Junge Menschen sind psychisch viel stärker belastet als frühere Generationen. Kriege und Krisen spielen sich in Echtzeit in den Kinder- und Jugendzimmern ab. Die Jungen sind aber auch besser darin, auf sich selbst achtzugeben. Neue Forschung zeigt: Stress-Situationen – etwa in der Schule – kann durch bewusste Umbewertung der Situation aktiv und effektiv begegnet werden
Schulstress. Notendruck. Prüfungsangst. Mit dem Ende des Schuljahres gerät auch die psychische Gesundheit junger Menschen wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und viele Studien und Umfragen, die in den letzten Monaten durchgeführt wurden, zeigen: Österreichs Jugendlichen geht es nicht so gut, wie es wünschenswert wäre.
Eine Umfrage des Vereins YEP hat zum Beispiel ergeben, dass nur sieben Prozent der jungen Menschen in Österreich und Deutschland glücklich und zufrieden sind – 20 Prozent der Jugendlichen gaben sogar an, dass es ihnen richtig schlecht geht.
Ähnlich die Ergebnisse einer Umfrage des Nachhilfeinstituts Lernquadrat: Demnach steht es um die „Learn-Life-Balance“ von Oberstufenschülerinnen und -schülern schlecht; die Hälfte der befragten Jugendlichen nannte in der Umfrage zu wenig Freizeit als Problem und vier von zehn klagten über unsinnige Arbeitsaufträge von der Schule.
Multiple Krisen
Dass junge Menschen heute stärker belastet sind als in früheren Jahrzehnten, ist erwiesen. Die sogenannte „Generation Z“ – seit dem Beginn des neuen Jahrtausends Geborene – sind die ersten digital Natives. Und sie sind besonders stark von den multiplen Krisen der letzten Jahre geprägt. Die jährlich veröffentlichte Ö3-Jugendstudie zeigt, was junge Österreicherinnen und Österreicher besonders beschäftigt: Krieg, Terrorismus, Klimawandel (siehe Grafik).
Während frühere Generationen von globalen Problemen erst im Erwachsenenalter erfuhren oder sie nur über traditionelle Medien gefiltert wahrnahmen, wächst die Gen Z mit einem 24/7-Nachrichtenstrom auf, der sie täglich mit klimabedingten Katastrophen, Massakern in Schulen, politischer Polarisierung und gesellschaftlichen Umwälzungen konfrontiert. Die Kombination aus ständiger Informationsflut und dem Bewusstsein, die Konsequenzen jahrzehntelanger politischer Versäumnisse erben zu müssen, erzeugt bei vielen jungen Menschen ein Gefühl der Überforderung, das sich in besorgniserregenden Zahlen niederschlägt: 18,2 Prozent der 10- bis 19-jährigen Österreicherinnen und Österreicher leiden unter psychischen Problemen – das sind knapp 160.000 Jugendliche. Die österreichische MHAT-Studie zeigt, dass 23,9 Prozent der Jugendlichen eine aktuelle psychische Störung aufweisen, mit einer Lebenszeitprävalenz von 35,8 Prozent.
Corona hat die bereits angespannte Lage weiter verschärft. Die WHO-HBSC-Studie 2021/22 mit 7.099 österreichischen Schülerinnen und Schülern bestätigt eine weitere Verschlechterung der psychischen Gesundheit, wobei Mädchen besonders stark betroffen sind. 22 Prozent der Mädchen und 10 Prozent der Burschen im Alter von 11 bis 17 Jahren zeigen eine hohe Wahrscheinlichkeit für depressive Verstimmungen.
Demgegenüber steht aber eine ganz neue Offenheit der jungen Generation, sich mit psychischen Problemen auseinanderzusetzen. Psychotherapie wird nicht mehr als Schwäche, sondern als Selbstfürsorge wahrgenommen. Die Gen Z ist gut darin, digitale Technologien nicht nur als Ursache, sondern auch als Lösung von Probleme zu verstehen, indem sie sich von Apps helfen lässt oder bewusst „Digital Detox“-Phasen praktiziert. Und die Jungen haben gelernt, manchmal auch deutlich „Nein“ zu sagen und im Sinne der Selbstfürsorge deutliche Grenzen bei z. B. Arbeitszeiten oder familiären Erwartungen setzen. Eine Haltung, die viele Ältere nervt.




Stress regulieren
Diese neue Herangehensweise an Stressmanagement wird durch aktuelle Forschung unterstützt. Ulrike Rimmele, Professorin an der Universität Genf (siehe Interview), untersucht seit Jahren, wie Emotionen und Stress das Lernen und Gedächtnis beeinflussen – Erkenntnisse, die für die Generation Z besonders relevant sind. Rimmeles Studien zeigen, dass Stress nicht grundsätzlich schädlich ist: Moderate Stresslevels können sogar das Lernen fördern und die Gedächtnisbildung verbessern. Entscheidend ist jedoch, wie wir mit Stress umgehen und ihn regulieren. Man ist Stress-Situationen nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann sie bis zu einem gewissen Grad selbst kontrollieren, so die ermutigende Botschaft.
Das Zauberwort für die junge Generation lautet: Resilienz, psychische Widerstandskraft. Im Unterschied zu der Durchhaltementalität früherer Generationen geht es nicht mehr darum, möglichst viel klaglos zu ertragen – unmöglich in Zeiten, in denen sich Weltkrisen in Echtzeit in den Kinder- und Jugendzimmern dieses Landes abspielen. Sondern darum, Belastungen anzuerkennen, professionelle Hilfe zu suchen und aktiv Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Um gestärkt aus all den Herausforderungen hervorzugehen.


Professor Ulrike Rimmele
Interview "Den Stress neu bewerten"
Professor Ulrike Rimmele sprach bei einer Veranstaltung der MEGA Bildungsstiftung in Wien über Stress im Bildungssystem
Sie erforschen, wie sich Stress auf das Lernen bzw. auf das Gedächtnis auswirkt. Wie sieht dieser Zusammenhang genau aus?
Stress hat einen unterschiedlichen Einfluss, je nach Lernphase. Wir unterscheiden in der Forschung vier verschiedene Phasen. Die erste ist das Enkodieren, eigentlich der Zeitpunkt, zu dem man etwas lernt, zum Beispiel Vokabeln. Dann gibt es die Konsolidierung, also die Phase, in der das Gehirn eine Gedächtnisspur für das Gelernte erstellt. Danach gibt es den Gedächtnisabruf. Und schließlich die Rekonsolidierung: Jedes Mal, wenn man sein Gedächtnis abruft, speichert man das Gelernte eigentlich wieder neu ein. Stress wirkt auf diese vier Phasen sehr unterschiedlich. Bei der Enkodierung und Konsolidierung kann Stress helfen. Es gibt aber auch eine Form von Stress, die den Gedächtnisabruf blockiert.
Es gibt also guten und schlechten Stress?
Es kommt darauf an, wie der Stress bewertet wird. Wie benützen wir den Stress, um nicht beeinträchtigt zu werden, sondern gut funktionieren zu können? Dafür gibt es verschiedene Methoden. Man sieht bei Labortests, dass Menschen, die Stress bewusst anders bewerten, physiologisch anders reagieren. Auch die kognitiven Leistungen sind besser.
Wie geht das, den Stress anders bewerten?
Indem man sich bewusst macht, dass eine körperliche Stressreaktion sinnvoll und hilfreich sein kann. Es gibt auch körperliche Interventionen, die helfen, langsames Atmen zum Beispiel. Und schließlich sind Emotion und Stress auch von sozialen Interaktionen abhängig.
Wie könnte man Stressfaktoren in der Schule reduzieren?
Lehrerinnen und Lehrer können zum Beispiel Prüfungssituationen schaffen, in denen sich die Schüler nicht so ausgeliefert fühlen. Das triggert dann schon mal eine geringere Stressreaktion. Es gibt eine schöne Studie aus den USA, wo die Schüler vor der Prüfung zehn Minuten aufschreiben mussten, was sie an der Prüfungssituation genau stresst. Sie haben bei der Prüfung besser abgeschnitten als die Kontrollgruppe, die einfach irgendetwas aufgeschrieben hat.
Sind Prüfungssituationen per se kontraproduktiv?
Man weiß aus der Forschung, dass multiples Testen das Gedächtnis fördert. Wenn man Vokabel immer wieder wiederholt, werden sie besser behalten. Man müsste den Schülern also vermitteln, dass Testen, dass Prüfungen gut sind, und viele, niedrigschwellige Tests einführen, damit ein Gewöhnungseffekt eintritt und die Schüler diese Situationen nicht als belastend erleben.
Kommen wir noch einmal auf den positiven Stress zurück. Gibt es Möglichkeiten, ihn gezielt einzusetzen, um aufnahmefähig zu werden?
Ich denke schon. Wir haben bei einer Studie einfach Sport als physiologischen Stressor benutzt und die Leute nachher etwas lernen lassen. Wenn man im mittleren Bereich sportlich aktiv ist und anschließend lernt, wird das Gedächtnis besser. Und dann kann jeder einzelne Schüler oder auch Lehrer darüber nachdenken, was einen selbst aktiviert, was einen in diese gewisse Stimmung versetzt, dass man ein bisschen aufgeregt, freudig und lernbereit ist.
Gibt es Programme, um dieses Wissen in den Schulen zu verbreiten?
Wir sind gerade dabei, mit einem Team aus Forschern zu schauen, welche Interventionen wirklich funktionieren. Das Ziel ist, so eine Art Gütesiegel erstellen. Aber es ist ein Forschungsbereich, der noch in den Kinderschuhen steckt.
Welche Interventionen könnten das sein?
Denkbar wäre zum Beispiel ,Compassion Training‘, also Mitgefühl-Training, mit dem Schüler und Lehrer erst einmal trainiert werden, ihre eigenen Emotionen zu sehen, um dann besser auf die Emotionen anderer eingehen zu können. Ein anderer Weg wäre, als Schüler Emotionsregulationsstrategien zu lernen. Am Ende sollte jeder über eine Art Werkzeugkiste verfügen, wo man weiß, welches Werkzeug man in welcher Situation herausnimmt.
Um die Schülerinnen und Schüler mental zu stärken?
Auch die Lehrpersonen. Ich denke, das ist wirklich wichtig, weil viele Lehrer am Limit arbeiten, es gibt Stress unter Lehrern, Burnout. Wir wollen auch ihnen unter die Arme greifen, damit sie lernen, die eigenen emotionalen und sozialen Kompetenzen so zu entwickeln, dass es hilfreich ist für sie selbst und für die Schülerinnen und Schüler.
Ulrike Rimmele
Rimmele ist Professorin an der Universität Genf, an der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften. In ihrer Forschung untersucht sie die Auswirkungen von Emotionen und Stress auf Lernen und Gedächtnis über die gesamte Lebensspanne hinweg. Ihre zentralen Forschungsfragen sind: Wie beeinflussen Emotionen und Stress die Bildung und den Abruf von Erinnerungen? Wie modulieren Emotionen und Stress die Lern- und Gedächtnisprozesse?
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 26/25 erschienen.