"Jeder Mensch hat das Recht auf ein gelungenes Leben"

Als namhafter Internist und Fernsehdoktor mit vier Millionen Zusehern könnte sich der Wiener Spitzenmediziner Siegfried Meryn auf ein gediegenes Lebenswerk zurückziehen. Er erbaute aber ohne einen Cent öffentlichen Geldes ein Gesundheitszentrum für die Ärmsten

von "Jeder Mensch hat das Recht auf ein gelungenes Leben" © Bild: Ricardo Herrgott News

Mit Don Quijote, dessen Züge er sich vor einigen Jahren auch äußerlich anzueignen begann, wurde der Mediziner Siegfried Meryn zuletzt öfter verglichen. Keine Windmühle könne der emeritierte Ordinarius für Innere Medizin unbehelligt lassen, und immer gehe es um die von Cervantes aufgeworfene Frage aller Fragen: Was ist Traum und was Wirklichkeit? Was Ideal, was Realität? Bitte: Ein Traum ist es, mitten in der Stadt um vierzehneinhalb Millionen Euro ein Gesundheitszentrum für Mittellose zu erbauen und dafür keinen Cent öffentlichen Geldes zu nehmen. Und die Realität? Heißt "Cape 10", steht fertig im Stadtentwicklungsgebiet Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof und blickt der Vollbesiedelung bis Jahresende entgegen. Schon jetzt finden in den Tagesräumen für obdachlose Frauen täglich 400 Schutzbefohlene Zuflucht. Das Ambulatorium "Dock" für Menschen ohne Sozialversicherung öffnet demnächst, und um den ganzen Kosmos in seiner Dimension begreifen zu lernen, lässt man sich besser vom Erfinder durch das Gebäude führen: von Österreichs bekanntestem Mediziner, Befütterer dreier ORF-Magazine mit vier Millionen Sehern und Betreiber eines großen Herzens, das er gern auf der Zunge trägt.

Die Geschichte von "Cape 10", holt der Vorsitzende der gleichnamigen gemeinnützigen Stiftung aus, habe vor zehn Jahren mit der Initiative "Nein zu krank und arm" begonnen. Sie bezahlte Bedürftigen lebenserleichternde Operationen und stellte ihnen Heilbehelfe zur Verfügung. Ganz zu Beginn hieß sie noch "Nein zu arm und krank", aber das beeinspruchten Konkurrenzphilanthropen als monopolverletzend (was so möglicherweise nur in Österreich denkbar ist). Also rückte Meryn den Fokus auch im Titel auf seine Kernkompetenz, die nebst der Inneren Medizin auch mit den inneren Werten zu tun hat. Im gegenständlichen Fall mit der Schwererträglichkeit eines statistischen Befundes: 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind arm oder armutsgefährdet, unter ihnen 350.000 Kinder, und Krankheit führt ihrerseits zu noch größerer Armut. Und so weiter. Deshalb etablierte Meryn auch noch das Inklusionsprojekt "Max und Lara" für Kinder.

Wie Hrdlickas Mahnmal

Der Gedanke an etwas noch Umfassenderes nahm Gestalt an, als der Doktor vor Alfred Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus hinter der Oper stand. Es entzweite seinerzeit die Stadt, sitzt aber wie ein geweihter Pfahl im Herzen des Verdrängerlandes. "Es braucht", erkannte Meryn, "einen Ort der Manifestation, damit das Thema wie um einen Kristallisationspunkt sichtbar wird." So entstand auch der Name "Cape 10": aus der Lage im 10., dem ärmsten Wiener Bezirk, dem Kap der guten Hoffnung und dem Cape, einem Kleidungsstück, das schützend um die Schultern liegt.

Die ÖBB hatte gerade ein Grundstück von dreieinhalbtausend Quadratmetern im Angebot, genug für die heutige Netto-Nutzfläche von fünfeinhalbtausend Quadratmetern zum konkurrenzlos niedrigen Baupreis von je 1.450 Euro. Das liegt daran, dass viele der beteiligten Firmen zum Selbstkostenpreis tätig wurden. Jeder Cent an Spenden sei zehn Mal umgedreht worden, hält Meryn fest. Und ausnahmslos Spenden in vielerlei Aggregatzuständen waren es, die "Cape 10" möglich machten.

© Ricardo Herrgott News "Cape 10", Alfred-Adler-Straße 1, nach dem Schöpfer der Individualpsychologie, einem Gestalter des Roten Wien. Kosten: 14 Millionen Euro

Der Verleger Hans Schmid mit seiner Stiftung war der größte dieser Wohltäter: Er erwarb das Grundstück für 1,1 Millionen und schenkte es ohne Umstände weiter. Dass es überhaupt zur Verfügung stand, hatte mit der auf ihm ruhenden fünfzigprozentigen Widmung für Soziales zu tun, die es für Spekulanten unattraktiv machte. Die Baukosten beziffert Meryn mit 8,5 und das Gesamtvolumen mit vierzehneinhalb Millionen, an deren Aufbringung die Kunst überproportionalen Anteil hatte. Staatsoper, Burgtheater, Elina Garanca, Rudolf Buchbinder, Placido Domingo und zuletzt José Carreras, der seinen Wiener Abschiedsabend dem Projekt schenkte: Sie alle, auch Schauspieler und Schriftsteller, halfen, wie sie konnten. Hans Peter Haselsteiner war großzügig wie oft, der Projektmanager Andreas Hutfleß, ein Branchenriese, zog das Unternehmen bis zum eigenen, traurig frühen Tod unentgeltlich in die Höhe. Als die Arbeiten in Corona-Zeiten komplizierter wurden, spendete jedes Mitglied der Wiener SPÖ-Fraktion, vom Bürgermeister bis zum Gemeinderat, ein Monatsgehalt. Großgärtnereien begrünen das Gelände auf drei Seiten, bis zum kühn den Himmel herausfordernden Dach.

Vom Dach blickt man auf die zweitgrößte Baustelle Österreichs. 25.000 Menschen werden im neuen Stadtviertel wohnen, und von der anderen Straßenseite grüßt das Kapital herüber: die Benko-Towers, der Erste-Campus ... Aber "Cape 10" hält mit Gewalten anderer Qualität dagegen: 2.500 Menschen sammelten sich beim Spatenstich im Juni 2019, als der Percussionist Martin Grubinger mit einem Ensemble von 40 Musikern zum "Star Wars"-Thema die Erde erzittern ließ, während vom Hauptbahnhof die Züge in den rotglühenden Sonnenuntergang donnerten. Am 19. Dezember 2020 wurde der Schlüssel übergeben.

Champions des Guten

Benommen steht der Besucher vor dieser Champions League des Guten, die großen Namen fliegen ihm um die Ohren, bis er den Überblick zu verlieren droht. Den Entwurf von Wolf D. Prix entwickelte das Architekturbüro APM weiter. Und immer waren es die bildenden Künstler, die das Haus in eine Art Museum der Nächstenliebe verwandelten. Über dem Eingangsbereich, der bald auch ein Restaurant und eine Apotheke beherbergen wird, wachen eine Skulptur von Manfred Wakolbinger und Eva Schlegels Spiegelskulpturen, die in monumentaler Anmut zur Decke fliegen. Die Armen sollen sich hier nicht in Schäbigkeit ducken müssen. Sie haben das Recht auf das Beste.

Deshalb wird der Weltkünstler Erwin Wurm drei der vier Wände des Veranstaltungssaals mit einem riesigen Pullover umspannen, dem Symbol wärmender Nächstenliebe, das in ähnlicher Gestalt als Fastentuch den Hochaltar des Stephansdoms verhüllt hat.

Das Restaurant, die Apotheke, eine Gruppenpraxis und ein kinderärztliches Zentrum im ersten Stock sind teuer vermietet oder verpachtet. Viel Raum beanspruchen die Telefonisten der Corona-Informationslinie 1450, und auch der Veranstaltungssaal für 340 Personen ist schon gut gebucht. Sie alle finanzieren das eigentliche Unternehmen: "Cape 10".

Zuflucht für Frauen

In zwei Wochen eröffnet das Sozial-und Gesundheitszentrum "Dock", wie Doc, aber auch wie "andocken". Hier ist das Königreich der Freiwilligkeit. Ärzte aller Disziplinen, Krankenschwestern und Sozialarbeiter spenden hier ihre freien Tage, um Menschen ohne Sozialversicherung, deren es im Sozialstaat verzweifelt viele gibt, das Leben zu erleichtern. Medizinische Behandlung wird ebenso angeboten wie Wegweisung durch das bürokratische Gestrüpp.

© Ricardo Herrgott News Blick auf einen neuen Stadtteil hinter der zentralen Wakolbinger-Plastik

Schon im September wurde auf 1.000 Quadratmetern das größte Tagesheim für obdachlose Frauen eröffnet. Ab sieben Uhr früh für zwölf Stunden geöffnet, beherbergt es auch Duschen, Waschmaschinen, eine Küche und Schlafkojen. Filmkameras und eine Mauer am Außenbereich sind Zeugnisse der anderen, dunklen Seite der Hilfe: Sie schützen vor Männern, die Frauen Unterstützung für Gegenleistungen antragen oder sie ohne lebensbehilfliche Nebenabsichten schlicht bedrängen.

»Dass Kinder schon bei der Geburt eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als andere haben, damit finde ich mich nicht ab«

Ende des Jahres ist alles fertig, sagt am Ende des Rundgangs aufatmend der Erfinder, ehe er in seinem winzigen, mit zwei Personen geteilten Büro zur Ruhe kommt. Denn jetzt geht es um Siegfried Meryn, geboren am 6. März 1954 in Wien, wohin die Eltern aus Polen geflüchtet waren. In der alten Heimat Lemberg ließ die jüdische Familie eine Leidensgeschichte ohne Maßen zurück. Kaum ein Verwandter dort hat die Nazi-Zeit überlebt.

Ein Schicksal in Polen

Aber der Großvater, der Bankdirektor war, hatte allen einen lebensbestimmenden Satz ins Herz gesenkt, Senecas "Res sacra est miseria - das Elend ist eine heilige Sache". So wurde auch Vater Meryn, der gern Architekt geworden wäre, aber in Wien aus Gründen der Existenzsicherung die Putzereienkette Phönix aufbaute, ein karitativer Mensch. Und der Nachbar in der Porzellangasse gab das lebensentscheidende Beispiel: Der Praktische Arzt Dr. Karl Bastl war das, der Tag und Nacht, auch an den Feiertagen, zur Verfügung seiner Patienten stand und später Wiens erste Armenambulanz errichtete. Er erfreut sich noch guter Gesundheit und eines Schülers, der ihm Ehre bereitet.

Die Nazi-Jahre waren in den Köpfen noch frisch, und als jüdischer zugewanderter Bub musste man sich im Gymnasium Schottenbastei Respekt beiderseits des Katheders verschaffen. Nicht erforderlich, merkt Meryn an, sei dies beim Musikprofessor gewesen, einem festen Nazi, der aber das Kind des Vornamens wegen schätzte. Was, so hatte Vater Meryn argumentiert, wäre erstrebenswerter als der Sieg des Friedens? Der Sohn besteht heute gleichwohl auf der Anrede Freddy.

© Ricardo Herrgott News Umgeben von Kunst mit Skulptur von Wakolbinger und Spiegeln von Eva Schlegel: Siegfried Meryn, 67

Das Leben ist ihm nichts schuldig geblieben. Nach der Scheidung in gelungener neuer Partnerschaft auf dem Kahlenberg logierend, freut er sich dreier wohlgeratener Kinder: Der Älteste, 39, ist erfolgreicher Immobilienentwickler, die Tochter, Mutter des vierjährigen Enkelsohns Matteo, graduierte Psychotherapeutin, der 18-jährige Jüngste Student der Philosophie und der Physik in London.

"Damit finde ich mich nicht ab"

"Jeder Mensch hat vom Tag seiner Geburt an den Anspruch auf Chancengleichheit und ein glückliches, gelungenes Leben", kommt Siegfried Meryn auf die Beweggründe seiner Berufswahl zurück. "Dass Kinder, die in bestimmte soziale Verhältnissen geboren werden, zum Zeitpunkt der Geburt schon eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwartung haben - damit finde ich mich nicht ab." Die Zeit für den Citoyen sei wieder gekommen, den aufgeklärten Bürger, der die Gesellschaft gestalten will. Als Gegenentwurf zur grassierenden Fragmentierung und Blasenbildung, die nach Polen und Ungarn auch Österreich zu befallen drohe.

Ungern ist man damit zu dem zweitklassigen Virus gelangt, das uns derzeit bedrängt. Wir steuern, sagt Meryn, in eine vierte Welle, die im Wesentlichen die Ungeimpften und die Jüngeren betrifft und zu mehr Spitalsaufenthalten, aber keinem so dramatischen Belag der Intensivstationen führen wird. In der zweiten Jahreshälfte 2022 werde aus der Pandemie eine Endemie geworden sein, eine saisonale virale Erkrankung mit Schwerpunkt Herbst/Winter wie die Grippe. Die Entwicklung sei durch regelmäßiges Impfen zu steuern. In Rumänien, einem Land mit 30 Prozent Geimpften, reiche das immer noch zur Apokalypse, fügt er hinzu.

Dass man bei uns noch nicht weiter sei, müsse der Regierung angelastet werden. Im Vorbildland Dänemark hätten sich die Parteien aller ideologischen Ausrichtungen zur Bekämpfung der Pandemie auf eine Sprache verständigt. Und hier? Sei das Gewirr an Maßnahmen von Bundesland zu Bundesland auch noch miserabel kommuniziert worden. Zweifler müssten offensiv überzeugt werden, zielgruppenspezifisch und von Angesicht zu Angesicht statt mit Inseraten. Zehn Prozent könnten niemals umgedreht werden, aber 20 stünden noch zur Disposition. Und ihnen, sagt der Mediziner, müsste zu kommunizieren sein, dass ein sechs Milliarden Mal erprobter Impfstoff, dessen Prinzip seit 15 Jahren erforscht werde, an Sicherheit seinesgleichen suche.

Vielleicht haben wir nur nicht den richtigen Gesundheitsminister.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 43/21) erschienen.