News Logo
ABO

Grace Blakeley: „Marxismus ist attraktiv“

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
13 min

©Klara Waldberg/Klett Cotta

Die Sehnsucht der Jungen nach linken Konzepten ist unübersehbar. Ihre Vordenkerin, die Oxford-Absolventin und Autorin Grace Blakeley, im Interview

Von Linus Schöpfer, zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 22.3.2025

Frau Blakeley, wenn Sie dieser Tage in die USA schauen: Sehen Sie da eine dialektische Entwicklung am Werk?

Überraschend ist die Entwicklung auf jeden Fall nicht. Es gehört zum Wesen des Kapitalismus, dass Politiker und Unternehmer sich gegenseitig in die Taschen wirtschaften. Trump und Musk tun das einfach dreister als ihre Vorgänger. Sie zeigen uns den nackten Kapitalismus. Sie brauchen die liberale Ideologie nicht mehr. Während andere verzweifelt versuchen, ebendiese Ideologie zu retten.

Wen meinen Sie?

Wenn Jeff Bezos „seiner“ Washington Post befiehlt, künftig nur noch positiv über den freien Markt zu schreiben, passt das gut ins Bild. Bezos ist ein Monopolist und braucht die Mär vom frei spielenden Markt. Sie gehört zu den wichtigsten Ablenkungsmanövern im Kapitalismus. Dazu kommt die Idee der Meritokratie: die Vorstellung also, dass sich ein Jeff Bezos gegen andere Wettbewerber durchsetzt, weil er mehr leistet als sie, und dass er dafür auch eine entsprechende Belohnung verdient. Bloß realisieren immer mehr Menschen, dass es diesen freien Markt gar nicht gibt. Dass ein Jeff Bezos nicht durch Leistung allein so reich werden konnte. Und nun wird es eben brenzlig für ihn und die anderen Superreichen.

Keine andere Generation steht heute dem Kapitalismus kritischer gegenüber als Ihre. Wieso?

Schauen Sie, ich war 14 Jahre alt, als der Immobilienmarkt zusammenbrach. Es folgten die Jahre der Austerität, zugleich wurde die Klimakrise immer drängender. Mit diesen offensichtlichen Problemen des Kapitalismus sind wir aufgewachsen. Wenn ältere Menschen nun beginnen, sich ausgerechnet wegen Donald Trump Sorgen zu machen, muss ich ihnen sagen: Der Politiker Trump macht mir nicht mehr Angst als andere vor ihm. Dass der Kapitalismus in Imperialismus umgeschlagen ist, ist ja nun wahrlich nichts Neues. Das hat schon Lenin gemerkt.

Eigentlich hat ein Donald Trump ja dieselben Feinde wie Sie, die junge Marxistin: die neoliberale Elite, den globalen Handel …

Der Eindruck täuscht. Trump tut alles für die Elite. Seine ganze Politik ist da­rauf ausgerichtet, das Leben der Superreichen so angenehm wie möglich zu machen. Was stimmt: dass Trump nur Präsident werden konnte, weil er von der Arbeiterklasse unterstützt wurde. Die Arbeiter erhoffen sich von ihm eine Rettung ihrer Arbeitsplätze. Mit den Zöllen versucht Trump, bei dieser Wählerklientel Eindruck zu machen. Zugleich entlastet er die Superreichen. Den gleichen Trick hat er schon in seiner ersten Präsidentschaft versucht. Diesmal wird er aber nicht davonkommen damit.

Wieso nicht?

Der amerikanischen Wirtschaft geht es heute schlechter als 2016. Aktienkurse sinken, die KI-Blase wird platzen, die Inflation weiter steigen – und Jobs werden verlorengehen. Die Arbeiterklasse wird sich von Trump abwenden.

Die etablierten Parteien haben ihre Legitimation verloren

Die erstarkende extreme Rechte ist für die Linke eine Herausforderung. Soll sie auf etablierte Parteien wie die SPD setzen? Oder ganz neue Wege gehen?

Meine Güte, die SPD ist doch keine linke Partei … (lacht). Sich auf Social Media moralisch aufspielen und Versprechungen machen, aber dann nichts Konkretes liefern: Das war die pseudolinke Politik der letzten Jahrzehnte. Die etablierten Parteien haben ihre Legitimation verloren. Für die Mittelklasse wurde das Leben immer prekärer, und diese Parteien wollten oder konnten kein Gegenmittel finden. Deshalb lässt sich der neue Faschismus nicht von oben, von Parteienstrukturen her bekämpfen. Es geht nun darum, dass die Menschen sich neu organisieren. Dabei stehen wir vor einer großen Herausforderung: Wir müssen die Individualisierung, auf die uns der Kapitalismus konditioniert hat, überwinden. Ich sehe aber schon vielversprechende Ansätze. Zum Beispiel bin ich ziemlich angetan von der belgischen Partei der Arbeit.

Die belgische Partei der Arbeit?

Genau. Diese Partei hat verstanden, dass sie sich auf Gemeindeebene abrackern muss, will sie das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Sie veranstaltet Grillfeste, an denen man sich die Sorgen der Menschen anhört. Sie widersetzt sich, wenn bei der nächsten Sparrunde wieder das Geld für die Sanierung des öffentlichen Schwimmbads fehlt. Es ist diese sehr konkrete Arbeit, die sich auszahlt. Spätestens dann, wenn die Agitatoren der extremen Rechten wieder umgehen. Dann wissen die Menschen: Es gibt jetzt eine Alternative zum Neo­faschismus.

Sie lehnen die etablierten Parteien ab, aber auch die Europäische Union. Wieso?

Nun, die Defizite der EU sind ozeanisch. Sie ist zu wenig demokratisch, verfolgt eine viel zu rigide Sparpolitik … Das Problem beim Brexit war, dass die Menschen zu recht wütend waren, aber von den Linken keine Lösungen angeboten bekamen. Als sie dann merkten, dass ihr Leben nach dem Brexit nicht besser wurde, wurden sie wütend auf die Konservativen, die den Brexit angestrengt hatten – wandten sich daraufhin aber nicht nach links, sondern noch weiter nach rechts, zu Nigel Farage.

Im Osten Europas ballen sich die russischen Truppen. Braucht es die EU nicht stärker denn je als eine Klammer, die die europäischen Nationen zusammenhält gegen diese neue Bedrohung?

Ich bin gegen den Krieg. Waffen sind falsch. Mit der Militarisierung Europas, die die etablierten Parteien jetzt betreiben, wollen sie von ihrem Versagen ablenken. Diese Politiker sind am Ende, ihre Glaubwürdigkeit ist ruiniert. Deshalb verlegen sie sich auf Kriegstreiberei und auf Angstmache. Eine alte Masche, man kann das bei George Orwell nachlesen. Margaret Thatcher hat es bereits ganz ähnlich vorgemacht – damals, mit ihrem Krieg um die Falklandinseln. Nein, wir sollten nicht an Krieg denken, sondern an den Frieden.

Mit Verlaub: Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und steht dem Westen offen feindlich gegenüber. Das beunruhigt Sie gar nicht?

Russland ist keine Bedrohung für Westeuropa. Es spottet jeder Vernunft, gegen Wladimir Putin in den Krieg ziehen zu wollen. Wenn wir das tun, begeben wir uns auf einen direkten Weg in den Untergang.

Nutze ich meine Privilegien, um Autoritäten zu hinterfragen und die Wahrheit zu verkünden? Oder nutze ich sie, um meine eigene Karriere voranzutreiben? Ich bemühe mich um Ersteres

Aber was ist denn nun Ihre Antwort, die Antwort der radikalen Linken auf den Ukraine-Krieg? So schnell wie möglich einen Waffenstillstand erreichen und dann auf den guten Willen von Wladimir Putin hoffen?

Schauen Sie, ich bin keine Außenpolitikerin. Mir geht es darum, dass die Linke zu neuer Kraft kommt und wieder zu einer ernstzunehmenden Macht in der Politik wird. Zu welchen Konditionen ein ukrainischer Waffenstillstand ausgehandelt werden soll, übersteigt meine Kompetenz.

Ihr intellektueller Fixstern ist ein alter Bekannter, Karl Marx. Wann haben Sie ihn für sich entdeckt?

Mein Großvater ist mit 14 Jahren von zu Hause abgehauen, hat sich danach der Arbeiterbewegung angeschlossen und sich Marx’ Theorien selber beigebracht. Er hat mir davon erzählt, als er alt und ich ein Kind war. Karl Marx war also schon früh ein Thema. Als ich dann als Jugendliche „Das Kapital“ gelesen habe, war das eine Offenbarung. So wurde ich zur Sozialistin. Vorher war ich bloß eine Linksliberale. Eine Entwicklung, mit der ich übrigens keineswegs allein bin. Marxismus ist heute kein schmutziges Wort mehr.

Sally Rooneys Romane, die gern ein wenig marxistisch theoretisieren, sind in Ihrer Generation höchst populär.

Das klassische Bild vom westlichen Marxismus war ja lange Zeit jenes vom alten Mann mit Bart, der in einer kuriosen Uni-Fakultät vor sich hin spintisiert. Das ist heute nicht mehr so. Der Marxismus ist attraktiv für neue Schichten, und keineswegs nur für Junge.

Warum?

Weil das Versprechen der Achtziger, dass alle Arbeiter irgendwann in die Mittelklasse aufsteigen würden, nicht erfüllt worden ist. Nun ist die Klassenfrage zurück.

Zugleich nahm die Identitätspolitik in den linken Debatten des letzten Jahrzehnts viel Raum ein.

Ich habe immer gesagt, dass wir uns auf die Klassenfragen konzentrieren müssen. Dass der Lebensstandard wichtiger ist als abstrakte Diskussionen. Aber es gibt natürlich eine Schnittmenge von Klassen- und Identitätspolitik. Wenn Elon Musk gegen Migranten wettert, will er die Wut der Bürger auf die Migranten lenken – und weg von seinem Vermögen, das so absurd viel größer ist als das Vermögen eines normalen Bürgers.

Marx war ein Mann des 19. Jahrhunderts, die Wirtschaft ist heute eine ganz andere. Zum Beispiel sind die Bürger des Westens in großer Zahl Aktienbesitzer – und sei es nur über die Pensionskasse.

Na ja. Das ist eben wieder so ein neoliberaler Trick. Die Elite sackte die Gewinne der Privatisierungen ein und redete zugleich den Arbeitnehmern ein, sie seien nunmehr selber kleine Kapitalisten und profitierten wie die großen Fische auch vom Aktienmarkt. Am Schluss geht die Rechnung dann aber immer nur für die wahren Kapitalisten auf. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit in der Finanzkrise 2008, als die Arbeiter und kleinen Bürger bitter dafür bezahlen mussten, dass sie sich von den Verlockungen der Rendite hatten blenden lassen. Überdies sind die Gelder in den Pensionskassen und damit unsere Renten ja alles andere als sicher.

Sie haben in Oxford studiert, schreiben Bücher, leben das Leben einer Intellektuellen. Was könnte im Sozialismus eigentlich noch besser werden für Sie?

Ich weiß, dass ich privilegiert bin. Die entscheidende Frage, die ich mir jeden Morgen stelle: Nutze ich meine Privilegien, um Autoritäten zu hinterfragen und die Wahrheit zu verkünden? Oder nutze ich sie, um meine eigene Karriere voranzutreiben? Ich bemühe mich um Ersteres, will mich mein ganzes Leben lang darum bemühen. Und wenn Sie glauben, dass wir heute in der besten ­aller Welten leben, dann erinnere ich Sie gern an den Bauern des Mittelalters. Der konnte sich nämlich auch nicht vorstellen, dass der Feudalismus, in dem er lebte, irgendwann überwunden werden würde.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 22/25 erschienen.

Logo
Monatsabo ab 20,63€
Ähnliche Artikel
2048ALMAITVEUNZZNSWI314112341311241241412414124141241TIER