Menschen grün sind, muss man dann grün sein, um das zu tun?“, so Geldof. Und weiter: „Das ist ein unsinniges, absolut abwertendes Argument. Ich halte es für Blödsinn.“
Musikautor Behrendt macht den Blick auf für die Zeiten, die sich geändert haben: „Ich halte es für falsch, Geldof für sein damaliges Handeln mit den Argumenten von heute zu kritisieren. Er war wie alle Beteiligten ein Kind seiner Zeit und hat damals etwas Einmaliges, auf die Beine gestellt. Er half Menschen, so wie man einem Verletzten am Straßenrand hilft. – Statt erst ausführlich über Sicherheitskonzepte zu sinnieren. Ganz sicher hat er damals Menschenleben gerettet, die ansonsten nicht zu retten gewesen wären.“ Dies schließe nicht aus, meint er weiter, Charity-Initiativen heute anders anzugehen, „mit Kultur- und Infrastrukturprojekten, die gefördert werden, um das heutige selbstbewusste Afrika ins rechte Licht zu rücken.“ Geldof könne man dennoch seine Lebensleistung lassen.
Geldof kritisiert Trump und Musk
Der heute 73-jährige Bob Geldof geht unbeeindruckt von der Diskussion seinen Weg. Unter seiner Mitwirkung entstand im Vorjahr eine zeitgemäße Erzählung über Live Aid als Musical „Just For One Day“, das am Londoner West End zu sehen ist. Zehn Prozent der Ticketeinnahmen gehen an den Band Aid Charitable Trust, bis dato rund 850.000 Pfund.
Seine Meinung teilt Geldof wortgewaltig, wie eh und je. Es sei eine „Zeit großer Angst und Schrecken“, sagte er im Interview mit dem „The Telegraph“ im Mai. Uns fehle die emotionale Bandbreite, „um mit dem Terror Russlands in der Ukraine und dem Schrecken in Gaza fertig zu werden und gleichzeitig auf den extremen Schrecken im Sudan zu achten“, gibt er zu bedenken. Mindestens zehn E-Mails erhalte er täglich über die schreckliche Realität vor Ort, während Amerika über Nacht seine internationale Entwicklungs-Hilfsorganisation, die größte der Welt, auflöse. „Die Website der USAID wird geschlossen, weil ein soziopathischer Narr wie Elon Musk behauptet, die große Schwäche der westlichen Zivilisation sei Empathie... Nein, Elon, du liegst völlig falsch.“
Fünf Millionen Menschen sind laut Bob Geldof von der Schließung betroffen, darunter „2,5 Millionen Kinder im Westen des Sudan, die als Kriegsinstrument ausgehungert werden“. Der reichste und der mächtigste Mann der Erde würden den Ärmsten und Schwächsten den Krieg erklären, konstatiert er in Richtung Elon Musk und Donald Trump. Nachsatz: „Verpisst euch einfach!“
Vierzig Jahre nachdem er versprochen habe, dass jeder Spenden-Groschen, an diejenigen geht, die ihn am dringendsten brauchen, sei dies genauso geschehen, sagt Geldof dem „Telegraph“. Und weiter: „Das ist alles, was zählt. Wenn wir damit den hungernden Kindern helfen können, wenn wir die Schule, das Krankenhaus, den Damm und die Brunnen bauen können, dann ist all das die Mühe wert.“
Das Musical
"Just for one Day"
Das Jukebox-Musical erzählt die Entstehungsgeschichte von Live Aid, dem legendären Benefizkonzert von 1985. Das Musical wurde von John O’Farrell geschrieben und von Luke Sheppard inszeniert. Es feierte im Januar 2024 am Old Vic Theatre in London Premiere und wird aktuell im Shaftesbury Theatre aufgeführt. Zu hören sind zahlreiche Songs von Künstlern, die bei Live Aid auftraten, darunter Queen, David Bowie, Madonna, Elton John, Bob Dylan, The Who, U2, The Police, Paul McCartney. Thematisiert werden die Herausforderungen, Zweifel, Rückschläge und die Kraft der Musik, Menschen weltweit zu vereinen. Die Show betont, dass es um das gemeinsame Ziel, etwas zu bewegen, ging. Zehn Prozent der Ticketeinnahmen gehen an den Band Aid Charitable Trust. Bis Ende 2025 sollen es zwei Millionen Pfund sein.
Buchtipp
Playlist zum Glück – 99 1/2 Songs für ein erfülltes Leben
Musikexperte Michael Behrendt veröffentlichte u.a. 2017 „I Don’t Like Mondays. Die 66 größten Songmissverständnisse“. Nun hinterfragt er in "Playlist zum Glück" welchen Rat zur Lebensführung Pop-, Rock-, Rap- oder Soulsongs vermitteln. Musik kann trösten, inspirieren, motivieren und therapeutisch wirken, was Wissenschaft wie Musikfans bestätigen. Behrendts musikalische Lebensratgeber für ein harmonisches Miteinander, gelingende Beziehungen, beruflichen Erfolg, den Umgang mit Krisen und Trauer sowie das Managen von Veränderungen umfasst Songs von Kansas, Bob Dylan, Marvin Gaye, David Bowie, Peter Gabriel, Tears for Fears, The Fixx, Reinhard Mey, Christina Stürmer, Dota Kehr, Oehl, Großstadtgeflüster, Kontra K, Paramore, Dua Lipa, Ariana Grande, Taylor Swift u. v. m.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 27/25 erschienen.