Rudern gegen Nazis

1936 gewannen acht US-Nobodies überraschend Olympisches Gold

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Irgendwann in den Fünfzigerjahren beschloss Joe Rantz, der in Seattle bei Boing als Ingenieur arbeitete, den Dachboden seines Hauses auszuräumen und zu renovieren. Jahrelang sammelte sich dort, was keiner mehr brauchte, und dennoch niemand weg warf. Stück für Stück trug er mit seinen Söhnen die Treppen hinunter, bis nur mehr ein paar Kartons übrig blieben mit Fotoalben, Tagebüchern und anderen Erinnerungen.
Da entdeckte er in einer Ecke ein Loch, das entweder Ratten oder ein Eichhörnchen gegraben hatte. Er kratzte die vertrockneten Brotreste aus der Höhle, als er ein völlig verschmutztes, rundes Stück Metall entdeckte, versuchte es zu reinigen, bis er es plötzlich erkannte, und Tränen in den Augen spürte. Da lag die Goldmedaille vor ihm, seit vielen Jahren verschwunden, obwohl er monatelang gesucht, und das Suchen eines Tages aufgegeben hatte.

Er trug einen der Kartons hinunter ins Wohnzimmer, kramte herum, bis er die Fotos fand, eines der Siegerehrung 1936, und ein Bild mit seinen Freunden neben einander vor dem Boot stehend, jeder mit einem Ruder in der Hand. Am 14. August 1936 gewann der US-Achter bei der Olympiade in Berlin vor Italien und Deutschland in einem Foto-Finish, das nach genauer Analyse der Aufnahmen erst 5 Mi nuten später von den Schiedsrichtern veröffentlicht wurde. Alle drei Boote er reichten das Ziel innerhalb einer Sekunde.

Acht Burschen aus tiefster, amerikanischer Provinz, unter ihnen der Sohn eines Milchmannes, eines Bauern und eines Holzfällers, besiegten das deutsche Team, von Beginn an die Favoriten und von 75.000 Zusehern angefeuert, die minutenlang ‚Deutschland, Deutschland‘ schrien, nervös beobachtet von Hitler und Himmler, die enttäuscht noch vor der Preisverleihung die Arena verließen.

Stiefmutter

1914 in Spokane, Washington, geboren, wuchs Joe in Sequim, nördlich von Seattle, auf, wo sein Vater nach der Übersiedelung eine Autowerkstatt eröffnete. Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Ein Jahr später heiratete sein Vater eine Frau, die den jungen Joe mit dem klassischen Stief mutter-Problem verfolgte. Er störe das Familienglück der neuen Familie, schimpfte sie tagtäglich und warf ihn aus dem Haus, als er erst zehn Jahre alt war. Ein Jahr lang schlief er in der Schule, ein Gebäude mit einem einzigen Raum, den der Lehrer aus Mitleid nach dem Unterricht nicht ab schloss. Joe überlebte mit Fischen, Jagen und einfachen Jobs. Nach einem Jahr bestand der Vater, dass Joe wieder einziehen durfte. Als er jedoch ein paar Jahre später von der Schule nach Hause kam – Joe war 15 Jahre alt –, saß die Familie in einem Pickup Truck, voll bepackt mit ihrem Hab und Gut. Sie verließen die Stadt, doch die Stiefmutter weigerte sich, Joe mitzunehmen.

Die nächsten zwei Jahre lebte Joe alleine in einer Holzhütte im Wald, baute Zäune für Farmer und arbeitete als Holzfäller, ging jedoch regelmäßig zur Schule und hatte gute Noten. Bis ihn sein älterer Bruder, der inzwischen geheiratet hatte, zu sich aufnahm. 1934 schaffte er die Aufnahme auf die University of Washington. Der Trainer des Ruderteams, der sein Talent erkannte, ließ ihn in einer Kammer des Trainingszentrums übernachten, da Joe kein Geld für das Studentenheim hatte.

Schlagzahl

Rudern war damals ein Sport der Elite. Ausgehend von den berühmten Rennen Oxford gegen Cambridge hatte die Ivy League der amerikanischen Universitäten die besten Mannschaften. Die jungen Männer der Teams von Harvard, Princeton und Yale waren Söhne von Politikern, Unternehmern und Rechtsanwälten, während die University of Washington ihren Ruderern Nebenjobs vermittelte, damit diese ihre Uni-Gebühren zahlen konnten. Die Qualifizierung der Achter-Mannschaft der kleinen Universität im Nordwesten der USA für das US-Olympic Team mit acht unbekannten, jungen Männern aus einfachsten Verhältnissen war eine Sensation.

Im olympischen Finale des 2.000Meter-Rennens der Achter-Boote auf der Spree in Grunau starteten sie als Außenseiter. Als Nummer sechs, am Ende der Reihe der Boote, überhörten sie den Start im Lärm des starken Windes und dem Geschrei der Zuseher. Bis 200 Meter vor dem Ziel lagen sie immer noch an 6. Stelle. Dann erhöhten sie die Schlagzahl von 32- auf damals unvorstellbare 44-mal pro Mi nute, überholten nach 100 Metern die Schweiz, nach weiteren 50 Metern Großbritannien und gewannen das Rennen mit 0,6 Sekunden Vorsprung.

Vergessen

Neben den Stars der Spiele wie Jesse Owens und Louis Zamperini waren die acht Ruderer trotz ihres sensationellen Erfolges bald vergessen. Zurück in Seattle blieben sie lebenslange Freunde und ruderten alle zehn Jahre in der ‚Husky Clip per‘, dem Boot, mit dem sie die Goldmedaille gewonnen hatten.

Joe schloss das Studium 1939 ab und heiratete seine Jugendfreundin. Nach dem Tod seiner Frau lebte er bei seiner Tochter. Er starb 2007 als letzter der acht Kamera den. Wenige Monate vor Joes Tod plauderte der Schriftsteller Daniel Brown während einer langweiligen Versammlung der Eigentümer in seinem Wohnblock – als es um die Farbe der Postkästen ging – mit einer Nachbarin, die ihm erzählte, sie würde ihrem 93-jährigen Vater eines seiner Bücher vorlesen. Brown bedankte sich, interessierte sich nicht weiter, bis die Frau erwähnte, ihr Vater sei ein gewisser Joe Rantz, der Hitler einst die Propaganda-Show gestohlen hatte mit seinem olympischen Sieg. Jetzt wurde Brown neu gierig, besuchte Joe Rantz und sprach mit ihm viele Wochen lang. Daraus entstand der erfolgreiche Bestseller ‚The Boys in the Boat‘ – und ein neuer Film unter der Regie von George Clooney.